Die praktische Arbeit erlebbar machen
Caritas in NRW: Wie nehmen Sie innerhalb der Regionaldirektion das Problem des Fachkräftemangels in der sozialen Arbeit wahr?
Bianca Cristal: Wenn wir die demografische Entwicklung der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen anschauen, sehen wir eine sich öffnende Schere von 2022 bis 2040. Die Menschen werden immer älter, gleichzeitig gehen die Babyboomer bald in den Ruhestand. Von derzeit knapp 7,3 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in NRW werden wir in den nächsten zehn Jahren knapp eine Million aufgrund der Demografie verlieren. In den sozialen Einrichtungen, in der Pflege, in den Kitas, im Bereich Erziehung haben wir einen doppelten Effekt. Der Bedarf an Pflegekräften steigt, weil die Menschen immer älter werden, und wir merken dort jetzt schon den Fachkräftemangel. Wir müssen also mehr aufbauen als in anderen Berufen, denn wir wissen, dass perspektivisch die Anzahl derer, die älter werden und eine Unterstützung benötigen, ja noch mal deutlich steigen wird. Gleichzeitig sehen wir, dass jeder Fünfte Beschäftigte in den sozialen Berufen heute über 55 ist und in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand gehen wird. Und das sind ja nur die, die feststehen. Also die Thematik Fachkräftesicherung ist definitiv da - mit doppelten Auswirkungen in der Pflege.
Zudem dürfen wir nicht vergessen, wenn man die Deckung sozialer Bedarfe - Pflege, Erziehung - in die Familie zurückverlagert, dann geht Erwerbspersonenpotenzial verloren. Heute schon bieten einige Städte in den Kitas nur noch 35-Stunden-Plätze an. Wer sich um die Betreuung seines Kindes kümmern muss, steht dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung.
Caritas in NRW: Wenn der Fachkräftemangel in der sozialen Arbeit noch mal schlimmer wird, wo kann man ansetzen?
Bianca Cristal: Die Frage ist: Wie schaffe ich es, die Berufe attraktiv zu machen? Gute Bezahlung spielt immer wieder eine Rolle, das ist gar keine Frage. Aber da ist noch etwas anderes: Viele Auszubildende brechen im ersten Jahr ab. Sie haben sich den Beruf oft anders vorgestellt. Wir müssen die jungen Menschen, die die Ausbildung beginnen, auf Situationen vorbereiten, sie ins "Erleben" bringen.
Caritas in NRW: Ist das ein Kommunikationsproblem der Arbeitsagenturen? Ist das ein Problem der Träger? Müssen Träger mehr ins Image investieren?
Bianca Cristal: Sie müssen Praktikumsplätze anbieten, jungen Menschen, während sie in der Schule sind, die Möglichkeit eröffnen, in Pflegeeinrichtungen reinzugehen, ausgebildete Pflegekräfte zu begleiten, in Kitas zu gehen. Wir haben ja schon eine praxisorientierte Ausbildung in Nordrhein-Westfalen, aber wir müssen sie noch mal ein bisschen voranbringen, sie frühzeitig erlebbar machen für junge Menschen.
Caritas in NRW: Ist die schulische Ausbildung in der Pflege und in den Erziehungsberufen in den Publikationen der BA sichtbar genug? Kommen sie in der allgemeinen Ausbildungsstatistik vor?
Bianca Cristal: Wir als BA haben gerade bei der Pflege und Erziehung Schwerpunkte in der Kommunikation gesetzt, schon seit zehn Jahren begleiten wir das Thema intensiv. Die Agenturen vor Ort gestalten mit den Schulen explizit Werbekampagnen. Aber wie wird das Bild dieser Berufe in der Gesellschaft wahrgenommen? Da werden wieder die Bezahlung und die gesellschaftliche Anerkennung zum Thema. Das sind Diskussionen, die auch politisch geführt werden müssen.
Caritas in NRW: Wie könnte man die Praktika-Angebote in den Schulen verbessern? Müssen die Träger häufiger und früher in die Schulen gehen?
Bianca Cristal: Die Träger müssen das tun, was viele andere Arbeitgeber machen: Berufsorientierung anbieten, Praktika anbieten, ihr Angebot zeigen, mit den Schulträgern vor Ort zusammenarbeiten, den Beruf erlebbar machen. Wie kann ein junger Mensch mit 16 oder 17 erleben, wie eine Kita funktioniert?
Caritas in NRW: Wie stellt sich die Konkurrenzsituation der sozialen Arbeit zu anderen Berufen dar, die auch mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen haben?
