Die Rückkehr der Altersarmut – unaufhaltsam?
Die Botschaft bisher: "Arbeite länger, habe weniger, spare mehr!"Foto: Michael Kottmeier, K-Film
Noch heißt es im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2017 lapidar: "Den maßgeblichen Kennziffern zufolge stellt Armut im Alter heutzutage für die große Mehrheit der Senioren kein drängendes Problem dar." Das hört sich beruhigend an. Weniger gut sieht es allerdings aus, wenn man sich die konkreten Zahlen anschaut. Die Armutsgefährdungsquote der 65-Jährigen und Älteren in Deutschland lag 2018 bei 14,7 Prozent. Das entspricht in der Tat ungefähr der Quote von 15,5 Prozent für die Gesamtbevölkerung - was allerdings doch wohl heißt, dass Armut für eine ziemlich große Minderheit in Deutschland sehr wohl ein drängendes Problem darstellt: 15,5 Prozent von rund 83 Millionen Einwohnern, das sind knapp 13 Millionen Menschen, junge wie alte.
Was speziell die Altersarmut angeht, ist die Entwicklung der Armutsgefährdungsquote in den letzten Jahren sehr bezeichnend. Im Jahr 2006 lag diese für Senioren noch bei 10,4 Prozent. Seitdem ist sie kontinuierlich auf 14,7 Prozent angestiegen - so stark wie für keine andere Altersgruppe. Der sich hier klar abzeichnende Trend bestätigt sich, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass im gleichen Zeitraum, also von 2006 bis 2018, die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung von 681991 auf 1078521 gestiegen ist. Frappant ist auch die wachsende Verschuldung von Rentnerinnen und Rentnern. Nach Angaben der Wirtschaftsauskunftei Creditreform hat sich die Zahl der überschuldeten Senioren von 2013 bis 2019 um sage und schreibe 243 Prozent erhöht. Die Experten von Creditreform sehen deshalb einen "Doppeltrend zu Altersarmut und Altersüberschuldung". Kennerinnen und Kenner der Materie waren von dieser Entwicklung keineswegs überrascht; vielmehr hatten nicht wenige sogar ausdrücklich davor gewarnt. Und auch heute muss man keine Kassandra sein, um vorherzusagen, dass sich das Problem verschärfen und die Zahl der Betroffenen weiter ansteigen wird, wenn keine politischen Gegenmaßnahmen getroffen werden. Es ist deshalb kein Alarmismus, von einer Rückkehr der Altersarmut zu sprechen.
Von Altersarmut betroffen sind meistens alleinstehende Frauen, Langzeitarbeitslose und Menschen ohne Berufsabschluss.Foto: Michael Kottmeier, K-Film
Grundlegend verändert wurde diese Situation erst durch die große Rentenreform von 1957. Deren erklärtes Ziel war laut Gesetzentwurf "eine Lebensgrundlage, die den Rentner aus der Nähe des Fürsorgeempfängers in die Nachbarschaft des Lohnempfängers rückt". Durch die Reform von 1957 kam es nicht nur zu einer spürbaren Erhöhung der Renten, sondern es wurde auch die dynamische Anpassung der Rentenhöhe an die Bruttolohnentwicklung eingeführt. Das gelang durch einen Wechsel vom Kapitaldeckungs- zum Umlageverfahren. Die Wählerinnen und Wähler dankten es Konrad Adenauer, indem sie seinen Unionsparteien bei der Bundestagswahl 1957 eine absolute Mehrheit bescherten - das erste und einzige Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass das einer Partei gelang.
