Italien: Welfare 2.0 und Armutsbekämpfung
Gehälter und Löhne in allen Berufen und Branchen - auch bei der Caritas - sind weitaus niedriger als in Deutschland. Die Steuerabgaben entsprechen wiederum dem deutschen Niveau. Arbeitgeber bieten vor allem befristete Zeitverträge, projektbezogene Jobs oder eine Arbeitsplatzteilung.
Der Kündigungsschutz ist relativ hoch, und somit ist ein Berufseinstieg - gerade für Berufsanfänger - nicht einfach. Schriftliche Arbeitsverträge sind eher untypisch, und die Sozialleistungen sind nicht sonderlich gut. Die gesetzliche Wochenarbeitszeit liegt bei 48 Stunden, der Anspruch auf Urlaub liegt zwischen 20 und 30 Tagen. In Italien hat jeder Anspruch auf eine staatliche Krankenversicherung, auch Nichterwerbstätige.
Voraussetzung ist allerdings die Registrierung bei der Gesundheitsbehörde. Besondere Behandlungen und Medikamente muss jeder jedoch aus eigener Tasche bezahlen. Die Beiträge zur Sozialversicherung werden anteilig vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer gezahlt. In Italien bekommen Arbeitnehmer mit Kindern eine Familienzulage, dazu sind die Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet. Selbstständige müssen alle Sozialversicherungsbeiträge selbst bezahlen.
Armut
28 Prozent der italienischen Familien sind überschuldet (Bank of Italy, 2012). Auffällig ist die konstante Abnahme der Mittelschicht in der italienischen Gesellschaft. Immer mehr erwerbstätige Arbeitnehmer verdienen immer weniger Geld. Erwerbstätige können aufgrund des niedrigen Einkommens ohne Weiteres kontinuierlich in der sozialen Hierarchie absteigen. Die Kluft zwischen Arm und Reich in der Gesellschaft lässt sich nicht mehr allein am Nord-Süd-Gefälle festmachen.
Die Familie und das Essen sind Italienern - neben der katholischen Kirche und dem Fußball - heilig. Mit der Familie gemeinsam zu essen ist für die Gesellschaft Italiens selbstverständlich und gehört zum täglichen Leben einfach dazu. In Italien ist es üblich, dass Kinder recht spät aus dem Elternhaus ausziehen. Heirat und Familiengründung sind unter anderem die Gründe für die späte Abnabelung. Ein staatliches System zur Absicherung gegen soziale Not ist in Italien kaum existent, es muss gegebenenfalls die Familie einspringen. Es gibt ein Recht auf Wohnung, aber es gibt viel zu wenige Sozialwohnungen ("Casa popolare"). Viele Italiener wohnen sogar noch als verheiratetes Paar bei den Eltern, weil nicht ausreichend bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht.
Es existiert kein vergleichbares Instrument zu dem deutschen Hartz-IV-Programm. Ein System zur Absicherung gegen soziale Not ist in Italien kaum existent. Notfalls muss die Familie einspringen, was häufig der Fall ist. Wer mindestens zwei Jahre durchgehend fest beschäftigt war, bekommt maximal sechs Monate 30 Prozent Arbeitslosengeld vom Staat.
Wohngeld gibt es nicht, Sozialhilfe praktisch auch nicht, aber diverse Hilfen für Arme. Dauerhaft arbeitslosen Italienern bleibt außer der Unterstützung durch die Familie praktisch nur noch die Schwarzarbeit - ohne jede soziale Absicherung. Als letzte Hilfe springt eventuell noch die Kirche mit ihrer Caritas ein.
