Konsequenzen für Kinderschutz und Kinderrechte
Die Fakten: Mehr als 40 Kinder zwischen vier und 13 Jahren wurden auf dem Campingplatz in Elbrinxen von mutmaßlich acht Verdächtigen über zehn Jahre hinweg sexuell missbraucht. Die Ermittler gehen von mindestens 1000 Taten aus, darunter Fälle schwersten sexuellen Missbrauchs. Das monströse Verbrechen hat sich zum handfesten Behördenskandal entwickelt. Im Fokus: das Jugendamt im niedersächsischen Hameln und die Kreispolizeibehörde Lippe. Das Jugendamt hatte dem Hauptbeschuldigten Andreas V., einem 56-jährigen arbeitslosen Dauercamper, der bei der Polizei Lippe seit 2002 im Verdacht des Kindesmissbrauchs steht, ein späteres Opfer als Pflegekind anvertraut - auf Wunsch der in Hameln lebenden Mutter. Billigend in Kauf genommen wurden dessen Wohnumstände. Die verwahrloste Campingplatz-Unterkunft wurde vom Jugendamt zwar als nicht optimal, aber als angemessen bewertet. Kontrollbesuche fanden durch einen vom Jugendamt beauftragten Träger der sozialpädagogischen Familienhilfe statt. 2016 erhält die Polizei zwei konkrete Hinweise auf Kindesmissbrauch durch Andreas V. Die Polizei reagiert, indem sie das Jugendamt Hameln um Prüfung bittet. Dort kommen diese Informationen angeblich nicht an.
Am 20. Oktober 2018 erstattet eine Mutter Anzeige wegen Vergewaltigung ihrer neunjährigen Tochter durch Andreas V. Erst über drei Wochen später wird dessen inzwischen sechsjährige Pflegetochter aus ihrem Martyrium durch Inobhutnahme befreit. Andreas V. wird am 6. Dezember in Untersuchungshaft genommen. Erste größere Datenmengen, insgesamt 15 Terabyte, werden als Beweismittel sichergestellt. In den folgenden Wochen kommt es zu folgenschweren Pannen bei der Ermittlung. Datenträger verschwinden aus Räumlichkeiten der Polizei in Detmold; trotz mehrfacher Durchsuchung des Tatortes tauchen dort anschließend immer neue Beweismittel auf. Wegen unprofessioneller Arbeit muss der Chef der Kreispolizeibehörde Detmold gehen, die nächsthöhere Instanz in Bielefeld übernimmt. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) gerät unter politischen Druck. Gegen acht Verdächtige wird ermittelt, drei sitzen in Haft. Verantworten müssen sich auch Behördenmitarbeiter: zwei Polizisten und acht Mitarbeiter von Jugendämtern, außerdem vier Mitarbeiter von Jugendhilfe-Trägern.
Die Konsequenzen: Überfordert, überlastet, unprofessionell - vernichtend fielen in Kommentarspalten von Zeitungen und Social Media die Urteile über Personen aus, die sich eigentlich von Berufs wegen um das Wohl von Kindern kümmern sollen. In der Schusslinie sind in erster Linie die Mitarbeiter des verantwortlichen Jugendamtes; die Kritik mancher Kommentare richtet sich aber auch allgemein gegen Professionelle in der Jugendhilfe, immerhin hatte das Jugendamt Hameln einen externen Familienhilfe-Träger mit der Begleitung und Betreuung des Hauptopfers beauftragt. Obwohl hier individuelles Versagen eine Rolle spielt, stellt sich in der Gesellschaft durchaus die "Systemfrage": Ein differenziertes (und kostenintensives) System der Kinder- und Jugendhilfe ist offensichtlich nicht in der Lage, Kinder zu schützen. "Volkes Stimme" hat Minister Reul so zusammengefasst: "Meine Oma hätte gemerkt, dass da was nicht stimmt."
Systemisches Versagen beim Jugendamt
Obwohl das konkrete Versagen und auch die Schuld Einzelner noch nicht abschließend geklärt sind, gibt es schon jetzt Hinweise auf systemische Mängel, vor allem aufseiten der Jugendämter. So würden bis heute keine zuverlässigen fachlichen Kontrollinstanzen für kommunal agierende Jugendämter existieren, betont Prof. Dirk Nüsken von der Evangelischen Fachhochschule Bochum in einem Interview mit dem Sender n-tv. Die Landesjugendämter berieten lediglich, hätten jedoch keine Aufsichtsfunktion. "Gerade eher kleinere Jugendämter, wie es Lippe und Hameln-
Pyrmont sind, haben oftmals nicht die Infrastruktur für ein entsprechendes Fachcontrolling und eine interne Revision von Fallverläufen."
