Überzeugungskraft und Engagement aller
Kirche kämpft um ihre Kunden" - so überschrieb die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" eine Reportage über das Bistum Essen. "Ganz schlimm" sei hier die wirtschaftliche Lage. Im Ruhrgebiet stagnieren die Kirchensteuern - und über Reichtümer vergangener Zeiten verfügt das Bistum nicht. Dennoch zeichnete die Reportage ein freundliches Bild: Die Katholiken zwischen Ruhr und Lenne machen sich nichts vor. Sie schätzen ihre Lage realistisch ein und "kämpfen" auf der Suche nach Wegen in die Zukunft. Der letzte Satz ist ein Kompliment: "Die Kirche lernt dazu."
Die Kirche im Ruhrbistum lernt tatsächlich. Sie stellt sich den Folgen der Veränderungsprozesse, die beim Blick auf die 60-jährige Geschichte der jüngsten deutschen Diözese in der alten Bundesrepublik sichtbar werden. Dabei begann es mit Euphorie, als Bischof Dr. Franz Hengsbach im Jahr 1958 sein Amt als Ruhrbischof übernahm. Bischof Hengsbach wollte mit seinem neuen Bistum weitere Menschen erreichen und eine größere Nähe zwischen Kirche und Arbeitswelt herstellen. Neue Gemeinden wurden gegründet, neue Kirchen gebaut. Der volkskirchliche Optimismus bestätigte sich jedoch nicht. Mit den späten 60er-Jahren setzte ein Umbruch ein: Individualität und Pluralität prägten zunehmend die Gesellschaft - und entzogen damit den Volkskirchen eine wesentliche Grundlage. Familiäre Prägung und Sozialisation bestimmen immer weniger die persönlichen Lebensgeschichten. Religion wird zu einer Sache individueller Wahl.
Über 100 Kirchen wurden aufgegeben
Zunächst wirkte die volkskirchliche Blütezeit aber noch lange nach, weil die Kirchensteuern für einen enormen Reichtum sorgten. Unter der Oberfläche aber sank die Zahl der Kirchenmitglieder: Innerhalb von 60 Jahren halbierte sich das Bistum von 1,5 Millionen Katholiken auf inzwischen weit unter 800 000. Anfang des neuen Jahrhunderts drohte die Zahlungsunfähigkeit. Einschneidende Veränderungen waren die Folge: Die 259 Kirchengemeinden wurden zu mittlerweile 43 Großpfarreien zusammengelegt. Über 100 Kirchen sind inzwischen aufgegeben worden.
In der Folge begann im Jahr 2011 ein Dialogprozess, bei dem in großer Offenheit viele Fragen diskutiert wurden, die die Gläubigen schon lange bewegten. Daraus entstand ein Zukunftsbild, das sieben Haltungen beschreibt: Berührt, wach, vielfältig, lernend, gesendet, wirksam und nah - so soll Kirche künftig geprägt sein.
Zentraler Gedanke des Zukunftsbildes: Kirche lebt aus der Überzeugungskraft und dem Engagement aller ihrer Mitglieder. Sie muss sich davon verabschieden, eine hauptberuflich gesteuerte Organisation bleiben zu können. Zugleich soll die künftige Kirche offen und vielfältig sein und der Pluralität der modernen Gesellschaft gerecht werden. Inhaltlich lebt sie aus ihrer Quelle, dem Gott Jesu Christi.
Innerkirchliche Konkurrenzkämpfe machen Gräben sichtbar
Viele Projekte, die das Zukunftsbild angestoßen hat, setzen auf ehrenamtliches Engagement: vom Beerdigungsdienst über die Leitung von Wortgottesdiensten bis hin zu Modellen ehrenamtlicher Gemeindeleitung. Zugleich wenden sich viele Projekte an Menschen, die nur wenig Kontakt zur Kirche haben - von sozialpastoralen Initiativen bis hin zu niedrigschwelligen Angeboten für jungen Paare und junge Eltern.
