Inklusion kommt langsam voran
Der kleine David* weint häufiger. Er war früher auf einer Förderschule Lernen, wo er gut zurechtkam. Nun ist er einer von zwei Schülern in einer Regelklasse fünf einer Realschule im Großraum Köln. Wegen seiner diagnostizierten Lernbehinderung wird er inklusiv beschult, erhält individualisiertes Unterrichtsmaterial. Auf seinem Englisch-Arbeitsheft ist ein anderes Bild drauf als bei den anderen Schülern. Die haben das sofort gemerkt und sich lustig gemacht: "Die sind ja doof." In seiner Verzweiflung läuft David heulend zu den Lehrern.
In der Theorie profitieren vom sogenannten gemeinsamen Unterricht beide Seiten, behinderte und nicht behinderte Kinder. Damit diese Theorie in der Praxis auch umgesetzt wird, sind im Schulalltag viele Gespräche, Übungen und Diskussionen notwendig. Soziales Lernen, gegenseitige Akzeptanz gelten heutzutage als wichtige Fähigkeiten. Doch es "bedarf einer längeren und intensiven Arbeit, um auch die Regelschüler zu erziehen", sagt die gelernte Förderschullehrerin Annegret Schmidt*, die jetzt in der Inklusion arbeitet. Damit auch der Regelschüler erkenne: "Mein Mitschüler hat’s nicht so mit dem Lesen, kann aber superschnell laufen."
Was sich in dieser Klasse fünf als die eine Seite des Problems darstellt, sieht in der Inklusionsklasse sieben an der gleichen Realschule schon wieder ganz anders aus. Drei Schüler mit emotional-sozialem Förderbedarf sitzen hier in einer Klasse mit 16 anderen Schülern. Mobbingprobleme, Gewaltdelikte, Störungen und Auseinandersetzungen sind hier an der Tagesordnung. Viele Regelschüler haben permanent Angst, weil sie massiv mit Gewalt bedroht werden. Und obwohl die Klassenlehrerin zufällig eine Zusatzausbildung als Deeskalationstrainerin hat, obwohl mehrfach die Polizei zur Beratung in der Klasse war, belasten die Probleme den täglichen Unterricht. An vier bis fünf Stunden in der Woche ist die Sonderpädagogin zusätzlich zu den Fachlehrern im Unterricht anwesend - bei knapp 30 Wochenstunden. Also gilt es vor allem für die Klassenlehrerin, die sozialen Probleme und Konflikte in der Interaktion mit allen Schülerinnen und Schülern aufzuarbeiten. Daneben muss - es handelt sich um eine Realschule! - der Lehrplan durchgezogen werden, der Stoff für die vorgeschriebenen drei Klassenarbeiten ist zu vermitteln. Eltern, die anfangs erfreut auf die zweite geschulte Lehrkraft reagierten, weil sie sich zusätzliche Förderung auch für ihr eigenes (nichtbehindertes) Kind erhofften, fragen inzwischen argwöhnisch, ob die Inklusion nicht die Lernchancen für ihre Kinder verschlechtert. Wer will es ihnen verdenken in einer auf Selbstoptimierung getrimmten Leistungsgesellschaft?
Inklusion in der Schule bedeutet aber auch: viel mehr Arbeit für die Klassenlehrerin. Sie hält ihren Unterricht differenziert nach drei, manchmal sogar vier Leistungsstufen. Arbeitsblätter müssen in vier verschiedenen Versionen angefertigt werden. Es braucht vielfältige und abwechslungsreiche Unterrichtsmethoden. Kein Wunder, dass 80 bis 90 Prozent des Kollegiums die Inklusion, die sie als von der Politik aufgepfropft empfinden, ablehnen. Zumal sie - bis auf eine Mini-Fortbildung von wenigen Stunden, bei der viele Fragen offenblieben - keinerlei Ausbildung für die neue Mammutaufgabe erhalten haben. "Regelschullehrer der SekundarstufeI und II sind im Grunde interessiert und dazu ausgebildet, ein Fach zu unterrichten und Wissen zu vermitteln - nicht aber, Kindern mit psychischen Problemen soziales Lernen zu ermöglichen", sagt die Sonderpädagogin Schmidt.