Wie wichtig externe fachliche Kontrollen und akribisch überprüfbare Vorgehensweisen sind, wird gerade beim Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs deutlich. Während gewalttätige Eltern oder Pflegepersonen in der Regel deutlichere Spuren hinterließen, seien die Anzeichen bei sexuellem Missbrauch schwieriger zu erkennen. Komme dann noch ein professionell agierendes Netzwerk pädosexueller Gewalttäter hinzu, seien auf sich allein gestellte und möglicherweise ungeschulte Mitarbeiter hoffnungslos überfordert. Nüsken: "Wir haben zum Teil sehr gut aufgestellte Jugendämter und weiterhin andere, die nahezu ständig unter Personalmangel und schlechten Fachstandards leiden." Dies befördere dann ein Organisationsversagen, das nicht nur der einzelnen Fachkraft anzulasten sei.
Der unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Roerig, lenkt den Blick auf die gesellschaftliche Dimension, konkret: auf den offensichtlich bedeutenden Markt für Konsumenten von Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs. "Wir müssen in Deutschland daran arbeiten, diesen Markt trockenzulegen", sagte Roerig dem "Westfalen-Blatt". Die wichtigste Plattform dieses Marktes, das Internet, sei in Deutschland ein Paradies für Pädosexuelle. Auf die neuen Dimensionen, die digitale Medien mit sich brächten, sei der Kinderschutz noch gar nicht eingestellt. Roerig spricht sich für deutliche rechtliche Konsequenzen aus, so etwa für die Wiedereinführung einer EU-rechtskonformen Vorratsdatenspeicherung. IP-Adressen seien oft die einzigen Spuren zu den Tätern.
Auch das sogenannte Cybergrooming, die Anbahnung sexueller Kontakte im Internet, ist in Deutschland bislang straffrei. Nach Roerig soll Cybergrooming strafbar werden, um verdeckte Ermittlungen zu ermöglichen. Kompromisslos ist Roerig bei der Forderung nach einer Meldepflicht für Internetdienstleister, wenn dort kinderpornografisches Material auftaucht. "Das muss künftig dem Bundeskriminalamt oder den Landeskriminalämtern gemeldet werden." In den USA sei dies Praxis. "2017 bekamen wir von dort 35000 Meldungen zu Missbrauchsabbildungen mit Bezug zu Deutschland. Wir haben in Deutschland eine viel geringere Zahl registriert." Die Rechtslage müsse in Deutschland weiterentwickelt werden, Datenschutz dürfe nicht vor Kinderschutz gehen.
NRW bräuchte ein Landespräventionskonzept
Welche strukturellen Hebel gibt es auf lokaler und regionaler Ebene, um Kinderschutz und Kinderrechte zu stärken? Die Arbeitsgemeinschaft katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe im Erzbistum Paderborn (DiAG) sieht vor allem die Jugendhilfeausschüsse in den Kommunen in der Pflicht. "Diese müssen sich an die Spitze der Bewegung setzen und das Thema konsequent bearbeiten", erklärt der DiAG-Vorsitzende Friedhelm Evermann. Auch fehle in NRW ein Landespräventionskonzept, in dem Standards für Kinderschutz definiert würden und eine Kooperation aller unterschiedlichen Handlungsfelder wie Jugendhilfe, Gesundheits- oder Bildungswesen geregelt sei.
Ein derartiges Landespräventionskonzept könnte auch verbindliche Fortbildungen festschreiben: "Lehr- und Fachkräfte in Jugendhilfe, Schule und weiteren Institutionen müssen flächendeckend geschult werden." Zu diesen Institutionen sollten auch die Familiengerichte gehören. Evermann: "Die Entscheidungen von Familiengerichten sind im Rahmen des Kinderschutzes manchmal kaum nachvollziehbar. Bei aller Unabhängigkeit von Gerichten sollte über eine fachgerechte Beratungs- und Fortbildungskultur der Gerichte nachgedacht und nicht nur auf die Heranziehung von Gutachtern im Einzelfall verwiesen werden."
Kontakt zu Friedhelm Evermann: information@jugendhilfe-elisabeth.de
Kontakt zum Autor: j.sauer@caritas-paderborn.de