Technik allein bringt's nicht
Gesellschaftliche Brüche und das Gefühl wachsender Unsicherheit lassen bei vielen Menschen die Hoffnung auf sozialen Wandel entstehen. Ermöglicht werden soll er durch "soziale Innovationen", die ähnlich bahnbrechend und erfolgreich sein sollen wie die als Garagenfirmen gestarteten Internetriesen. Was denen mit der Digitalisierung gelungen ist - mit völlig neuen Geschäftsmodellen Märkte aufzurollen, umzukrempeln und ökonomisch erfolgreich zu sein -, soll auch auf sozialem Feld möglich sein, nämlich auf einen Schlag diverse Probleme zu lösen. "Gesellschaftlicher Fortschritt braucht soziale Innovation", so ist ein Positionspapier überschrieben. Gemeinsam in die Debatte gebracht wurde es von Wohlfahrtsverbänden (auch der Caritas), dem Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland und dem Bundesverband Deutsche Startups. Fortschritt bedeutet hier, Lösungen zu finden für Aufgaben, die als gesellschaftlich drängend identifiziert werden: demografischer Wandel, Gestaltung der Digitalisierung und Förderung des sozialen Zusammenhaltes. Wie der Fortschritt aussehen könnte, wird in diesem (politisch-strategischen) Positionspapier nicht näher thematisiert, es zielt darauf ab, politische Rahmenbedingungen einzufordern. Ein bisschen Silicon-Valley-Spirit auch für deutsche Sozialarbeiter, wenn denn erst die Re-Finanzierung stimmt.
Was macht Innovationen zu sozialen Innovationen? Wie entwickeln sie sich, setzen sie sich durch und führen zu sozialem Wandel? Das "bleibt in Politik und Wissenschaft umstritten", schreiben Jürgen Howaldt und Michael Schwarz im Handbuch Innovationsmanagement. Soziologen verstehen unter sozialen Innovationen ganz neutral Veränderungen von Verhalten und Handlungen eines relevanten Teils der Gesellschaft. Der Begriff "sozial" wird hier rein beschreibend verwendet, das Neue sind soziale Praktiken, die nachgeahmt werden und innerhalb der Gesellschaft Verbreitung finden. Nach diesem Theoriemodell ist auch die Verbreitung von "Pokémon Go" eine der sozialen Innovationen, die gesellschaftliche Gruppen erfasst haben. Ein ganzer Forschungszweig befasst sich damit, zu verstehen, wie dieser Prozess der "Diffusion von Innovation" in die Gesellschaft hinein vonstattengeht.
Innovationen für das Gemeinwohl
Anders ist es, wenn der Begriff "sozial" wertorientiert gebraucht wird, etwa im Sinne von "sozial wünschenswert" oder "gut für die Gesellschaft und ihre Mitglieder". Die Bismarck’sche Einführung der Sozialversicherung, Aufbau und Verbreitung des Fairen Handels, Mikrokredite und vieles mehr sind Beispiele für solche sozialen Innovationen, die sich am Gemeinwohl orientieren. Im Unterschied zu technischen Innovationen gehe es im Sozialbereich meist weniger darum, neue Produkte, Prozesse oder Marketingstrategien zu entwickeln, sondern insbesondere darum, neue Rollen, Beziehungen, Normen und Werte zu entdecken, analysierte vor 20 Jahren die österreichische Sozialforscherin Maria Laura Bono. Heute sieht man klarer, dass soziale Innovationen oft einhergehen mit technischen Innovationen. Die Veränderung der Kommunikation durch die Erfindung des Smartphones zieht massive Verhaltensänderungen in weiten Teilen der Gesellschaft nach sich (und ja, schafft auch neue Probleme). Gleichzeitig ermöglichen technische Innovationen auch ein neues Denken: Die Ausrichtung unseres Gesundheitssystems auf Prävention, der Trend zu Abfallvermeidung statt immer neuer Wegwerfprodukte, eine Bildung, die junge Menschen zu aktiven Gestaltern der Gesellschaft macht und damit das Risiko der Arbeitslosigkeit durch Digitalisierung senkt - das alles sind mögliche Anpassungsprozesse einer Gesellschaft auf der Grundlage und in der Folge von technischen Innovationen.
Innovationsmanagement der Caritas Wien
Träger sozialer Innovationen sind immer häufiger Social Entrepreneurs und Social Start-ups. Die Bertelsmann Stiftung hat untersucht, welche Rolle Unternehmen bei der Entwicklung einer sozialen Innovation, von der Idee zur Verbreitung, spielen. Auch die Wohlfahrtsverbände haben das Konzept von Social Entrepreneurship entdeckt und versuchen, es strategisch zu nutzen.