Ablehnung bei Lehrern
Kein Wunder, dass eine repräsentative Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) unter Lehrerinnen und Lehrern zu einem verheerenden Ergebnis kommt. 97 Prozent der Befragten sprechen sich NRW-weit für eine Doppelbesetzung aus Lehrer und Sonderpädagogen in inklusiven Klassen aus, neun von zehn sind der Ansicht, dass es diese Doppelbesetzung immer und nicht nur zeitweilig geben müsse. Das nordrhein-westfälische Inklusionsgesetz sieht eine solche Doppelbesetzung nicht zwingend vor. Das Fortbildungsangebot bewerten 47 Prozent der Lehrer als gar nicht gut, weitere 39 Prozent als weniger gut. Auch über zu große Klassen gibt es Klagen.
Der VBE forderte als Konsequenz auf die aktuellen schlechten Umfrage-Ergebnisse mehr personelle, sachliche und räumliche Ressourcen für die Inklusion. Man ahnt es: Inklusion gibt es nicht kostenneutral. Böse Zungen behaupten, die nordrhein-westfälische Landesregierung, die ihre Haushaltsprobleme nicht in den Griff bekommt, wolle langfristig mit der Abschaffung von Förderschulen und einem Billig-Modell der Inklusion vor allem Geld sparen. Doch der Schuss könnte nach hinten losgehen: So empfiehlt der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in seiner Antwort auf den ersten sogenannten Staatenbericht der Bundesregierung, "umgehend eine Strategie, einen Aktionsplan, einen Zeitplan und Ziele zu entwickeln, um (…) den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen inklusiven Bildungssystem zu ermöglichen, einschließlich der notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen auf allen Ebenen".
Mehr Geld will die rot-grüne Landesregierung derzeit nicht in den gemeinsamen Unterricht investieren. Sie beruft sich auf eine Untersuchung mit dem Ergebnis, dass die Landeszuweisungen an die Kommunen für die schulische Inklusion "auskömmlich" seien, so NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne). Also geht der Streit über die Finanzierung der schulischen Inklusion in NRW auf eine neue Ebene: 52 Kommunen haben Verfassungsklage gegen den im Jahr 2014 erzielten Kompromiss über die Landesförderung der schulischen Inklusion erhoben.
Der politische Streit über die Finanzierung droht dann auch die inhaltliche Debatte zu überlagern. "Man kann an dem Schulgesetz vieles kritisieren", sagt Hubertus Strippel, Referent für Behindertenhilfe im Diözesan-Caritasverband Essen, - doch das führe in der Debatte um die Inklusion nicht unbedingt weiter. Denn klar ist: Den Weg zurück gibt es nicht mehr. Der UN-Ausschuss empfiehlt Deutschland klipp und klar, "das Förderschulsystem abzubauen". Das würde letztendlich auf eine "Schule für alle" hinauslaufen. Erfolgreiche Modellprojekte gibt es längst genug. Doch wie funktioniert Inklusion bei einem Schulsystem, das bisher leistungsorientiert ist? Das beispielsweise bei Gymnasien vor allem auf Wissensvermittlung ausgelegt ist? Wie können die Motivation und Qualifikation von Lehrern im Alltag verbessert werden? "Wir brauchen eine allgemeine Bildungsdebatte", fordert Strippel. Das Schulrechtsänderungsgesetz 2014 ist ohne Aktionsplan, ohne konkrete Schritte und Teilziele, ohne Änderungen auch bei der Lehrerausbildung, ohne eine Anpassung des Schulsystems verabschiedet worden. Es eröffnet den Eltern von Kindern mit emotional-sozialen Behinderungen, Lern- oder Sprachbehinderungen einen Rechtsanspruch auf schulische Inklusion. Doch wissen Eltern immer, was das Beste für ihr Kind ist? Der kleine David hatte sich an der Sonderschule wohl gefühlt, dem Unterricht konnte er besser folgen, er würde gerne dorthin zurück. "David würde dort mehr lernen", sagt Sonderpädagogin Schmidt, "doch die Eltern sind stolz, dass ihr Kind jetzt auf eine normale Schule geht." Dass ihr Kind oft weint, sehen sie nicht.
Gibt es Beispiele für gelingende Inklusion?
