Österreich: Gute Nachbarn
Die längste Anreise haben im Wiener Hotel „Magdas“ die Angestellten hinter sich – es sind Flüchtlinge aus aller Welt.Stefanie Stendl
Der Caritasverband der Erzdiözese Wien erfüllt formal betrachtet drei Aufgabenbereiche und ist somit als multifunktionale Non-Profit-Organisation einzustufen. Er ist als Spitzenverband der Caritas Österreich und der Stadt Wien und der Region Niederösterreich sozialpolitischer Interessenvertreter. Er ist Träger von Einrichtungen und Diensten der Sozialwirtschaft und mit seinen sozialen Diensten stark sozialintegrativ tätig. Und mit insgesamt 4337 hauptamtlich Mitarbeitenden und einem Jahresbudget von 246 Millionen Euro ist er in der Region einer der größten caritativen Dienstgeber.
Verzicht auf das Flammenkreuz
Nur vereinzelt sieht man hier noch das Flammenkreuz. Das Symbol, das der Caritas in Deutschland und - so sollte man meinen - in fast ganz Europa eine gewisse Identität gibt. Nicht so in Österreich: Hauptkern der österreichischen Caritas-Botschaft ist das Logo "Caritas & Du". Hierbei verzichtet die Caritas bewusst auf das Flammenkreuz, will mit dem Logo jedoch die österreichischen Bürger aus der passiven Rolle zur vielfältigen Mithilfe animieren. "Wunder wirken kann jeder. Jeder, der an Wunder glaubt", heißt darum auch der Untertitel des Programms. Dem Entschluss, auf eine reine Wortmarke zu setzen, ist in Wien ein langer Prozess der Auseinandersetzung und der Profilbildung vorausgegangen. In den Gesprächen mit den Kollegen nimmt man als Besucher immer zwei Seiten wahr: die jungen Kolleginnen und Kollegen, die nur die "neue Marke" kennengelernt haben, und die alten Kollegen, deren Arbeitsidentität klar mit dem Flammenkreuz verbunden war und bis heute noch ist.
Vielfältige Mithilfe und soziales Engagement sind auch das Leitmotiv der youngCaritas Wien. Sie hat ihr Hauptquartier an einem für deutsche Augen erstaunlichen Ort errichtet. Ähnlich wie bei vielen Kreativen in Wien befinden sich die Büros unterhalb einer S-Bahn-Trasse. In der Nachbarschaft arbeiten Architekturbüros ebenso wie junge Start-ups. Mitten im belebten 9. Bezirk der österreichischen Hauptstadt haben die jungen Kolleginnen und Kollegen mit Blick auf das spektakuläre Hundertwasser-Kraftwerk eine Heimat gefunden. Direkt nebenan: die "Action-Fabrik". Hier entwickeln die Jugendlichen neue soziale Projekte und Ideen. Die Kollegen der Wiener youngCaritas nennen sie scherzhaft "die Giftküche der Kreativität".
youngCaritas Wien hat sich in den zehn Jahren seit der Gründung zu einem selbstständigen Organisationsteil der Caritas Wien mit insgesamt 16 Mitarbeitern entwickelt. Das Programm und die Arbeit dort sind genauso vielfältig wie die Personen, die dort arbeiten, vor allem jedoch jung und kreativ geprägt. Das gemeinsame Leitmotiv: soziales Engagement fördern und junge Menschen für sozialpolitische Themen interessieren. Die Zahlen sprechen für sich: Insgesamt haben sich im Jahr 2013 über 58000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in youngCaritas-Projekten, -Aktionen sowie bei Events engagiert und an Bildungsangeboten teilgenommen. Über 300 Aktionen, Projekte und Events haben Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsam mit der youngCaritas umgesetzt. Sie sammelten Lebensmittel, riefen zu öffentlichen Smartmobs gegen Hunger auf, machten auf Obdachlosigkeit aufmerksam, veranstalteten Coffee-to-helps und haben in der Aktion "72 h ohne Kompromiss" in Flüchtlings- und Pflegeeinrichtungen "gewerkt", wie man in Wien sagt. Die youngCaritas spricht brisante Fragen mit Kindern und Jugendlichen ebenso offen wie mutig an und bietet Bildungsworkshops zu oft sehr sensiblen gesellschaftlichen Themen - darunter die Themen Asyl und Integration, Roma sowie Armut in Österreich.
Aus einem ehemaligen Altenheim hat die Caritas ein Hotel gemacht. Dort haben Flüchtlinge einen festen Job erhalten.Stefan Joham
Der Schlüssel des Erfolgs ist laut Martin Saboi, dem stellvertretenden Leiter der youngCaritas Wien, eine zielgruppengerechte Ansprache der jungen Menschen bei gleichzeitiger Nutzung der richtigen Kommunikationskanäle.
