Portugal: Armut frisst sich durch
In Portugal liegt die Arbeitslosigkeit offiziell bei etwa 17 Prozent, doch von den Betroffenen erhält nicht einmal die Hälfte staatliche Unterstützung. "Wer eine Wohnung besitzt oder anderes Eigentum, kann nicht auf staatliche Hilfen zählen", sagt João Pereira vom Büro der nationalen Caritas.
Die Armut ist nicht immer sichtbar, sie versteckt sich im Privaten und frisst sich langsam durch die bislang noch intakten familiären Netzwerke. Die Caritas jedoch verzeichnet nicht nur einen sprunghaft gestiegenen Bedarf an niedrigschwelliger existenzsichernder Hilfe, sondern registriert auch zunehmend viele psychische Erkrankungen durch höheren Druck am Arbeitsplatz und größere Probleme in der Familie.
In Lissabon, der pulsierenden Großstadt mit internationalem Flair, ist davon auf den ersten Blick nicht viel zu spüren. Hier locken gefüllte Schaufenster kaufkräftige Touristen und betuchte Einheimische, dicke Autos fahren durch enge Straßen. Doch wer über Land fährt, sieht überall an den Häusern "Se vende"-Schilder, "zu verkaufen". Sozialhilfe beträgt rund 180 Euro im Monat, bei Familien mit Kindern ein wenig mehr, insgesamt aber nicht über 500 Euro pro Familie. Eine Wohnung oder ein Haus zu mieten geht nicht unter 350 Euro im Monat. 475 Euro beträgt der Mindestlohn im Monat für eine volle Stelle, doch es existieren viele Schlupflöcher, und die Unternehmen wissen zu tricksen.
Gleichzeitig sind die Steuern stark angestiegen. Das betrifft alle, ist jedoch besonders schlimm für die, die auch in den Boom-Jahren nach der Einführung des Euro bis zum Jahr 2008 gerade so mit ihrem Einkommen auskamen. Jetzt müssen sie sparen, bei Elektrizität, beim Essen, oder es werden Schulden gemacht. Viele Menschen sind überschuldet (durch Hauskäufe in der Vergangenheit und dann Arbeitslosigkeit). "Wir als Caritas sind nicht in der Lage, Schulden zu übernehmen", sagt Pereira. In vielen Orten wurde eine "cantina social", eine Armenküche, gegründet, die Caritas wirbt um Spenden, auf nationaler Ebene gibt es einen Solidaritätsfonds zur Unterstützung von Hilfsbedürftigen - doch die Mittel, sie reichen meist nicht.
Abbau von sozialen Standards
Die Politik versucht auf Druck der Troika, das Land wettbewerbsfähiger und flexibler zu machen. Das bedeutet, dass Arbeitnehmer generalisierter einsetzbar sind. Die Zahl der Tarifverträge ist von 2008 bis 2012 auf ein Drittel geschrumpft. Während früher 1,9 Mio. Arbeitnehmer tarifvertraglich abgesichert waren, sind es jetzt nur noch 300000. Das Ziel der Regierung sei es, die Wirtschaftsstruktur von einer konsumorientierten zu einer exportbasierten Wirtschaft zu ändern, sagt Pereira. Das funktioniere - wenn überhaupt - nicht innerhalb von zwei Jahren.
"Ich bin ziemlich pessimistisch", sagt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der regierenden PSD, Adão Silva, mit Blick auf die Zukunft. "Wir verfügen über gute Bildung, gute Gesundheitsversorgung und eine Gewinner-Mentalität, aber leiden an Wachstumsschwäche, und wir verlieren Bevölkerung und Wohlstand. Unsere öffentlichen Finanzen sind strapaziert durch den Wohlfahrtsstaat." Im Wettbewerb mit den asiatischen Staaten verliere Europa den Anschluss. "Unsere Architekten bauen in Aserbaidschan ganze Städte, während wir uns dort Geld leihen, um hier unsere Sozialsysteme zu versorgen", sagt Silva. Die gemäßigt links stehende PSD hat zusammen mit der kleinen konservativ-populistischen CSD harte Einschnitte in das Sozialsystem vorgenommen, um die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen. "Wir erwarten mehr Solidarität von Deutschland", das sagt er auch. Genauso wie die oppositionellen Sozialisten, die mit deutlichen Worten ein Ende des Spardiktats von Frau Merkel fordern.