"Vor zehn Jahren haben wir im Kita-Bereich darüber sehr intensiv und kontrovers diskutiert", sagt Michael Brohl, Abteilungsleiter für Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe beim Diözesan-Caritasverband Paderborn. Damals sei es wichtig gewesen, den heilpädagogischen Einrichtungen nicht die Daseinsberechtigung abzusprechen - gleichzeitig aber die Regeleinrichtungen zu öffnen und den Prozess der Inklusion aktiv zu gestalten. Es besteht ein individueller Rechtsanspruch auf bedarfsdeckende Leistungen, das heißt, Eltern können vor Gericht gehen und die angemessene Teilhabe für ihre Kinder einklagen. Maßstab ist dann: Was braucht das Kind? "Das ist eine Situation, die wir auch im schulischen Bereich brauchen", sagt Brohl. Heute werden im Kita-Bereich 80 Prozent der Kinder mit Handicaps in einer Regeleinrichtung aufgenommen. Das ist schon mal eine schöne Quote auch nach den Maßstäben der UN-Behindertenrechtskonvention, allerdings sagt diese Zahl nicht viel über die Qualität der Inklusion aus. Die Rahmenbedingungen für eine wohnortnahe Betreuung sind im Laufe der Jahre verbessert worden, somit ist Inklusion im Kita-Bereich zurzeit keine finanzielle, sondern eine fachliche Herausforderung. Wie kann das Personal qualifiziert werden? Wie gelingt es, dass einzelne Kinder nicht zu Inklusionsverlierern werden? "So ein Prozess braucht Zeit und Akzeptanz bei Eltern, Einrichtungen, Politik und beim Personal", sagt Brohl.
Wohnen für Menschen mit Behinderungen
Mut zu mehr Inklusion macht das Beispiel des ambulant betreuten Wohnens: "Vor 15 Jahren gab es zehn Behinderte, die außerhalb der Einrichtung wohnten", sagt der Direktor der Stiftung Haus Hall, Thomas Bröcheler. Heute betreut die Einrichtung im westlichen Münsterland 180 Menschen im ambulant betreuten Wohnen. Wohnungen wurden angemietet, Mehrparteienhäuser gesucht oder gar gebaut, Außenwohngruppen gegründet - all das brachte Menschen mit Behinderung "mehr Mitbestimmung, mehr Freiheit, mehr Lebensqualität", so der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, der sich als Kostenträger natürlich auch darüber freut, dass das ambulant betreute Wohnen deutlich kostengünstiger ist. Nur sehr vereinzelt berichten Kritiker von vereinsamten Menschen in zugemüllten Wohnungen.
Welche Position hat die Caritas?
Von ihrem Selbstverständnis als Anwalt von Menschen mit Benachteiligungen unterstützt die Caritas voll und ganz die Forderung nach selbstbestimmter Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Punkt. "Die UN-Behindertenrechtskonvention hat dem Prozess der Inklusion eine neue menschenrechtliche Qualität gegeben. Sie macht das Recht, alle Rechte zu haben, den Schutz vor Diskriminierung und die Gewährleistung individueller Entwicklung ungeteilt für alle Menschen und nicht nur für Menschen mit ‚bestimmten Behinderungen‘ geltend", sagt Strippel.
Daneben ist die Caritas aber auch Spitzenverband von zahlreichen Diensten und Einrichtungen der Behindertenhilfe in selbstständiger Trägerschaft, die wirtschaftlich handeln und am Markt überleben müssen. Die Stiftung Haus Hall ist auch Träger einer Förderschule für 190 Kinder mit geistiger Behinderung. Er sei sich sicher, dass es diese Förderschule auch in absehbarer Zeit noch geben werde, einfach weil es sie zur Versorgung von Menschen geben müsse, die anders keine Chance hätten, betont Thomas Bröcheler. Dabei ist er beileibe kein Inklusionsgegner: "Es gibt viele tolle Beispiele, wie Inklusion gelingt, aber das sind oft auch prominente und medienwirksame Einzelfälle", sagt Bröcheler. Und: "Dabei-Sein in einer Regel-Klasse heißt ja nicht, dass ein Kind auch in sozialen Beziehungen steckt, dass es teilhat", sagt er mit Blick auf den gesetzlich verankerten Rechtsanspruch auf schulische Inklusion. Viele Fragen sind noch offen, anscheinend tastet sich die Politik wie in einem Dunkelraum voran. Um die Inklusion voranzubringen, braucht es nicht nur ein Gesetz und gute Beispiele, sondern auch eine generelle Bereitschaft der Handelnden und - das ist besonders wichtig- die Bereitschaft zum Denken jenseits herkömmlicher Erfahrungen. Nicht umsonst gilt immer noch die alte Parole: "Inklusion fängt in den Köpfen an - in unseren!" "Ich werde nicht müde zu betonen, dass wir entwicklungsoffen sind. Nur wissen wir nicht, was kommt. Ich wünsche mir für unsere Schule, dass wir inklusive Schule würden, dass wir gemeinsamen Unterricht geben dürften, dass wir Partnerklassen hätten", sagt Bröcheler. Das ist in Nordrhein-Westfalen bislang undenkbar: dass Förderschulen, die ja oft gut ausgestattet sind, auch Regelschulkinder aufnehmen - und so die Inklusion voranbringen.