Seit mehr als zehn Jahren gibt es bei der Caritas in der Erzdiözese Wien eine eigene Stabsstelle Innovation: Inspiriert vom Social-Business-Ansatz des Friedensnobelpreisträgers Muhammad Yunus, war immer wieder darüber diskutiert worden, ob Social Business auch im mitteleuropäischen Raum umgesetzt werden könne. "In dieser Diskussion haben wir gemeint, dieser Versuch bedeutet ein gewisses Risiko. Immer wenn man ein Unternehmen gründet, muss man Kapital zur Verfügung stellen. Uns war klar, dass wir als eine große soziale Organisation die Möglichkeit dazu haben. Noch länger darauf zu warten, dass Privatpersonen sich auf dieses Abenteuer stürzen und finanzielle Risiken eingehen, nur um das auszuprobieren, kann es wohl nicht sein. Der Anspruch an uns ist, wenn wir schon innovativ sein wollen, ein solches Konzept selber anzugehen", berichtet Florian Pomper, der seit 2009 diese Stelle leitet.
Gerade etablierte Strukturen wie Wohlfahrtsverbände könnten für Innovationen sogar eher förderlich sein, da sie einen besseren Zugang zu Zielgruppen hätten und auf interne Finanzierungsmöglichkeiten zurückgreifen könnten, so Pomper. Wohlfahrtsverbände und Sozialunternehmer ergänzen sich hervorragend in ihren Stärken: Sozialunternehmer können vom umfassenden Skalierungswissen und von den professionellen Vor-Ort-Organisationen der Wohlfahrtsverbände profitieren. Die Verbände wiederum können ihre Angebotspalette - trotz oder gerade wegen immer knapperer staatlicher Mittel - um innovative Angebote der Sozialunternehmer bereichern und Anregungen für das interne Innovationsmanagement erhalten.
Nicht jede gute Idee ist eine soziale Innovation
In Wien bemessen die Innovationsexperten "Erfolg und die Sinnhaftigkeit von Innovationen (…) am zusätzlich gestifteten Nutzen für Menschen in Notsituationen und an den Rändern der Gesellschaft. Bloße Neuheit, reiner Wandel sind kein positiver Wert an sich. Auch unterscheidet man zwischen Verbesserung und Innovation. Letzteres sind für die Caritas Wien "Lösungen, bei denen ganze Angebote und Prozesse oder zumindest relevante Teile davon grundlegend neu umgesetzt werden. Die reine Weiterentwicklung und Verbesserung bestehender Lösungen fallen nicht unter den Innovationsbegriff", so Reinhard Millner und Florian Pomper in einem Aufsatz über "Innovationsmanagement und Innovationsprozesse".
"Um das Potenzial von sozialen Innovationen für die Gesellschaft zu heben, müssen sie institutionalisiert werden", sagt Odin Mühlenbein von der NGO Ashoka, die Sozialunternehmen fördert. "Sie müssen in Gesetze einfließen, in die Leistungskataloge von Krankenkassen und in die Kurse für Lehramtsstudenten an Universitäten. Dafür braucht es mehr Experimentierfreude."
Es braucht auch Ressourcen, könnte man hinzufügen. Häufig ist die starre (oft versäulte) Förderkultur nur bis zu einem gewissen Grad hilfreich. Politik, Verwaltung, Stiftungswesen, Krankenkassen und Hochschulen sind an etablierten Sozialstrukturen ausgerichtet, lassen aber wenig Innovation zu. Denn die passiert oft quer, strukturübergreifend und nicht systemkonform. "Aktuell fördern Stiftungen und öffentliche Geldgeber vor allem die direkte Arbeit mit Menschen, die von einem Problem betroffen sind", schreibt Mühlenbein. Wer etwas verändern wolle, brauche aber häufig auch Geld, um Netzwerke aufzubauen, das eigene Wissen mit anderen zu teilen oder um politische Entscheidungen mitzugestalten.
Klappt das, dann tritt vielleicht auch irgendwann der erhoffte Nutzen für die Gesellschaft ein. So wie es Uwe Schneidewind, Präsident und wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie schon 2012 prognostizierte: "Technik allein bringt’s nicht. Ohne soziale Innovationen wird der Klimawandel nicht zu beherrschen sein."
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