Mehr tun als Dienst nach Vorschrift
Auf Initiative der Bundespolizei am Grenzübergang Aachen-Lichtenbusch hat sich für die Betreuung von Flüchtlingen, die hier aufgegriffen werden, ein Netzwerk zur Betreuung und Unterstützung gebildet. Ihm gehören auch Mitarbeiter der Caritas an.Christian Heidrich
Die Bundespolizisten, die vor dem Dienstgebäude am Grenzübergang Aachen-Lichtenbusch stehen, müssen nicht einmal Handzeichen geben, damit der Fernreisebus aus Spanien, der soeben über die belgisch-deutsche Grenze gerollt ist, anhält. Es ist Sonntag, kurz nach 16 Uhr. Immer sonntags um diese Zeit kommt der Bus aus Spanien mit Ziel Hamburg am Grenzübergang an. An Bord sind immer wieder Flüchtlinge, die nach Deutschland einreisen wollen, darunter auch so genannte unbegleitete Minderjährige.
Ohne Eltern suchen sie ihr Heil in der Flucht aus der Heimat in der Hoffnung, hier in Deutschland Arbeit zu finden, um die Familien daheim mit dem verdienten Geld unterstützen zu können. Die Busfahrer haben der Bundespolizei die Passagierliste ausgehändigt. Während zwei Polizisten die Liste durchsehen, sind zwei Kollegen in den Bus gegangen und bitten Reisende hinaus. Vor dem Bus nehmen weitere Polizisten die Ausgestiegenen in Empfang, lassen sie ihre Koffer aus dem Kofferraum des Busses nehmen und begleiten sie in das Dienstgebäude.
Alles läuft mit großer Ruhe ab, die Polizisten sind freundlich, aber konzentriert. Nach einer halben Stunde kann der Bus seine Fahrt fortsetzen. 15 Passagiere, darunter zwei minderjährige Personen, müssen in Aachen bleiben. Für sie ist die Fahrt hier zu Ende. Rein rechtlich sind sie illegal Eingereiste. Aber das ist nur die rechtliche Seite.
Aachen ist für Flüchtlinge ein gutes Pflaster. Das hat sich über die sozialen Netzwerke schon herumgesprochen. Hier werden sie gut behandelt. Die Bundespolizisten wissen, dass in vielen Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, Uniformierte für ein korruptes System stehen. Die Flüchtlinge sollen erleben, dass es hier anders ist. "Seit wir mit den Flüchtlingen zu tun haben, haben wir gelernt, dass wir eigentlich mehr tun können, als nur den normalen Dienst zu versehen. Da, wo wir am Anfang der Kette stehen, muss jeder an die Adresse kommen, wo ihm geholfen wird", sagt Polizeihauptkommissar Knut Paul, Pressesprecher der Bundespolizeiinspektion Aachen. Das funktioniert.
Die Polizisten haben aus Erfahrungen gelernt, vor allem aus Erfahrungen, die sie im Januar 2014 machen mussten. 13 Flüchtlinge waren in einem Kühlcontainer nach Deutschland geschleust worden und nicht, wie vereinbart, nach Großbritannien. In letzter Minute gelang es der Bundespolizei, die Menschen zu befreien. Einer der Flüchtlinge hatte zuvor über sein Handy einen Notruf abgesetzt. Die Medien lobten die Polizei zunächst, um sie nach weiteren Recherchen umso heftiger zu kritisieren: Denn die Flüchtlinge hatten, nachdem sie in Aachen erkennungsdienstlich behandelt worden waren, nicht, wie vorgesehen, den Weg zur Zentralen Ausländerbehörde nach Dortmund angetreten, sondern sich nach Großbritannien abgesetzt. Es hagelte schwere Vorwürfe gegen die Bundespolizei. Die reagierte prompt, setzte sich mit den Kritikern in Verbindung. Es gelang ihr, Behörden und Nichtregierungsorganisationen mit ins Boot zu holen und in die Verantwortung zu nehmen. Die Bundespolizeiinspektion Aachen berief einen runden Tisch ein mit dem Ziel, die Arbeitsweise im Zusammenhang mit der Betreuung der Flüchtlinge zu verbessern. Seitdem kooperieren Bundes- und Landespolizei, Integrationsbeauftragte, Sozial- und Jugendämter sowie Flüchtlingsberatungsstellen, Caritas, Diakonie, Bahnhofsmission und Amnesty International bei Aufgriffen von Flüchtlingen.
"Wir haben bis dahin nicht gewusst, was nach unseren Kontrollen passiert", sagt Knut Paul. Das hat sich grundlegend geändert. "Die Bundespolizei in Aachen macht nicht Dienst nach Vorschrift, sie fragt sich, ob sie mit einem Anruf zusätzlich noch etwas bewirken kann", sagt Ingeborg Heck-Böckler, die Landesbeauftragte für politische Flüchtlinge bei Amnesty International in Nordrhein-Westfalen. Sie gehörte zu den heftigsten Kritikern der Bundespolizei nach den Vorfällen von Januar 2014 und ist heute ein enger Kooperationspartner. "Die Polizisten meinen das hier ernst", sagt sie.