Die Caritas im sozialen Sicherungssystem
Die Caritas kompensiert die Lücken im sozialen Hilfesystem der Kommune und des Staates. Zu diesem Zweck kooperiert die Caritas mit institutionellen Akteuren und baut auf ein engmaschiges Netz von Diözese und Pfarrei. Die diözesane Caritas sieht sich als Interessenvertretung der Armen. So betreibt die Caritas Sozialkaufhäuser, in denen an Bedürftige verbilligte Waren und Lebensmittel zum täglichen Gebrauch abgegeben werden. Andere Initiativen - überwiegend Ehrenamtliche - liefern frisches Obst und Gemüse an verarmte Familien mit Kindern, auf lokaler Ebene existieren auch Suppenküchen, Sozialkantinen, Mittagstische für Senioren.
Die Caritas reagiert auf die sozialen Probleme:
- Entwicklung von verschiedenen sozialen Projekten, um der neuen Verarmung in der Gesellschaft zu begegnen
- politisches Engagement für eine neue Verteilung der Mittel
- Öffentlichkeitsarbeit, um auf die veränderten Lebenslagen der Menschen aufmerksam zu machen
- nationale Kongresse mit Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft
- Stärkung der Ressourcen der Betroffenen
- Entwicklung von Netzwerken mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteuren, darunter auch die Gewerkschaften wie z. B. die Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori (CISL), ein italienischer Gewerkschaftsbund mit einer klaren christlichen Ausrichtung, wobei er jedoch erklärterweise laizistisch bleibt
Welfare 2.0 - ein neues Konzept
In Italien basiert der Sozialstaat traditionell vor allem auf der Unterstützung durch die Familie. Dieses Modell ist zurzeit aber völlig überfordert mit der Bewältigung der Auswirkungen der Krise. "Welfare 2.0" ist ein Wohlfahrtsmodell, mit dem man auf die aktuell schwierige wirtschaftliche und soziale Lage und die damit verbundene Zunahme von Armut und Bedürftigkeit der Menschen reagieren möchte. Das Konzept stützt sich auf die Web-2.0-Idee. Internet-Nutzer können auf Informationen zugreifen, auf Statistiken, neue Tools - wie Blogs, Chats, Foren und soziale Netzwerke. Ziel ist es, dass die Menschen interaktiv miteinander kommunizieren, in Interaktion miteinander treten und Netzwerke aufbauen.
Darauf basierend benennt die Caritas in Turin vier Merkmale der "Welfare 2.0", die diese Idee der erneuerten Beziehungen gut veranschaulichen:
- Personale: Der Mensch steht im Mittelpunkt, nicht die Dienstleistung. Die Intervention sollte das Ergebnis einer direkten und persönlichen Erkenntnis darüber sein: "Wer bietet was und wer erhält was?"
- Collaborativo: Gemeinnützige Organisationen, Verbände, Behörden und die Freiwilligentätigkeit, alle Akteure arbeiten in realen und interaktiven Netzwerken zusammen.
- Comunitario: Öffentliche und private Einrichtungen des Gemeinwesens und auch die Bürger im Stadtteil können auf Informationen zugreifen und diese nutzen.
- Restitutivo: Hilfe zur Selbsthilfe, Stärkung der Ressourcen mit dem Ziel, für die Bedürftigen einen eigenen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Darüber hinaus soll die soziale Solidarität gefördert werden, in der die Hilfeempfänger auch Hilfe und Unterstützung für andere sein können, d. h., empfangene Hilfe wird auch zurückgegeben.
Die Marke "Welfare 2.0" ist so konzipiert, dass es eine neue Art der Beziehung zwischen Dienstleistern und Nutzern darstellt. Aktivitäten, Kommunikation, Kooperation usw. sind für alle Akteure im Gemeinwesen sichtbar.
Die Autorin dieses Artikels zählt auch zu den regelmäßigen Autoren auf dem Blog des Caritasverbandes für die Stadt Köln: www.blogcaritaskoeln.de
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Arbeitslosigkeit (2013) |
12,9 Prozent (bei Jugendlichen zwischen 17 und 30 Jahren: 42,2 Prozent) (EU 28: 10,8 Prozent; Deutschland: 5,3 Prozent) |