"Prioridade às crianças"
In den beiden kleinen Büros der Caritas Leira stapeln sich Kartons und Tüten mit Heften, Stiften, Federmäppchen, Collegeblocks, Malsachen und Büchern. Gerade erst ist die landesweite Schulmaterialien-Kampagne zu Ende gegangen, bei der Ehrenamtliche der Caritas gemeinsam mit anderen Verbänden die Kunden von großen Supermärkten um Spenden von Schulmaterialien für benachteiligte Kinder bitten. In Leira war die Kampagne offensichtlich besonders erfolgreich.
Auf Drängen der portugiesischen Bischofskonferenz verstärkte die Caritas ihre Arbeit gegen Kinderarmut. An die 300000 gut ausgebildete junge Menschen sind in den vergangenen Jahren ausgewandert, weil sie keine Perspektive sehen. Das sind mehr als 35 Prozent der jungen Menschen, ein gewaltiger "Brain-Drain". "Gut qualifizierte junge Menschen verlassen das Land, und sie werden nicht wiederkommen", sagt José Augusto Paixão, der Vorsitzende der LOC/MTC - Movimento de Trabalhadores Cristãos, der katholischen Arbeitnehmerbewegung Portugals. "Es wird ein großes Problem für die Sozialversicherungssysteme in einem alternden Land", fügt er hinzu. Andere Probleme kommen hinzu: Junge Paare können ihre Wohnung oder ihr Haus nicht mehr bezahlen und müssen wieder zu den Eltern ziehen. Die Geburtenrate ist niedrig, die Zukunftsaussichten sind düster. Besonders betroffen sind auch viele über 45-Jährige: Ihre Jobs existieren nicht mehr, plötzlich sind andere Ausbildungen und Fähigkeiten gefragt, gleichzeitig wurde das Renteneintrittsalter angehoben. Die Renten sind niedrig, viele müssen im Alter mit Schwarzarbeit etwas hinzuverdienen. So sieht man im großen Hafen von Setubal häufig alte Männer, die Kisten aus den Fischerbooten ausladen.
Verloren gegangen ist das Vertrauen, das Vertrauen in Politik und Wirtschaft, zuletzt auch in die Banken. Doch trotz der desaströsen Situation sind die sozialen Spannungen nicht so groß wie beispielsweise in Griechenland. Denn der Zusammenhalt in den familiären Netzwerken ist in Portugal größer, das ist Teil der katholischen Identität des Landes.
Führungspositionen innerhalb der Caritas sind fast ausschließlich von Ehrenamtlichen besetzt. Der Diözesan-Caritasdirektor von Evora ist ein pensionierter Ingenieur, der fulltime arbeitet. Die nationale Caritas wird von einem siebenköpfigen ehrenamtlichen Vorstand geleitet, der alle strategischen und operativen Entscheidungen trifft. Die Zusammenarbeit mit den Gemeinden besteht - wie auch bei der nationalen Caritas - hauptsächlich aus Informationsweitergabe und dem Versuch, die Gemeinden für soziale Themen zu sensibilisieren. Einige Gemeinden unterhalten Gemeindezentren mit Hauptamtlichen, in anderen arbeiten überwiegend Ehrenamtliche. Wie gut das Verhältnis zu den Gemeinden ist, hängt in der Regel vom Priester ab, der eine Art "local focus point" ist. Lokale soziale Aktivitäten finden immer in enger Abstimmung mit dem Priester statt.
Große Nähe zum Staat
Der Staat weiß, dass er sich auf die existenzsichernde Hilfe der Caritas verlassen kann und unterstützt sie - auch finanziell. Politiker von den regierenden Sozialdemokraten wie auch von den oppositionellen Sozialisten haben in der Analyse der sozialen Situation und der notwendigen Maßnahmen durch den Staat völlig konträre Einschätzungen. Doch einig sind sie sich im Lob für die Caritas.