Neue Brille für die OGS
„Nicht zu schmale, unpassierbare Türen für gehandicapte Kinder sind das Problem, sondern die hermetisch verschlossenen Türen für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten“, sagt Nadine Leenen, die an zwei Grundschulen in Bochum-Langendreer OGS-Betreuerin ist.Christoph Grätz
Die Caritas im Ruhrbistum will das mit einem Modellprojekt Inklusion gezielt fördern. Ein Interview mit Projektkoordinatorin Ira Schumann.
Caritas in NRW: Frau Schumann, Sie koordinieren das Projekt "Inklusive offene Ganztagsschule" bei der Caritas im Bistum Essen. Was konkret soll das Projekt leisten?
Ira Schumann: Ganz grundsätzlich geht es natürlich um die Unterstützung der Fachkräfte. Ein konkreteres Ziel ist die Etablierung von Inklusion als handlungsleitender Perspektive. Also immer wieder deutlich zu machen: Inklusion ist nicht etwas, was noch dazukommt, und dann kommt in fünf oder zehn Jahren das Nächste. Inklusion ist etwas sehr Grundlegendes - eine Perspektive, die wie eine Brille dazu dient, die ganze Schule und die OGS anzuschauen. Ein Instrument, mit dem Pädagogen und Pädagoginnen permanent auf das eigene Handeln schauen, also eine ständige Reflexionsperspektive. Wir wollen praktische Dinge vermitteln, aber auch auf dieser Einstellungsebene ganz viel erreichen. Zudem wollen wir OGS-Teams und Lehrerkollegien, die noch mal intensiver daran arbeiten wollen, ihre jeweilige Organisation zu verändern, bei diesem Prozess unterstützen. Wir bieten ihnen den "Index für Inklusion" als Arbeitsinstrument an und beraten sie in der Arbeit damit.
Caritas in NRW: Was braucht denn Schule, was brauchen Pädagogen und Pädagoginnen, um inklusiver zu werden?
Ira Schumann ist seit 1. Juni Koordinatorin im Projekt „Inklusive offene Ganztagsschule im Ruhrbistum“. Zuvor hat sie in Forschungsprojekten im Bereich Erziehungswissenschaften gearbeitet und Rehabilitationspädagogik und Hispanistik in Halle studiert.
Ira Schumann: Einerseits muss mehr Geld ins Schulsystem reingegeben werden oder im Schulsystem umverteilt werden. Die personelle Ausstattung, wie sie jetzt ist, reicht nicht. Auch wenn wir als Caritas daran mitarbeiten wollen, dass sich diese Bedingungen verbessern, können wir hier nicht sofort etwas ändern. Aber wir können gemeinsam mit den Fachkräften bei ihren Einstellungen ansetzen: ihre Haltung, mit der sie an das Thema Inklusion rangehen. Ihr Bild vom Kind, ihr Bild vom Lernen. Auf dieser Ebene muss tatsächlich sehr viel passieren neben besserer Ausstattung und einer Bildungspolitik, die das Thema besser unterstützt. Neben diesen Themen gibt es das grundsätzliche Problem, dass die OGS von der Politik oft nicht mitgedacht werden, wenn es um Inklusion geht. Hier sind rechtliche Änderungen notwendig, um die OGS besser zu unterstützen auf dem Weg zur Inklusion. Im Schulrechtsänderungsgesetz, welches letztes Jahr im August in NRW in Kraft getreten ist, wurden die OGS nicht berücksichtigt. Dieser Umstand, dass Schule und OGS immer wieder so getrennt gedacht werden, hat beispielsweise zur Folge, dass Kinder, die vormittags im Unterricht Anspruch auf Unterstützung durch Integrationshelferinnen und Integrationshelfer haben, diese für den Nachmittag in der OGS teilweise nicht bewilligt bekommen. Die Entscheidung über diese Bewilligung liegt bei den Jugend- und Sozialämtern, und wir können bei den am Projekt teilnehmenden Ortscaritasverbänden beobachten, dass dies sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Das kann nicht sein, dass Inklusion nur bis zum Mittagessen geht, und danach werden manche Schülerinnen und Schüler wieder ausgeschlossen.
Caritas in NRW: An welchen Haltungen von OGS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern wollen Sie arbeiten?
Auch im offenen Ganztag gehören inzwischen Kinder mit Erfahrungen von Krieg, Gewalt und Vertreibung zum Alltag. Inklusion – auch für sie – gibt es nicht zum Nulltarif.Christoph Grätz
Ira Schumann: Es gibt mehrere Hindernisse für mehr Inklusion an Schulen und der OGS. Eine weitverbreitete Auffassung ist immer noch, dass bestimmte Kinder einfach nicht an die Regelschule gehören. Deutschland hat mit viel Geld über die Jahre ein sehr differenziertes Sonderschulsystem aufgebaut. Was seinerzeit ein ganz großer Fortschritt war, hat sich inzwischen ausdifferenziert - mit negativen Effekten. Es wurden Orte für Kinder geschaffen, die an der Regelschule nicht zurechtkamen. Dies widerspricht dem Grundgedanken der Inklusion als Menschenrecht. Auch manche Pädagogen und Pädagoginnen tun sich schwer damit, zu akzeptieren, dass bestimmte Kinder auf einmal einen Rechtsanspruch haben, an einer Regelschule zu sein. Außerdem müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass Kinder einen bestimmten Stand an Fähigkeiten, ein bestimmtes Verhalten mitbringen müssen, um überhaupt zur Regelschule gehören zu können. Diese Idee findet man nicht nur bei Lehrerinnen und Lehrern, sondern auch schon im Kindergarten. Kinder werden fit gemacht für die Schule, weil sie einen bestimmten Stand an Wissen, an Fertigkeiten mitbringen müssen, um mitkommen zu können, um da überhaupt hingehören zu dürfen.
Caritas in NRW: Frau Schumann, wir wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihr Projekt!
Das Interview führte Christoph Grätz.