Im Anfang war (auch) die Caritas
Armut, Bedürftigkeit, Hunger waren für die Antike Schicksal. Das gilt für die gesamte griechische und römische Welt. Man hatte eben Pech, wenn man nicht auf der Sonnenseite des Lebens stand. Das Gemeinwesen - von Staat im heutigen Sinn ist noch kaum zu sprechen - erblickte keine Verpflichtung darin, fürsorglich tätig zu werden. Es gab keinen speziellen Gesetzesakt zugunsten der Bedürftigen. Zwar gab es in der Stadt Rom Waisenversorgung, Geld- und Getreidegeschenke sowie Kinderfürsorge - aber nur für die Gruppe der Freigeborenen. Das Wort Jesu "Selig sind die Armen" gehörte nicht in die griechisch-römische Vorstellungswelt. Es lebt auf dem Hintergrund des Judentums und des Alten Testamentes.
Das Christentum hat historisch eine neue Dimension eröffnet, indem es Armut und soziale Notlagen als öffentliches Problem bewusst gemacht hat. Hier und da zeigen antike Quellen, dass man bewusst nicht einen geistig-spirituellen Bischof wollte, sondern den Sozialorganisator. Die Bischöfe waren die Sozialanwälte ihrer Städte.
Diese neue Dimension ist Ausdruck der Caritas, des "Liebestuns" der Kirche. Von Anfang der Kirche an gilt, was Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika "Deus caritas est" (DCE) so ausgedrückt hat: "Alles Handeln der Kirche ist Ausdruck einer Liebe, die das ganzheitliche Wohl des Menschen anstrebt … Die in der Gottesliebe verankerte Nächstenliebe ist zunächst ein Auftrag an jeden einzelnen Gläubigen, aber sie ist ebenfalls ein Auftrag an die gesamte kirchliche Gemeinschaft, und dies auf allen Ebenen" (Nr. 20).
Das ist die Perspektive: Menschen zu allen Zeiten sollen gewiss sein können in der Zusage, dass ihre Nöte nicht unerkannt bleiben, sie mit ihren Ängsten nicht alleinstehen und Hoffnung darauf haben dürfen, dass die christliche Botschaft Lebensperspektiven schenkt, die nicht mit dem Tod enden (vgl. Gaudium et spes Nr. 1 vom II. Vatican.).
So hat alles angefangen im Blick auf Jesus, auf sein Leben, Sterben und Auferstehen. Er überzeugte seine Umgebung durch seine Art, bestehende Regeln und ihre Praxis daraufhin zu untersuchen: Wie ist der Mensch darin aufgehoben? Das Gesetz selbst ist nicht schon der Sinn des Gesetzes, sondern ob darin der Mensch selbst Heilung erfährt. Jesus lehrte die Menschen, nicht nur die Ideale, sondern auch die Realität des Menschen, seine konkrete Lage, zu lieben, um sie, wenn nötig, zum Guten wandeln zu können. Er warb für eine eben nicht idealisierte beziehungsweise ideologisierte, sondern unverstellte Sicht des Menschen. Und die Werke der Barmherzigkeit in der Weltgerichtsrede des Matthäusevangeliums (25,31ff.) sind das Handlungsfeld der Caritas. "Die Botschaft Jesu ist diese Barmherzigkeit. Für mich - und ich sage das in aller Bescheidenheit - ist das die stärkste Botschaft des Herrn: die Barmherzigkeit" (Papst Franziskus).
Frühes soziales Netzwerk
Im Neuen Testament hat man viele Beschreibungen dafür, dass die Anziehungskraft des frühen Christentums nicht nur im Gottesdienst bestand. Wesentlich war, dass die Christen ihre Armen kannten. Sie gingen in deren Häuser und öffneten ihre Häuser für die Armen. Daraus entwickelte sich schon sehr früh ein soziales Netzwerk, das anziehend wurde für die, die sozial in vieler Hinsicht ungeschützt, ausgegrenzt und ungesichert waren. Solche Menschen fanden zu den christlichen Gemeinden durch deren schon organisierte Caritas und so zum Evangelium: die Evangelisierung nicht nur durch Wort und Sakrament, sondern durch die Caritas. Es sammelt sich so auch Geld an in den Gemeinden, um helfen zu können. Was auch Auslöser für kaiserlich angeordnete Christenverfolgungen war, um an dieses Geld kommen zu können (vgl. Veröffentlichungen von R. Staats).
Bei der Taufvorbereitung in der frühen Kirche wurde die Einübung in die aktive Nächstenliebe und in die Werke der Caritas zur Bedingung gemacht. Die Feier der Eucharistie wurde mit Gaben für die Witwen und Waisen, die Kranken und Gefangenen verknüpft. Wenn der hl. Ignatius von Antiochien die Kirche von Rom als "Vorsitzende in der Liebe" bezeichnete, hatte er den Caritasdienst im Blick (vgl. DCE Nr. 22).
Das Evangelium stellt das Gesetz des Ausgleichs infrage (vgl. den germanischen Sinnspruch: Vergelte Gabe mit Gegengabe). Jesus dagegen: "Ihr sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt" (Lk 6,35) - also auch dort, wo es keine Gegengabe gibt. Christsein heißt, nicht nach der Gegengabe zu schielen, sondern möglichst auf Aufwägung zu verzichten. Wie das zu übertragen ist in heutige Sozialstaatlichkeit, ist des Nachdenkens wert.
Die Christen schufen in der Antike erste Wohlfahrtseinrichtungen. Mit seiner neuen Sozialpraxis wirkte das Christentum revolutionär. Es entfaltete damit "ein Prinzip der ungeheuersten geistigen und … auch der materiellen, rechtlichen und institutionellen Revolution" (E. Troeltsch).
Die Glaubwürdigkeit der verfassten Kirche hat heute viel zu tun mit ihrer Fähigkeit, im Umgang mit der Geschichte und dem Lebenswissen der Caritas eine kluge Unterscheidung zwischen Zeitgeist und Zeichen der Zeit zu leisten.
Denn "der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtstätigkeit, die man auch anderen überlassen könnte, sondern gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst" (DCE Nr. 25).