Finnland: Das Ende der Gleichheit
Laut Sirpa Monteiro, der einzigen hauptamtlichen Mitarbeiterin der Caritas in Finnland, ist für die soziale Versorgung der finnische Staat steuerbasiert zuständig. Dazu gehören die Kinderbetreuung, das Gesundheits-, Bildungs-, Rentensystem und vieles mehr. Die konkrete Umsetzung ist Aufgabe der Gemeinde. Nichtstaatliche Organisationen übernehmen nur einen kleinen Teil der Unterstützungsangebote. Sie sind aber ein wichtiger Partner, indem sie bei Expertengesprächen mitwirken und wissenschaftliche Expertise beisteuern. Mit nur rund 10000 Mitgliedern ist die katholische Kirche eine Minderheitenkirche, deren Mitglieder zudem aus vielen verschiedenen Ländern zugewandert sind und an die 100 verschiedene Sprachen sprechen. Die Caritas finanziert sich über Kollekten, Verkauf auf Basaren und Festen und Lotterien. Bisher engagiert sie sich hauptsächlich in der internationalen Hilfe. Dabei ist die Caritasarbeit ehrenamtlich organisiert.
Ehrenamt und Selbstverantwortung
Mari Malm, eine junge Studentin aus Tampere, engagiert sich wie viele Finnen ehrenamtlich. Malm gehört zu den "Jungen" in der Caritas, die der Caritas ein neues Gesicht geben wollen. Ziel sind kleine Verbesserungen, die in Finnland selbst helfen. Vielleicht ein Mittagstisch zwei- bis dreimal die Woche für Menschen, die nicht genug haben. Das Ehrenamt wird laut Mari gesellschaftlich hoch angesehen. Sie selbst findet es selbstverständlich, in einer Solidargemeinschaft für andere da zu sein. In der finnischen Gesellschaft herrscht die Auffassung, dass jeder Mensch für seine eigenen Angelegenheiten selbst verantwortlich ist. Einem anderen Menschen Hilfe anzubieten oder für einen anderen zu erledigen, was er selbst lösen oder erledigen könnte, wird fast als Grenzverletzung verstanden. Mari und Sirpa erklären, dass diese Haltung auch das Hilfeverständnis prägt.
Ein gutes Beispiel dafür bieten die drei illegal eingereisten Rumänen, die im Büro der Caritas um Hilfe bitten. Die Caritas-Kollegin bietet ihnen an, sich selbst in der Küche einen Kaffee zu kochen und das Telefon zu benutzen. Ein anderes Beispiel: Menschen ohne festen Wohnsitz dürfen sich selbst in einem täglichen Treff in Tampere ein Frühstück zubereiten. Es gibt Zeitungen, Computerarbeitsplätze, ein Telefon, und es gibt ein Beratungsangebot. Wer es wünscht, kann das Badezimmer nutzen, einmal pro Woche gibt es einen Saunatag. Wie die Menschen das Angebot nutzen, bleibt ihnen selbst überlassen. Die einen lesen die Zeitung, die anderen unterhalten sich beim Kaffee. Wieder andere surfen im Internet oder rufen ihre Mails ab. Die Mitarbeiter fragen jeden, ob er alles hat, was er zum Überleben braucht. Wenn nicht, versuchen sie, das Notwendige, das kann z. B. ein warmer Schlafsack sein, zu organisieren.
Ganz analoge Freunde
Schon sehr lange gibt es ein ehrenamtliches Angebot in der Stadt Turku (rd. 180000 Einwohner), bei dem vor allem älteren und gebrechlichen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht wird. Rund 100 Menschen begleiten andere ins Theater, Kino, in den Gottesdienst oder zum Arzt. Früher nannten sich die Ehrenamtlichen "Begleiter", heute - im Zeitalter von Facebook - haben sie sich in "Freunde" umbenannt. Im Gegensatz zu den virtuellen Freunden wollen sie ganz analog für die Mitmenschen da sein.
Familienpolitik in Finnland
In der finnischen Verfassung ist die Gleichheit von Mann und Frau in der Arbeitswelt, bei den Löhnen, im Haushalt und bei der Kinderbetreuung festgelegt. Für alle Fragen rund um die Familienleistungen ist "KELA", die staatliche Sozialversicherung für alle Finnen, zuständig. Zur Geburt bekommt jede Mutter auf Antrag ein Paket mit vielen nützlichen Dingen:
Bekleidung in neutralen Farben, Pflegeprodukte, Informationen, eine Babymatratze und vieles mehr. Der Clou: Die Kiste, in der die Dinge geliefert werden, soll gleichzeitig als erstes Babybett fungieren. Viele Finnen schlafen tatsächlich in den ersten Lebensmonaten in dieser Kiste.
Wirtschaftskrise und Ukraine-Konflikt
Seit 1990 stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung in Finnland. Durch die Wirtschaftskrise seit 2009 hat sich die Situation deutlich verschlechtert. Die Arbeitslosigkeit stieg stark an. Noch stärker als die europäische Wirtschaftskrise wirkt sich die Ukraine-Krise aus. Durch die Sanktionen gegen Russland wird die finnische Wirtschaft stark geschwächt, da Russland der wichtigste Handelspartner ist.
Der finnische Staat versucht mit verschiedenen Maßnahmen, die sinkenden Steuereinnahmen und den Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. So wurden unter anderem Gemeinden zusammengelegt. Weitere Zusammenlegungen sind geplant. Kürzungen beim Rentensystem und bei der Unterstützung für Familien nach der Geburt eines Kindes treffen zuerst die Schwachen. Das Recht auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr wurde aufgeweicht. Die staatliche Sozialversicherung KELA steht vor einem Umbruch.
Veränderungen in der Gesellschaft
Larissa Koivisto, Vorsitzende der Caritas Finnland, fürchtet die Zunahme der Separation schon bei den Kleinen. "Die Kinder sind nicht mehr gleich, sie bringen sehr unterschiedliche Wissensstände mit, wenn sie in die Schule kommen. Das wird viele Probleme bringen", befürchtet sie. Die wirtschaftliche Krise verändert die Gesellschaft. Larissa formuliert es so: "Die Menschen sind vom Sozialismus müde, sie wollen nicht mehr gleich sein, in der Folge wird der Verteilungskampf größer. Viele wollen nicht auf die eigenen Privilegien verzichten und organisieren private Angebote." In diesen Veränderungen sieht auch der finnische Bischof Teemu Sippo die Herausforderungen für die Caritas im Land: Sie wird sich mehr in Finnland selbst engagieren müssen und nicht nur in der Dritten Welt.
Die Autorin besuchte im Rahmen von CAPSO im September 2014 die Caritas Finnland und informierte sich über Hilfsangebote in Helsinki, Tampere, Turku und Jyväskylä.