Spanien: Kirche, Dienerin der Armen
Nach dem Ende der Franco-Diktatur im Jahr 1975 und dem Übergang von einem totalitären zu einem demokratischen Staat mit der Verabschiedung der Verfassung von 1978 kannte man in Spanien fast durchgängig nur wirtschaftliches Wachstum und steigende Beschäftigungszahlen. Erst der Ausbruch der Bankenkrise in Europa im Jahr 2008 erschütterte diese Erfahrung nachhaltig. Rasant stieg die Arbeitslosigkeit, und die in den achtziger und neunziger Jahren bestens ausgebildete junge Generation musste am eigenen Leib erfahren, dass ihre Bildung am Markt nicht mehr gefragt war und keinesfalls ein Garant dafür war, einen Arbeitsplatz zu finden. Die Jugendarbeitslosigkeit ist spätestens seit dem Jahr 2008 rapide angestiegen und erreichte 2013 den traurigen Wert von 54,4 Prozent (nach anderen Berechnungen sind es ca. 25 Prozent, diese Differenz kann hier aber nicht weiter vertieft werden).
Viele junge Menschen sehen in Spanien keine Zukunft mehr für sich und wandern aus, allein im ersten Halbjahr 2013 kehrten ca. 110000 Menschen unter 30 Jahren ihrem Heimatland den Rücken.
Die Caritas in Spanien beobachtet die wirtschaftliche und soziale Entwicklung sehr genau. Mit ihrem Institut "Fundación Foessa" analysiert sie die Folgewirkungen der Krise. Ihr letzter Bericht vom Herbst 2014 hat nicht nur innerhalb der Kirche große Beachtung gefunden, sondern auch in den Parteien, NGOs und bei ausländischen Botschaften hohe Aufmerksamkeit erzielt.
Die Berichte der "Fundación Foessa" bilden neben örtlichen Erhebungen und Einschätzungen zur sozialen Lage in der Diözese León eine Grundlage für die Weiterentwicklung der Arbeit der Caritas. In einer "Veranstaltungsreihe zur Solidarität mit den Opfern einer mordenden Ökonomie" machte der Diözesan-Caritasverband zusammen mit dem Bistum León auf die Situation einer dramatisch zunehmenden Verarmung ganzer Bevölkerungsgruppen aufmerksam. Dabei kamen auch Menschen zur Sprache, die von der Krise des Landes selbst sehr stark betroffen sind: junge Familien, in denen beide Elternteile arbeitslos geworden sind und die wieder bei ihren eigenen Eltern einziehen müssen, da ein Überleben sonst nicht gewährleistet ist; gut ausgebildete Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt sind, oder Gitanos, die seit Langem in der Diözese leben und durch die Abwärtsspirale immer weiter verdrängt werden.
Die Auswirkungen der Krise haben auch sonst die Arbeit der Caritas verändert. Dabei ist klar geworden, dass die Herausforderungen nicht nur durch hauptamtliches Personal zu bewältigen sind (der Diözesan-Caritasverband ist zugleich "Ortsverband" mit insgesamt 16 hauptberuflichen Mitarbeitern), sondern dazu auch das ehrenamtliche Engagement der Kirchengemeinden wie der Zivilbevölkerung unerlässlich ist.
Zentrale Anlaufstelle ist die "Acojida y Atención Primaria", eine Art Allgemeine Sozialberatung. Sie wurde umfassend ausgebaut und wird von Sozialarbeitern mit einem festen Zeitbudget geführt. Aufgrund der großen Nachfrage hat man sich für eine Form der Terminvergabe entschieden, die durch ehrenamtliche Mitarbeiter vorgenommen wird. Diese begleiten die ratsuchenden Menschen auch zu anderen Behörden oder sozialen Einrichtungen.
Die fachliche Beratung wird durch Sozialarbeiter wahrgenommen, die sich in vielen Belangen auf die Unterstützung Ehrenamtlicher verlassen können. Die Zusammenarbeit zwischen Ehrenamtlichen und Hauptberuflichen findet auf Augenhöhe und mit einer großen gegenseitigen Wertschätzung statt in dem Wissen um die wechselseitige Notwendigkeit.
Caritas als letzter Rettungsanker
Die Krise hat auch das Verhältnis zwischen der Caritas und der Kirche neu bestimmt. Gab es früher nur in einigen Pfarreien Gruppen der Gemeindecaritas, hat man diese in den letzten Jahren systematisch aus- und aufgebaut. Dazu wurden zwei Stellen im Diözesan-Caritasverband geschaffen, die für den Aufbau und die Begleitung ehrenamtlicher Gruppen in den Pfarreien zuständig sind.
Daraus haben sich auch weitere konkrete Projekte entwickelt, um Menschen in Not greifbare Hilfe anbieten zu können. In vielen Pfarreien sind Kleiderstuben und Warenkörbe entstanden, die zu äußerst günstigen Preisen Waren an bedürftige Menschen weiterverkaufen. Die Allgemeine Sozialberatung stellt dazu einen Berechtigungsschein aus, in dem - je nach Familiengröße- der monatliche Höchstbetrag zum Einkauf festgehalten wird.
In Deutschland würde man die flächendeckende Einrichtung von Kleiderstuben und Warenkörben unter Umständen sehr kritisch sehen. In der Caritas in León herrscht jedoch die Überzeugung, dass diese Hilfen notwendig sind, da die Caritas die letzte Hilfsinstanz ist. Wer bei der Caritas keine Hilfe mehr erfährt, wird sie auch woanders nicht erhalten. Sie ist von daher für sehr viele Menschen der letzte Rettungsanker.
Durch ihr Engagement für arme und benachteiligte Menschen hat die Caritas an Glaubwürdigkeit gewonnen. Die Zahl der Ehrenamtlichen ist in den letzten Jahren auf annähernd 500 Personen angestiegen. Fast 500000 Euro gibt die Caritas in León für materielle und finanzielle Hilfen aus bei einem Gesamtetat von ca. 1,5 Mio. Euro. Dabei werden die Mittel für die Hilfen durch Spenden, Erbschaften und von Stiftungen eingeworben und reichen zur Deckung bisher aus.
Umdenken bei der Kirche
In Zusammenarbeit mit dem spanischen Caritasverband und mit EU-Unterstützung werden Qualifizierungs- und Ausbildungsprogramme angeboten. Diese zielen insbesondere auf den touristischen und den landwirtschaftlichen Sektor, wo durch entsprechende Netzwerkarbeit zu Betrieben und Unternehmen Menschen in Arbeit vermittelt werden können. Die Caritas wird seitens der EU dabei als kompetenter und zuverlässiger Partner geschätzt.
Die Basis-Arbeit der Caritas in Spanien, aber auch die klare Haltung von Papst Franziskus hat auch in der spanischen Kirche einen Umdenkungsprozess ausgelöst. Die Arbeit orientiert sich viel stärker an den verarmten Bevölkerungsschichten. In einer bisher noch nicht da gewesenen Form haben sich die spanischen Bischöfe jüngst von der Politik der regierenden konservativen Partei distanziert. Im Bischofswort unter der Überschrift "Kirche, Dienerin der Armen" wird die Bedeutung der katholischen Soziallehre herausgestellt und auf diesem Hintergrund die derzeitige Krise des Landes analysiert. Zugleich macht die Kirche das Eingeständnis, in der Vergangenheit nicht genug an der Seite der Benachteiligten gestanden zu haben, und bittet dafür um Vergebung.