Bianca Cristal: Im Endeffekt bin ich immer wieder bei der Demografie: Immer weniger Menschen zwischen 15 und 67 werden dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Also müssen die Arbeitgeber überlegen, wie sie attraktiv sind für die jungen Menschen. Bei der Generation Z ist das Thema Gehalt wieder nach oben gerutscht. Aber auch die Frage nach dem Sinn der Arbeit spielt eine Rolle. Dazu kommt die Unternehmenskultur: Wie sind die Arbeitsbedingungen? Schichtdienst ist nicht so attraktiv, gehört aber natürlich dazu. Gerade der Pflegebereich kann bei der Frage der Sinnstiftung punkten.
Aktuell merken wir, dass viele junge Menschen die Themen Work-Life-Balance und Planbarkeit hoch schätzen. Manche möchten in Teilzeit arbeiten, weil sie sagen, es gibt noch andere Dinge, die ich einfach gerne in meiner Freizeit machen möchte. Viele attraktive Arbeitszeitmodelle zu haben, zahlt auf die Arbeitgeber-Marke ein.
Caritas in NRW: Wie schätzen Sie die Chancen ein, Quereinsteiger oder Berufsunterbrecher wieder oder neu in den Beruf reinzuholen?
Bianca Cristal: Da hat sich schon unheimlich viel entwickelt. Sowohl in der Pflege wie auch in der Erziehung und in den sonstigen sozialen Berufen registrieren wir einen deutlichen Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Wir merken einen Anstieg, was die tatsächlichen Ausbildungen angeht, aber auch was die Einbindung in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angeht. Das hat unterschiedliche Gründe. Die Einführung der U3-Betreuung hat eine Ausweitung der Ausbildungskapazitäten nötig gemacht. Das ist auch für die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen OGS-Platz erwartbar. Mit Blick auf Nordrhein-Westfalen bieten wir viele unterschiedliche Möglichkeiten gerade im Pflegebereich an, wie man in die Ausbildung einsteigen kann. Quereinstieg wird deutlich gefördert, allein dadurch, dass wir in Nordrhein-Westfalen kein Schulgeld mehr haben. Wir haben es gemeinsam mit dem Ministerium hinbekommen, dass wir alle Pflegeschulen und alle Schulen für die Erzieherinnen und Erzieher nach AZAV (Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung) zertifiziert haben. Das gibt es bundesweit so nur in Nordrhein-Westfalen, sodass wir den Quereinstieg noch mal deutlich gepusht haben.
Caritas in NRW: Muss man auch darüber nachdenken, Standards abzusenken, um die Ausbildung einfacher zu machen?
Bianca Cristal: Die Frage ist eher, wie man Alternativen zur dreijährigen Ausbildung anbieten kann. In der Pflege ist das schon umgesetzt, bei den Erzieherinnen und Erziehern muss man auch weiterdenken. Ich würde gar nicht hingehen und sagen, ich muss Standards abbauen, sondern die Frage ist ja dann - Angebot und Nachfrage: Was hab ich denn für ein Potenzial, und was können diese Menschen erreichen? Die Hürde muss ja nicht sofort bei drei Jahren liegen, sondern man fängt mit einer einjährigen Pflegeassistenz an und schafft damit Grundlagen, die im nächsten Schritt auf die Ausbildung angerechnet werden. Wenn man quasi in kleineren Etappen losgeht, kann man noch mehr externe Menschen, die noch nicht in der Pflege oder Kita tätig sind, tatsächlich berücksichtigen.
Ich persönlich glaube auch, dass es im Erziehungsbereich Aufgaben gibt, die Erzieherinnen und Erzieher aktuell in Kitas tun, die nicht unbedingt eine erzieherische Ausbildung erfordern.
Caritas in NRW: Eine weitere Ausdifferenzierung der Tätigkeiten in den einzelnen Branchen?
Bianca Cristal: Genau. Im KiBiz hat die Landesregierung damit angefangen, andere Unterstützungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Caritas in NRW: Trotzdem gibt es ja Prognosen, die sagen, das wird alles nicht reichen, um den Fachkräftemangel zu beheben. Wie schätzen Sie das Potenzial von technischen Entwicklungen ein, also zum Beispiel Roboter in der Pflege, Digitalisierung in den sozialen Berufen, Einsatz von KI, Chatbots in der Beratung? Können technische Entwicklungen den Druck des Fachkräftemangels etwas lindern?