Der Rückbau des Rentensystems begann 1992
Die bittere Wahrheit ist: Genau wie die weitgehende Beendigung der Altersarmut in den 50er-Jahren hat auch deren Rückkehr politische Gründe. Der Rückbau des Rentensystems begann bereits 1992 mit dem Wechsel von der bruttolohn- zur nettolohnbezogenen Anpassung der Renten. Wesentlich einschneidender aber waren die Rentenreformen der rot-grünen Schröder-Regierung. Der damalige Wirtschaftsweise Horst Siebert brachte die Maßnahmen auf die treffende Kurzformel: "Arbeite länger, habe weniger, spare mehr!" Zunächst wurde 2002 die Deckelung des Rentenbeitrags eingeführt. Dieser sollte bis 2020 auf nicht mehr als 20 Prozent und bis 2030 auf nicht mehr als 22 Prozent steigen. Zum Ausgleich der damit verbundenen Senkung des Rentenniveaus wurde die Riester-Rente auf den Weg gebracht, die eine Teil-Privatisierung der Altersvorsorge bedeutete. 2004 wurde der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenanpassungsformel eingeführt, also die Berücksichtigung des zahlenmäßigen Verhältnisses von Rentnerinnen und Rentnern zu Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern bei der Berechnung der Rentenhöhe.
3,2 Prozent der Menschen im Alter beantragen Grundsicherung, ihre Rente liegt also unter dem Existenzminimum. Viel mehr verzichten aus Scham oder Unwissenheit auf die Beantragung. Das Quartiersprojekt der Caritas Gelsenkirchen bietet den Menschen im Stadtteil Scholven eine Anlaufstelle.Foto: Achim Pohl
Natürlich wurden diese politischen Maßnahmen nicht willkürlich getroffen. Sie wurden vor allem als notwendige Antworten auf den demografischen Wandel dargestellt. Das aber ist hier nicht das Thema. Unabhängig davon, ob die Rentenreformen gut oder schlecht begründet waren: Sie haben zu einem steten Sinkflug bei den Renten geführt. 1990 lag das Standardrentenniveau, also der Wert, der das Verhältnis der Durchschnittsrente zum Durchschnittseinkommen angibt, noch bei 55,0 Prozent; seither ist es um knapp sieben Prozentpunkte auf 48,16 Prozent im Jahr 2019 gefallen. Das ist nahe an dem bis 2025 garantierten Mindestrentenniveau von 48 Prozent. Danach kann das Rentenniveau bis 2030 weiter auf bis zu 43 Prozent fallen. Die Folge ist, dass sich die gesetzliche Rente von der Idee der Lebensstandardsicherung weitgehend verabschiedet. Rentnerinnen und Rentner rücken damit wieder - in Umkehrung der Begründung der Rentenreform von 1957 - aus der Nähe des Lohnempfängers in die Nachbarschaft des Fürsorgeempfängers. Erschwerend kommt hinzu, dass dieser Rückbau des Rentensystems in einer Zeit stattfindet, in der atypische Beschäftigungsverhältnisse zunehmen und viele Erwerbsbiografien nicht mehr geradlinig verlaufen, sondern vermehrt Brüche mit Phasen der Erwerbslosigkeit aufweisen. Und man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass sich dieser Trend mit dem digitalen Wandel der Arbeitswelt noch verstärken wird. Für immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird es deshalb schwer, Rentenansprüche zu erwerben, die über dem Grundsicherungsniveau liegen.
Die Politik hat das Problem inzwischen erkannt und auch erste konkrete Maßnahmen unternommen, wie Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und die gerade beschlossene Grundrente, durch die ab 2021 diejenigen Rentnerinnen und Rentner, die als Geringverdiener lange Jahre Beiträge gezahlt haben, bessergestellt werden. Dadurch ist wenigstens einmal der Trend umgekehrt, dass mit jeder Rentenreform eine Verschlechterung der Leistungen einhergeht. Das drohende Scheitern der Rentenkommission der Bundesregierung führt aber vor Augen, dass die eigentliche Frage noch ihrer Beantwortung harrt: die zukünftige, über das Jahr 2025 hinausreichende Ausgestaltung des Rentensystems zwischen den Zielen soziale Gerechtigkeit, auch Generationengerechtigkeit, und Nachhaltigkeit. Die Überwindung der Altersarmut war eine der großen sozialen Errungenschaften in der Nachkriegszeit. Es wäre ein politisches Armutszeugnis sondergleichen, wenn heute, wo Deutschland eines der reichsten Länder der Welt ist, die Politik sich nicht auf nachhaltige Maßnahmen gegen die Rückkehr der Altersarmut verständigen könnte.