Natürlich bewirkt ein Zukunftsbild keine Euphorie, wenn zugleich schmerzhafte Abschiede von Strukturen, Gebäuden und Einrichtungen zu bewältigen sind. Wir stehen vor einer geradezu paradoxen Herausforderung, Abschied und Neuaufbruch gleichzeitig zu vollziehen. Das geht nur gemeinsam - und nicht im gegenseitigen Wettstreit, welche Organisation oder Struktur noch zu retten sein kann.
Letztlich geht es überhaupt nicht darum, Strukturen zu retten, sondern Christentum insgesamt in die kommenden Generationen zu übertragen. Damit rücken grundsätzliche Fragen in den Vordergrund: Was zeichnet uns als Christen aus? Woran glauben wir, und warum ist dieser Glaube auch für andere von Bedeutung? Was wollen wir an künftige Generationen weitergeben? Wie wollen wir in eine Gesellschaft hineinwirken, in der Christen in wenigen Jahren zu einer Minderheit werden?
Diese Fragen zeigen, dass innerkirchliche "Konkurrenzkämpfe" nicht weiterführen. In Zeiten knapper werdender Ressourcen wird aber auch deutlich, wie wenig ausgeprägt ein verbindendes "katholisches" Denken ist. Jede Gemeinde, jeder Verband, jede Organisation sieht zunächst sich selbst in Abgrenzung zu "den anderen" - vor allem dann, wenn gespart werden muss. Da werden Gräben sichtbar, die uns mehr trennen, als wir dies in finanziell guten Zeiten für möglich gehalten hätten.
Inzwischen sehen wir im Ruhrbistum auch den "Graben" zwischen verbandlicher Caritas und weiten Teilen der übrigen Kirche. Allein die Rede von "Kirche und Caritas" ist entlarvend - als handle es sich dabei um verschiedene Welten. Leider ist es oft der Fall, dass "die Caritas" dazu dient, um sozial-caritatives Engagement zu delegieren. Für "das Soziale" ist dann "die Caritas" zuständig. Umgekehrt mag es aber auch vorkommen, dass sich verbandliche Caritas gerne mal abgrenzt von den nicht so populären Seiten der "verfassten Kirche".
Die Caritas als Verband und als Träger sozialer Einrichtungen sowie als Bewegung von Ehrenamtlichen zeigt und lebt etwas vor, worauf kirchliches und christliches Leben grundsätzlich angewiesen bleibt: Die Kirche ist Caritas. Sie verliert ihren Anspruch, Kirche Jesu Christi zu sein, wenn sie nicht auch gelebte Caritas wäre. Und Caritas verliert ihre Identität, wenn ihr das Bewusstsein verloren ginge, Kirche zu sein.
Entdeckung neuer "Kirch-Orte"
Mit dem Projekt "Caritas und Pastoral" will der Diözesan-Caritasverband deshalb die verbandliche Caritas gemeinsam mit anderen Bereichen des Bistums Essen in eine intensive Auseinandersetzung führen. Möglichst viele Schnittstellen und Verbindungslinien sollen entdeckt und aktiv weiterentwickelt werden. Wir können nur gemeinsam unserer Sendung als Christen gerecht werden und voneinander profitieren. Bei aller Trauer über den Verlust von Kirchengebäuden und anderen kirchlichen Strukturen lassen sich auch Orte (neu) entdecken, die als "Kirch-Orte" bislang gar nicht hinreichend wahrgenommen worden sind: die vielen Einrichtungen der Caritas, in denen Notleidenden und Bedürftigen geholfen wird und wo sich intensives Leben im Geiste Jesu Christi abspielt. Zugleich können Gemeinden und Pfarreien mit Hilfe der Caritas Handlungsfelder ehrenamtlichen Engagements entdecken, die außerhalb von Kirche längst großen Zuspruch finden - innerhalb unserer kirchlichen Grenzen aber noch ausbaufähig sind.
"Kirche lernt dazu", schrieb die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" am Ende ihrer Reportage. Ein großes Kompliment und ein Ansporn, dass wir gemeinsam als Kirche "Caritas" lernen - und damit uns selbst und den Menschen um uns herum zeigen, was der zentrale Kern des Christseins ist: Barmherzigkeit und Liebe zu leben in Wort und Tat.
www.zukunftsbild.bistum-essen.de