Erfahrungen der Caritas
Mitarbeiter und Leitungen in der Behindertenhilfe der Caritas verfügen über sehr viel Praxiserfahrung. Diese Realitätskenntnis scheint manchmal nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv den theoretischen Ansprüchen der Inklusion zu widersprechen. Wenn dann Bedenken vorgebracht werden, heißt es schon mal von der Politik: "Ihr wollt doch nur eure Kuschelecke Förderschule erhalten." "Wir werden unter Druck gesetzt, uns der Inklusion zu öffnen", sagt Thomas Bröcheler von Haus Hall, "und das ist auch in Ordnung so!" Ihn stört vielmehr zu viel Ideologisierung: "Bislang ist unser System der Behindertenhilfe so ausgerichtet, dass auch die Schwächsten versorgt und gefördert werden." Mit der Umsetzung der Inklusion wandert der Blick automatisch auf die Besten, auf die Grenzgänger, die mit entsprechender Unterstützung zu den Vorzeigebeispielen für gelungene Inklusion werden. Was ist mit Schwerst-mehrfachbehinderten? Was ist mit denen, die in den Einrichtungen zurückbleiben, weil sie dauerhaft betreut werden müssen? Die für immer in einer beschützten Werkstatt arbeiten, während die "Fitteren" eine integrative Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden haben? "Der Erfolg der Inklusion muss sich daran messen lassen, wie es den Schwächsten geht", sagt Bröcheler. Andersherum: "Bezahlen die Schwächsten den Preis für Inklusionsvorstellungen einer Gesellschaft, die nur für bestimmte Behinderungen in Frage kommen?"
Eine wichtige Frage, die aber nicht zu einem Argument der Inklusionsverweigerer werden darf. "Wir müssen die gesellschaftliche Perspektive im Auge behalten und jetzt sowohl eingefahrene Denkweisen als auch etablierte Strukturen verändern, damit wir in diesem unumkehrbaren Prozess der Inklusion Schritt für Schritt vorankommen", sagt Michael Brohl.
Warum Inklusion?
Inklusion ist kein Selbstzweck, sondern entspringt als Recht auf (selbstbestimmte) Teilhabe von Menschen mit Behinderung dem zentralen Menschenrecht auf Beachtung der Menschenwürde. Wer sich also den Menschenrechten verpflichtet fühlt, muss auch die in der UN-Behindertenrechtskonvention niedergelegten Regelungen akzeptieren und umsetzen. Teilhabe ist danach nicht (nur) eine Frage des sozialen Wohlergehens, sondern beinhaltet die unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft (Artikel 19), Arbeit und Beschäftigung (Artikel 27), angemessenen Lebensstandard und sozialen Schutz (Artikel 28), Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport (Artikel 30). Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention 2009 ratifiziert und muss sie jetzt entsprechend und überprüfbar umsetzen.
Weil nach der Konvention eine Behindertenpolitik der Fürsorge und des Ausgleichs von Defiziten überholt - und streng genommen nicht (mehr) mit der Menschenwürde vereinbar - ist, sind die Vertragsstaaten wie Deutschland rechtlich gezwungen, das Leitbild der Inklusion zu übernehmen:
"Es geht nicht mehr darum, Ausgegrenzte zu integrieren, sondern allen Menschen von vornherein die Teilnahme an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebenen und in vollem Umfang zu ermöglichen. Dies bedeutet, alle gesellschaftlichen Bereiche müssen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zugeschnitten sein oder geöffnet werden. Es ist nicht Aufgabe des Menschen mit Behinderungen, sich anzupassen, um seine Rechte wahrzunehmen. Die Sicherstellung behindertengerechter Infrastruktur ist ein Grundgedanke der Behindertenrechtskonvention. Menschen mit Behinderungen sollen von gemeindenahen Diensten oder auch persönlichen Assistenzen unterstützt werden. Viele Partizipationshindernisse, unter denen Menschen mit Behinderungen leiden, hängen mit physischen oder mentalen Barrieren zusammen. Deren Überwindung verlangt breit angelegte staatliche und gesellschaftliche Anstrengungen und auch die Bereitschaft zur Übernahme der zur Umsetzung notwendigen Kosten."
(aus Wikipedia, abgerufen am 18.08.2015)