Brüssel: Zwei Seiten
Jeden Montagmorgen strömen Tausende von gut gekleideten EU-Mitarbeiter(inne)n in das Europaviertel, die Gegend im Dreieck zwischen dem Brüsseler Park, dem Parc du Cinquantenaire und dem Leopold-Park. Hier im Zentrum am Rond-point Schuman befinden sich die Europäische Kommission und der Europäische Rat, gleich neben dem Place du Luxembourg tagt das Europäische Parlament. In der Mittagspause füllen sie die Cafés und verwandeln Brüssel in eine internationale lebendige und vor Energie sprühende Metropole bis … der Freitagnachmittag kommt. Dann wird das EU-Viertel zu einer Geisterstadt, da alle wieder in ihre Heimatländer fahren.
Zurück bleibt das andere Brüssel. Eine Stadt von offiziell einer Million Einwohnern mit einer Arbeitslosenquote von 30 Prozent, einer multikulturellen Bevölkerung und einer großen Zahl an illegal lebenden Menschen, die versuchen, durch Betteln und das Durchwühlen von Mülltonnen zu überleben.
Belgien ist ein gespaltenes Land - aufgeteilt in den flämischen und wallonischen Teil sowie Brüssel. Das Durchschnittseinkommen liegt bei ca. 69000 Euro brutto, wovon 33 bis 50 Prozent Abzüge an den Staat gehen. Die Arbeitslosenquote für das gesamte Land liegt noch bei 8,4 Prozent. Außerhalb von Brüssel mit seinen ländlichen Gegenden scheint die Welt noch in Ordnung, die zunehmende Verarmung ist aber deutlich erkennbar. Das Krankensystem sieht eine Basisversorgung für alle vor sowie eine sechswöchige Behandlung im Krankenhaus. Darüber hinaus kann man sich für einen längeren Krankenhausaufenthalt - selbst für ein halbes Jahr oder ein Jahr - zusatzversichern, oder man hat das große Glück, dass der Arbeitgeber, z. B. wie bei der Caritas, diese Versicherung für den Arbeitnehmer abschließt.
Brüssel selbst ist anders. Die Mieten in Brüssel sind durch den Einzug gut verdienender EU-Parlamentarier für die Normal-Belgier selbst nicht mehr bezahlbar, so dass Arbeitsfahrzeiten nach Brüssel von bis zu zwei Stunden eher die Regel als die Ausnahme sind. Auch in Brüssel zeigt sich die nationale Spaltung. Jede Veröffentlichung, jede Reklame ist sowohl in Französisch als auch in Niederländisch zu finden, was teilweise sehr kostenintensiv ist und das Gemeinschaftsgefühl "Wir sind Belgier" nicht unbedingt fördert.
Das eigentliche Thema in Brüssel ist neben der Politik und der Armut jedoch das Thema "Migration". Brüssel ist multikulturell. Neben den Migranten und den Flüchtlingen, die in Heimen auf die Aufenthaltsgenehmigung warten, lebt eine große Vielzahl von Illegalen auf der Straße, da sie hier im Gegensatz zur ländlichen Umgebung nicht auffallen. Keiner kann auf Anhieb erkennen, ob ein "Afrikaner" ein Belgier ist, der hier geboren ist, oder vielleicht ein hier arbeitender Europäer oder ein Illegaler. Ein Illegaler, der vielleicht in Frankreich ausgewiesen wurde und für den ein Leben in Brüssel auf der Straße immer noch besser und lebenswerter erscheint als eine Rückreise in sein Heimatland. Ein Untertauchen im afrikanischen Viertel, das neben dem türkischen und dem sich anschließenden marokkanischen Viertel liegt, ist jederzeit möglich. Trotzdem und gerade deswegen ist die Armut in Brüssel besonders deutlich zu spüren.
Die Caritas Belgien versucht, dagegen anzugehen, notwendige Reformen einzuleiten und die Armut durch praktische Hilfe zu bekämpfen. Wesentliche Themen in der Caritas sind somit "Asyl und Migration", "Allgemeine Soziale Beratung", "Arbeit mit Ehrenamtlichen" und "die Caritas als Dienstleistungsgeber, z. B. als Krankenhausträger, Kindertageseinrichtung und Altenpflegeeinrichtung". Gerade im letzten Bereich ist sie als Stütze des sozialen Systems in Belgien anerkannt und wird durch staatliche Unterstützung finanziert.
In allen Bereichen findet man hoch engagierte Mitarbeiter(innen). Einstellungskriterium ist weniger die Ausbildung oder Religionszugehörigkeit, sondern die Erfahrung oder die Qualifikation, die man für die speziell geforderte Arbeit mitbringt. Rund 80 Prozent der Belgier sind Katholiken, doch es werden im Gegensatz zu Deutschland keine Kirchensteuermittel erhoben, so dass die Caritas neben immer weniger Förderung durch den Staat insbesondere auf Spenden und die ehrenamtliche Arbeit angewiesen ist.
Hierbei identifizieren sich die Ehrenamtlichen und die Hauptamtlichen mit der jeweiligen Tätigkeit und zeigen größtes Engagement. Mitarbeiter der Caritas lassen sich häufig ihr Sandwich für das Mittagessen beim Kauf teilen - zwei Drittel essen sie selbst, ein Drittel geben sie jemanden auf der Straße oder bringen etwas von zu Hause mit und verteilen es.
Viele Untergruppierungen geben sich zudem einen eigenen Namen. So heißt die Schwangerschaftsberatung "FARA". Dies bedeutet nach dem altnordischen fara "fahren, gehen, reisen, geschehen, verlieren". FARA ist durch diesen Namen auch bekannt, der eigentliche Träger Caritas taucht jedoch nicht auf, so dass von der Bevölkerung nicht immer die immense Arbeit der Caritas wahrgenommen wird und das Image "Marke Caritas" nur sehr schwer in Belgien wahrgenommen wird. Hinzu kommt, dass es auch zwei nationale Dachverbände gibt: Caritas Vlaanderen und Caritas Catholica en Belgique francophone et germanophone. Beide Caritasdirektoren versuchen jedoch seit einigen Jahren, dem Spruch "wir tun gute Arbeit, also reden wir darüber" gerecht zu werden.
Mehr EU-Gelder für soziale Arbeit
Die Armut ist in Belgien viel stärker als in Deutschland angekommen, und die Caritas versucht dagegenzuhalten. Insbesondere Caritas International und die deutsche Caritas, die beide ihren Sitz in Brüssel haben, versuchen zusammen mit der belgischen Caritas politischen Einfluss auf die Parlamentariar zu nehmen und auf Missstände im Land und auch in der EU aufmerksam zu machen, um mehr Gelder für die soziale Arbeit zu erlangen. Lediglich knapp 20 Prozent (und es werden weniger) gehen nach Aussagen des Caritasdirektors EU-weit in den sozialen Sektor, 80 Prozent dagegen in die Wirtschaft und die Landwirtschaft. Asyl und Migration sind dabei für die Caritas die Hauptthemen, die langsam aufgrund der Schwierigkeiten im eigenen Land Gehör in der EU finden, von der konkreten Umsetzung ist man, wenn man Brüssel betrachtet, jedoch noch meilenweit entfernt. Somit versucht die Caritas Belgien wieder mehr ihre Rolle als "Anwalt für die Armen" anstatt als Dienstleister in den Vordergrund zu rücken. Für die Asylbewerber(innen) und die Illegalen in Brüssel ist sie es bereits schon jetzt!