"Die Welle kommt erst noch"
Immer mehr Menschen nehmen die Werler Caritas-Tafel in Anspruch. Als Ehrenamtliche engagieren sich dort Karin Gebhardt sowie Dimitri Gossen und Monika Wimmelbrücker (im Hintergrund).Foto: Marcus Bottin
In Werl, einer rund 30000 Einwohner zählenden Wallfahrtsstadt am Hellweg, muss der Leiter der Caritas-
Tafel, Michael Geitmann, mit Sorgen feststellen, dass der Anteil älterer Menschen im Kundenkreis stetig steigt. Wegen des zunehmenden Bedarfs wurde erst vor wenigen Monaten der Samstag als sechster Ausgabetag in der Woche eingeführt. Dass immer mehr Menschen die Dienste der Werler Tafel in Anspruch nehmen, überrascht Geitmann nicht. Im Gegenteil: "Es müssten eigentlich noch viel mehr sein - und zwar ganz besonders ältere Kunden", sagt er. "Aber gerade ältere Menschen entwickeln oft ein Schamgefühl. Der erste Schritt fällt vielen schwer."
Das, so Michael Geitmann, sei bei jüngeren Kunden häufig anders: "Wer schon immer im System gelebt hat, für den ist es eine Selbstverständlichkeit. Der Besuch einer Tafel besitzt für sie eine ganz andere Normalität. Oft waren schon deren Eltern auf Sozialleistungen angewiesen." Dem gegenüber stehen Männer und Frauen, die durch eine sehr kleine Rente erst im Alter in die Armut abrutschen. Für diese Menschen sei es nicht normal, zum Sozialamt zu gehen oder ihre Lebensmittel bei der Tafel zu holen. Aber immer mehr Seniorinnen und Senioren müssen genau das tun. Sonst kommen sie nicht über die Runden.
In der ländlich geprägten Region zwischen Sauerland, Münsterland und Ruhrgebiet ist die soziale Welt schon lange nicht mehr in Ordnung - und Altersarmut tritt immer häufiger offen in Erscheinung. "Werl ist schon ein spezielles Pflaster", findet Geitmann, der neben der Tafel auch das Caritas-Sozialkaufhaus leitet. "Unsere Stadt ist stark geprägt vom Thema Armut." Für die Mitarbeitenden der Werler Tafel bedeutet das jede Menge Arbeit - und auch viele Sorgen. Die Unterstützung durch Bevölkerung, Handel und Wirtschaft sei zwar gut, aber es komme auch zu Engpässen bei der Versorgung. "Wenn wir an unsere Kapazitätsgrenze kommen, rufen wir auch schon mal einen Stopp aus. Dann gibt es keine Neuaufnahmen", sagt der Tafel-Leiter - und merkt ausdrücklich an: "So ein Aufnahmestopp gilt selbstverständlich für alle. Da werden bei uns keine Unterschiede gemacht!"
Bliebe noch die Frage, wie sich die Gesellschaft der Problematik stellt. Ist das Thema Armut überhaupt in den Köpfen der Menschen angekommen? "Nein, noch nicht wirklich", mutmaßt Michael Geitmann. Das merkt er oft, wenn er Besucher empfängt, die zum ersten Mal eine Einrichtung wie die Werler Tafel erleben: "Die sind immer wieder schwer beeindruckt. Das hier ist schon eine Parallelwelt."
Was Michael Geitmann besonders sorgt, sind die Prognosen für die nächsten Jahre. Er befürchtet: "Die Welle kommt erst noch." Wenn er nach seinen Wünschen gefragt wird, antwortet der Werler gerne: "Dass wir überflüssig werden. Dass wir die Tafeln abschaffen können." Aber das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben, denn der Chef der Werler Tafel kennt die Zahlen: "Es gibt jetzt schon so viele Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Wenn die älter werden und nicht mehr arbeiten können, rutschen sie auch ins System und werden neue Kunden der Tafeln - nur sind sie dann schon 60 plus."
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