Bianca Cristal: Ich schätze die Substituierbarkeit von Berufen gerade in der Pflege und in den sozialen Bereichen als eher gering ein, weil die sehr viel mit menschlichen Kontakten zu tun haben. Gewisse Unterstützungsdienstleistungen wird man einsetzen, und ich glaube schon, dass da noch das eine oder andere kommen wird. Aber den menschlichen Kontakt kann man nicht mit KI ersetzen, die Berufe lassen sich nicht komplett automatisieren.
Caritas in NRW: Eine dritte Säule einer Strategie gegen den Fachkräftemangel ist die Anwerbung von Arbeitskräften oder Ausbildungswilligen aus dem Ausland. Wie schätzen Sie das Potenzial ein und was passiert da?
Bianca Cristal: Es sind noch nicht Tausende von Personen, die wir aus dem Ausland rekrutieren, aber es gibt sehr, sehr erfolgreiche Projekte. Es gibt Länder, in denen schon eine Ausbildung stattfindet und wir vor Ort unterstützen, um Sprache zu lernen, bei der Anerkennung zu helfen und die Integration hier in Deutschland zu begleiten. In anderen Ländern macht es mehr Sinn, dass die Kandidaten die deutsche Ausbildung direkt durchlaufen, da fängt man woanders an. Das werden wir auch weiter hochskalieren. Wir müssen aber auch sehen, dass innerhalb der EU nicht nur Deutschland vom Thema Demografie betroffen ist. Es würde dem europäischen Gedanken schaden, woanders Fachkräfte abzuwerben, die dort genauso gebraucht werden. Zuwanderung ja, aber tatsächlich auch nach bestimmten Kriterien.
Caritas in NRW: Wie schätzen Sie das Potenzial von Brasilien, Indien etc. ein?
Bianca Cristal: Gerade mit Brasilien führen wir erfolgreiche Projekte durch. Ich nenne aber auch mal Vietnam, es gibt viele Länder, mit denen wir kooperieren. Man darf aber nicht vergessen, das Thema ganzheitlich zu denken. Wir haben einen Fachkräftebedarf, ja, aber es kommen Menschen, und die haben Familie. Wie schaffen wir dann die Gesamtintegration? Welche Willkommenskultur haben wir? Haben wir den entsprechenden Wohnraum? Das muss man begleiten, und dann stellt sich die Frage: Wie können sich die Arbeitgebenden gut einbringen, um Menschen, die zuwandern, tatsächlich zu begleiten und auch hier in soziale Strukturen zu integrieren?
Caritas in NRW: Ist man froh, wenn die dann in die Pflegeheime und Kitas auf dem Lande gehen? Aber auch da kommen ja Menschen, die eigene Vorstellungen haben, wo sie leben wollen, wie sie leben wollen!
Bianca Cristal: Bei den Projekten, die wir durchführen, klären wir das vorher ab. Wir gucken in die Region und fragen die Agenturen, wo ihr Bedarf besteht, wo sie mit Trägern zusammenarbeiten. Zuwanderung ist für Arbeitgebende nicht kostenneutral im Sinne von "Ich krieg die vor die Tür gestellt und alles ist fertig". Wie gesagt, es geht auch darum, Zugewanderte zu begleiten, eine Willkommenskultur zu etablieren.
Caritas in NRW: Funktioniert das?
Bianca Cristal: Ja, fast noch besser als in den Großstädten, weil die soziale Integration sehr gut funktioniert. Anbindung an Sportvereine, Sozialleben, Schützenvereine, funktioniert auf dem Lande meist gut.
Caritas in NRW: Eltern sind für junge Menschen wichtige Ratgeber, wenn es um die zukünftige Berufswahl angeht. Die Agenturen für Arbeit planen für die Zukunft auch Elternabende im Bereich Ausbildung. Worum geht es da?
Bianca Cristal: Es wird eine Veranstaltungsreihe gemeinsam mit dem Ministerium und mit Arbeitgebern aufgegliedert nach den einzelnen Branchen geben, dann ist automatisch das Thema Pflege dabei. Wir suchen Arbeitgeber, die mitwirken wollen, aber auch Verbände, die dann über die Ausbildung bei sich und Karrieremöglichkeiten berichten wollen. Da könnte die Caritas mitwirken. Ich möchte die Wohlfahrtsverbände ermuntern, auf die Arbeitsagenturen zuzugehen und zu sagen, lasst uns doch zusammen Berufsinformationen gestalten.
