Alte und neue Arme
Diese Situation ist nicht das Resultat einer Naturkatastrophe, sondern das Resultat konkreter politischer Entscheidungen, welche die Menschen nicht wahrgenommen haben. Nicht nur die steigende Anzahl der Verarmten bereitet uns Sorge, sondern auch tiefgreifende Konsequenzen, die auf uns zukommen: der Verlust des Vertrauens in die politischen Institutionen und der Verlust des sozialen Zusammenhalts in Europa und dessen Mitgliedstaaten. Doch bei der Caritas geben wir die Hoffnung nicht auf, dass auch andere menschenwürdige und sozial verträgliche politische und gesellschaftliche Entscheidungen in der EU und den Mitgliedstaaten getroffen werden können. In unserer anwaltschaftlichen Arbeit setzen wir uns dafür ein.
Caritas Europa, das Netzwerk von 49 nationalen Caritasverbänden, hat vor Kurzem in Rom einen Bericht zur Wirtschafts- und Sozialkrise in der EU präsentiert:1 "Anstieg von Armut und Ungleichheiten: Gerechte Sozialsysteme werden als Lösung gebraucht". Der Bericht zeigt die Auswirkungen, die die Sparpolitik der EU auf Menschen in den betroffenen Ländern immer noch hat und auch langfristig haben wird. Der Bericht verbindet Caritaserfahrung, statistische Daten, volkswirtschaftliche Analyse, und er präsentiert auch Vorschläge für Entscheidungsträger in Gesellschaft und Politik - auf EU-, nationaler und lokaler Ebene - sowie Vorschläge zur Rolle von Kirche und Caritas.
Die sozialen Systeme in verschiedenen Ländern der EU sind sehr unterschiedlich. Länder mit den stärksten sozialen Systemen wie Deutschland oder die skandinavischen Länder haben eine viel höhere Resistenz zur Wirtschaftskrise und den darauffolgenden Sparmaßnahmen gezeigt; die Bevölkerung ist dort nicht so stark betroffen. Doch in den Ländern an der Peripherie der EU, wo schon vor der ökonomischen Krise die sozialen Transferleistungen und sozialen Dienste viel schwächer waren, haben die politischen Entscheidungen der EU verheerende Auswirkungen auf die Menschen gehabt. Staaten wurden gezwungen, Banken und andere Institutionen des Finanzsektors - manche hatten gar kriminelles Verhalten gezeigt - zu retten, indem die schon schwachen staatlichen Sozialleistungen gekürzt wurden.
So berichten uns die Caritasverbände aus Portugal, Spanien und Italien, wie z. B. mehrere Generationen in einer Familie von der gekürzten Rente der Großmutter leben müssen … Nun, da die Medikamente für Rentner nicht mehr öffentlich finanziert werden, darf die Großmutter entscheiden, ob sie Medikamente für sich oder Nahrung für die Enkelkinder kauft. In Griechenland wurde das Recht auf gesundheitliche Versorgung für Langzeitarbeitslose gestrichen; so darf z. B. ein alleinerziehender krebskranker Vater, dessen einziges Einkommen die kärgliche Rente des eigenen Kindes mit Downsyndrom ist, entscheiden, ob er sein Kind ernährt oder irgendwie die eigene Behandlung bezahlt (denn wer wird für sein Kind da sein, wenn er nicht mehr ist). Mit Papst Franziskus behaupten wir: "Diese Wirtschaft tötet" - im wahrsten Sinne des Wortes, auch hier in Europa. Die EU fokussiert weiterhin auf Sparpolitik, oft untransparent und gar gegen staatliches Verfassungsrecht, obwohl dessen Versagen, auch im Sinne des Wirtschaftswachstums und der Arbeitsbeschaffung, seit Jahren bewiesen ist. Politische Bereiche wie Soziales, Gesundheit und die zukunftswichtige Erziehung müssen darunter leiden, werden aufgegeben.
Wir fordern ein Europa im Dienste der Menschen
Caritas Italien berichtet, wie Sparmaßnahmen die Menschen binnen weniger Tage zu den Pfarreien und Caritasstellen treiben, um dort um Hilfe für Nahrungsmittel, Kleidung, Wohn- und Heizkosten, zusätzliche Schulkosten zu bitten. Mittelfristig ist es eine extreme Schwächung eines Großteiles der Bevölkerung, eine im letzten Herbst veröffentlichte Armutsstudie der Caritas Spanien, an der sich 60 Universitäten beteiligt haben, beweist, dass 2013 50 Prozent der Bevölkerung zumindest eine einmonatige Armutsepisode erlebt haben (gegenüber "nur" 30 Prozent 2008). Besonders betroffen sind Familien mit Kindern: Die Kinderarmut ist in der EU und besonders in den besagten Ländern rasant gestiegen. Ca. 30 Prozent der Kinder in Rumänien, Griechenland und Spanien leben unter der Armutsgrenze. Ca. 60 Prozent der griechischen und spanischen Jugendlichen haben keine Perspektive, irgendeine Arbeit zu finden. Verarmte Menschen werden dazu noch für ihre Situation selbst verantwortlich gemacht, soziale Rechte werden geleugnet, und Sozialsysteme werden durch soziale Nothilfemaßnahmen ersetzt.
Da Menschen grundlegende Sicherheiten und Rechte verlieren, kommen in Wahlen EU-weit immer häufiger extremistische Parteien zum Zug; das zeigt, dass Menschen mehr und mehr dem System Demokratie und Rechtsstaat misstrauen. Langfristig befürchtet die Caritas ein strukturelles Armutsproblem, einen definitiven Rückzug der staatlichen Verantwortung für die Schwachen in der Gesellschaft und durch Aufgabe der sozialen Rechte mehr gesellschaftliche und staatliche Gewaltbereitschaft. Die soziale Dimension Europas ist in Gefahr.
Caritas Europa fordert die EU auf, Wort zu halten und das Versprechen der Europa-2020-Strategie2, die Zahl der von Armut bedrohten Menschen um mindestens 20 Millionen zu senken, einzuhalten. Wir fordern ein Europa im Dienste der Menschen. Mitgliedstaaten sollen eine Investitionspolitik betreiben: Investition in soziale Dienste und Absicherung, in kleine und mittlere Unternehmen, in Beschäftigung.
Caritas wird weiterhin Menschen die Tür öffnen, begleiten, mit den Menschen Lösungen suchen, die Stimme der Menschen in Not an die Entscheidungsträger herantragen.
Ich freue mich, dass auch die Caritas in Nordrhein-Westfalen sich mit dem Thema auseinandersetzt. Denn letztendlich, ähnlich dem bekannten Gedicht Martin Niemöllers, wenn wir nicht für unsere Mitmenschen in Not heute eintreten, wird uns das Böse selbst einholen, und das kann zu spät sein.
Papst Franziskus ermutigt uns: "Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, ... das Europa, das auf den Menschen schaut, ihn verteidigt und schützt, ob Mann oder Frau; das Europa, das auf sicherem, festem Boden voranschreitet, ein kostbarer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit!"3
Caritas ist gefordert, sich in diesem Sinne zu engagieren und ein Teil dieses europäischen Projekts zu werden!
1 Original auf Englisch; eine gekürzte deutsche Fassung gibt es auch: (siehe oben)
2 http://ec.europa.eu/europe2020/europe-2020-in-a-nutshell/targets/index_de.htm
3 Ansprache von Papst Franziskus an das Europäische Parlament am 25. November 2014