Gremien bremsten die kreative Arbeit
"Um Informations- und Aufklärungskampagnen zeitlich und inhaltlich passend zu platzieren, benötigt man einen hohen eigenständigen Entscheidungsspielraum. Und den haben wir", sagt Saboi. Nach der Anfangszeit mit den vielen Gremiensitzungen sehnt er sich nicht zurück. Eben diese Gremien hätten kreative Arbeit gebremst und es nahezu unmöglich gemacht, auf aktuelle Themen schnell und präzise zu reagieren. "Und provokativ hätten wir uns in dieser Struktur zu aktuellen sozialen Themen höchstwahrscheinlich überhaupt nicht äußern können", sagt er.
youngCaritas macht in Österreich für junge Menschen die Arbeit der Caritas erlebbar. Mit Blick auf die youngcaritas in NRW war der Besuch in Wien eine Art Zeitreise. Die Kollegen dort haben eine zehn Jahre währende Entwicklung hinter sich. Davon können wir in NRW viel lernen. Vor allem wenn es um die Gestaltung innovativer Projekte und die Art der Kampagnenführung geht.
Ein Hotelbetrieb mit Flüchtlingen
Eines der Top-Themen der Caritas Wien, denen sich nicht nur die youngCaritas Wien verschrieben hat, ist das Thema Flüchtlinge und Asyl. 28000 Menschen haben im Nachbarland 2014 einen Asylantrag gestellt. Verglichen mit Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Schweden, ist das eine sehr kleine Zahl. Die meisten der Flüchtlinge kommen aus Syrien und Afghanistan.
Doch wie kann man diesen Menschen eine Chance zur Integration bieten? Eine Antwort liefert ein echter "Integrationsbetrieb": Mitten in Wien befindet sich das "Magdas", ein Hotelbetrieb, in dem fast ausschließlich Flüchtlinge beschäftigt sind, die auf dem regulären Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. "Hier werden Vorurteile abgebaut", verkündet ein Plakat an der Fassade des Gebäudes. Entstanden ist diese innovative Idee in der Caritas-Zentrale Wien. Ein leer stehendes Pensionistenheim in der Nähe des weltbekannten Praters im 2. Wiener Bezirk wurde umgenutzt. So wurde aus der Altenhilfeeinrichtung, in der zuvor Demenzkranke gepflegt wurden, ein Hotelbetrieb. Schon bei der Renovierung halfen Flüchtlinge. Neben der dadurch möglich werdenden Beschäftigung und Ausbildung für Flüchtlinge ist der soziale Mehrwert zentraler Teil des Hotelkonzeptes. Oder kurz ausgedrückt: Diversity mit 23 Sprachen und 78 Zimmern im Upcycling-Design. Eben weltoffen, frech und couragiert - lässig, wie man in Wien sagen würde. Die österreichische Tageszeitung "Der Standard" titelte über das Vorzeigeprojekt: "Das Hotel als Social Business für Kulturhedonisten".
Die 78 Zimmer im Wiener Hotel „Magdas“ sind so vielfältig wie die Herkunftsländer der Angestellten.Stefan Joham
Aus ökonomischer Sicht läuft das Hotel als "Social Business"-Projekt. Das Unternehmen muss sich selbst tragen, anstatt durch öffentliche Förderungen finanziert zu werden. Eine Tochterfirma der Caritas der Erzdiözese Wien betreibt das "Magdas". 1,5 Millionen Euro investierte die Caritas selbst, 60000 Euro kamen durch Crowdfunding im Internet zusammen. Das Flüchtlingshotel erreichte beim Wettbewerb "European Social Innovation Competition" der EU-Kommission das Finale. Also wenn Sie mal nach Wien reisen sollten, was ich Ihnen nur empfehlen kann, dann steigen Sie doch in diesem etwas anderen Hotel ab.
Eigene Stabsstelle für Innovation
Deutsche und österreichische Caritas haben in einer hochentwickelten Gesellschaft ähnliche soziale Problemlagen zu bewältigen. Im Nachbarland werden jedoch, wie das Beispiel Wien zeigt, häufig andere und oft unkonventionelle Wege gesucht. Das ist Strategie: Um Lösungen für komplexe gesellschaftliche Herausforderungen zu finden, hat die Caritas Wien sogar eine eigene Stabsstelle für Innovation geschaffen und soziale Innovation als strategisches Ziel klar verankert.
Dieser Wille zur Innovation betrifft auch und vor allem die Finanzierung sozialer Projekte, die in Österreich auch über Crowdfunding oder Sponsoring erreicht wird. In Deutschland begegnet mir immer wieder massive Kritik an solchen privaten Finanzierungswegen: "Man kann den Staat nicht aus seiner Verantwortung entlassen", heißt es. Diese kategorische und grundsätzlich richtige Position hat die Wiener Kollegen jedoch nicht davon abgehalten, alternative Möglichkeiten der Finanzierung zu suchen und für die Umsetzung innovativer sozialer Projekte zu nutzen.