Bei Jugendlichen kommen auch sogenannte Ausbildungsbotschafter gut an. Die gibt es schon häufig in Industrie und Handwerk. Das können junge Menschen sein, die gerade selbst die Ausbildung machen. Sie merken, ich bin immer wieder beim Thema "Erlebbar machen", weil wegen Corona vielen jungen Menschen die Orientierung fehlt. Sie brauchen deutlich mehr Unterstützung und mehr Beratung bei der Orientierung als die jungen Menschen noch vor zehn Jahren.
Zusätzlich gehen wir in Bezirken wie Recklinghausen, Gelsenkirchen, Essen hin und führen zusammen mit Migrationsverbänden berufsorientierende Veranstaltungen für Eltern durch, manchmal sogar in der Muttersprache der Migranten.
Caritas in NRW: Sie leiten den Beirat zur Integration Geflüchteter in Arbeit und Ausbildung, ein breites Bündnis von Organisationen, bei dem auch die Wohlfahrtsverbände mitwirken. Wie erfolgreich ist die Arbeitsmarkt-Integration von geflüchteten Menschen in Nordrhein-Westfalen?
Bianca Cristal: Das hängt einerseits davon ab, wie lange die Geflüchteten schon hier sind, andererseits gibt es auch Unterschiede nach Gruppen. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer befinden sich gerade erst in Integrationskursen. Sie müssen die Sprache lernen, hier ankommen, sich um die Anerkennung von Berufsabschlüssen kümmern… Sie bilden zwar dem Grunde nach ein Potential an hochqualifizierten Menschen, müssen aber für sich erstmal überlegen, ob sie perspektivisch hier bleiben. Das hat sich im Laufe der Zeit verändert. Am Anfang sind viele Betroffene gar nicht davon ausgegangen, dass der Krieg jetzt immer noch andauert, jetzt haben sie ihre Kinder hier in der Schule und vielleicht auch andere Bleibeperspektiven und damit nochmal einen anderen Blick auf die Dinge.
Dem Arbeitsmarkt stehen sie aktuell noch nicht zur Verfügung. Aber wenn ich an ihre Berufe denke, die perspektivisch nach der Anerkennung oder einer Nach-Qualifizierung dem Markt dann zur Verfügung stehen, wäre das eine Unterstützung.
Bei den Syrern, Afghanen und anderen, die 2015/16 zu uns geflüchtet sind, waren 2021 bereits 54 Prozent erwerbstätig.
Nach fünf Jahren merkt man deutlich, dass eine Integration in den Arbeitsmarkt stattfindet. Es gibt natürlich aber auch Hinderungsfaktoren wie Trauma, psychische Belastung, etc. Wenn Sie wissen, dass ihr Mann noch im Krieg ist, das macht etwas mit einem Menschen.
Caritas in NRW: Was könnte man mehr tun, um die Flüchtlinge hier in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Bianca Cristal: Die Beschleunigung der Anerkennungsverfahren von Berufsabschlüssen betreiben wir mit dem Land intensiv. Da können wir noch schneller werden. In der Erziehung und in der Pflege können Sie nicht ohne Anerkennung tätig sein, weil das reglementierte Berufe sind. Minister Laumann hat das in der Pflege schon deutlich komprimiert, weil er u.a. die Anerkennungsstellen neu sortiert hat. Das war ein erster Schritt.
Die Caritas sollte in der Beratung für Geflüchtete wirklich immer darauf hinweisen, wie wichtig die Anerkennung von Zeugnissen, Zertifikaten, Bescheinigungen und Berufsabschlüssen ist. Viele wissen ja nicht, wie sind denn die Gegebenheiten im Land und brauchen vielleicht etwas Begleitung. Sprechen Sie mit den Jobcentern! Wir haben das IQ-Netzwerk in Nordrhein-Westfalen, das bei der Anerkennung von Ausbildungs- und Berufsabschlüssen unterstützt.
Wir diskutieren gerade mit allen Partnern über die Formalien. Müssen wir nicht mehr Wert auf Kompetenzen legen? Müssen wir nicht anders an Anerkennung rangehen? Jetzt sind wir noch sehr bürokratisch. Für mich ist einfach die Frage, ob wir nicht Talente und Kompetenzen von Menschen anders feststellen können, wenn sie kein Zeugnis beibringen und natürlich hinterfragen wir auch regelmäßig unsere Prozesse in den Jobcentern und in den Agenturen.
Caritas in NRW: Ganz herzlichen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte Markus Lahrmann.