Das Credo der Bundespolizei in Aachen, die für mehr als 200 Kilometer Grenze zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden zuständig ist, lautet: Flüchtlinge sollen in ruhige und sichere Strukturen hineinkommen. "Wir wollen verhindern, dass sie untertauchen, denn Schleuser haben auch dann immer noch Zugriff auf Flüchtlinge, wenn sie hier sind. Und aus Angst tauchen Flüchtlinge in die Illegalität ab", sagt Knut Paul. Ermittlungen der Bundespolizei haben zudem ergeben, dass Schleuser Flüchtlinge kurz vor der belgisch-deutschen Grenze aus dem Bus aussteigen lassen und sie zu einem Nebengrenzübergang bringen. Dann beobachten die Schleuser aus sicherer Entfernung die Kontrolle des Busses. Und wenn diese beendet ist, nehmen sie die Flüchtlinge, die sie zuvor haben aussteigen lassen, wieder auf. Zwischen 30 und 50 Milliarden Euro verdienen Schleuser nach Schätzungen im Jahr in Europa. Ihren Machenschaften das Handwerk zu legen ist neben der Sicherheit der Flüchtlinge ein weiteres Ziel der Bundespolizei.
Im Dienstgebäude am Grenzübergang Lichtenbusch hat Reviergruppenleiter Dieter Weber mittlerweile 15 Mappen vorbereitet, für jeden der heute aufgegriffenen Flüchtlinge eine. In der Mappe liegen die Dokumente, die die Polizisten bei den Menschen gefunden haben. Meist sind es die Fahrscheine, die Schlepper für sie gekauft haben.
In einem Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges nimmt ein Kollege die Fingerabdrücke der Flüchtlinge. Mit einem speziellen Gerät scannt er Handflächen und Finger beider Hände. Die Daten werden mit einer computergestützten Datenbank für Fingerabdrücke abgeglichen, der "Eurodac". Sie hilft den Grenzbehörden der EU-Mitgliedstaaten, festzustellen, ob ein Asylbewerber oder ein Ausländer, der sich illegal auf seinem Hoheitsgebiet aufhält, bereits in einem anderen EU-Staat Asyl beantragt hat oder ob ein Asylbewerber illegal in die Union eingereist ist. Flüchtlinge, die erkennungsdienstlich behandelt sind, bringen Polizeibeamte in die erste Etage des Dienstgebäudes. Dort können sie sich frisch machen. Wer etwas zu essen oder zu trinken haben möchte, wird von der Polizei versorgt.
Mittlerweile ist es bald 20 Uhr geworden. Die Polizisten warten auf Dolmetscher, die sie angefordert haben. Sie sollen bei den Befragungen der Flüchtlinge übersetzen. Dabei greift die Bundespolizeiinspektion auf einen Pool von Dolmetschern zurück, die sich für diese Aufgabe zur Verfügung gestellt haben. Weitere Dolmetscher, vor allem für afrikanische Sprachen, sucht die Bundespolizei nach wie vor. Wer mitarbeiten möchte, muss kein vereidigter Dolmetscher sein. Er muss die Sprache, die er übersetzt, in Wort und Schrift beherrschen können. An die Caritas wandte sich die Bundespolizei vor einiger Zeit im Fall einer jungen, hochschwangeren Frau, die als Flüchtling mit zwei kleinen Kindern nach Deutschland kam. Um die Kinder der Frau in Aachen unterbringen zu können, suchte die Polizei Unterstützung, auch bei der Betreuung der werdenden Mutter halfen Beratungsstellen des Caritas-Verbandes.
Die beiden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die die Bundespolizei aufgegriffen hat, sind mittlerweile in der Obhut des Aachener Jugendamtes. Dass die Kooperation mit diesen Behörden gut funktioniert, ist für die Bundespolizei eine große Entlastung. Denn hinter jedem Flüchtling steht ein Schicksal, das zu verkraften selbst für hart gesottene Grenzbeamte nicht immer einfach ist. "Man bekommt ein anderes Bild vom Menschen, wenn man viel mit Menschen zu tun hat, die sich auf diesen schweren Weg gemacht haben", sagt Polizeihauptkommissar Paul. Mittlerweile verstehe die Bundespolizei durch ihre hartnäckige Arbeit besser, was in den Herkunftsländern der Menschen passiere und auf ihrem Weg hierher. Das Wichtigste, was die Polizisten beherrschen müssten, um mit Flüchtlingen vernünftig umzugehen, sei Kommunikation, sagt Paul. "Die Polizisten nehmen die Flüchtlinge als Menschen wahr", fügt er hinzu. Hört sich selbstverständlich an. Für viele Flüchtlinge ist es das nach den Erfahrungen, die sie in ihren Heimatländern gemacht haben, aber nicht.