Vertraut und zugleich fremd
Eines der ersten Fotos von Laien als professionellen „Caritätern“ im Einsatz: 120 Mitarbeiter umfasste die Kirchliche Kriegshilfe der deutschen Bischöfe in Paderborn. Das Hilfswerk für Kriegsgefangene beider Seiten war im Ersten Weltkrieg die erste caritative Initiative des Paderborner Bischofs und späteren Kölner Kardinals Karl Joseph Schulte.In Obsequium Christi. Gedenkausstellung des Historischen Archivs des Erzbistums Köln zum 50. Todestag von Karl Joseph Kardinal Schulte am 10. März 1991, S. 37
Unter dem Eindruck dieser europäischen Ur-Katastrophe hatten sich damals die deutschen Bischöfe entschlossen, die vielen zersplitterten Caritas-Einrichtungen und -Initiativen zu diözesanen Organisationen zusammenzufassen. Ziel war es, eine bessere Koordination der untereinander isolierten Einrichtungen und Dienste zu erreichen, aber auch dem Staat gegenüber einheitliche Dachorganisationen im katholischen Bereich zu bieten. Die Gefahr war im Ersten Weltkrieg durchaus gegeben, dass die katholische Kirche auf dem Feld der Sozialfürsorge ausgebootet werden könnte. Erste Anzeichen, dass der Staat den "Wildwuchs" an privaten und allerlei dubiosen patriotischen Wohltätigkeitsinitiativen reglementieren wollte, gab es bereits 1914. Für das damalige vorkonziliare Kirchenverständnis spielte auch die Befürchtung der Bischöfe eine Rolle, dass katholische und evangelische Hilfsorganisationen zwangsverschmolzen werden könnten.
Stimmungswandel bei den Bischöfen
Alles schien möglich in einer Welt, die aus den Fugen geraten war, in einem Staat, der Millionen Männer an die Front schickte und dabei in Kauf nahm, dass Frauen und Kinder zu Hause unversorgt blieben. Und dies nicht für wenige Wochen oder Monate wie in früheren Kriegen, sondern für Jahre, häufig für immer. Auf einen Schlag gab es mehrere Millionen "Sozialfälle" in Deutschland.
Diese beispiellose Situation schrie förmlich nach Koordination. Hatte dies nicht bereits seit 1897 der Deutsche Caritasverband für die sozialen Aktivitäten der katholischen Kirche gefordert? Doch so eifrig dessen Gründer Lorenz Werthmann mit glänzenden Caritas-Tagen und einer beachtlichen Publizistik auch agiert hatte, es gelang dem Freiburger Prälaten bis zum Ersten Weltkrieg nicht, die Mehrheit der deutschen Bischöfe von seinen Ideen einer einheitlichen Caritasorganisation zu überzeugen - schon gar nicht von einer "Unterordnung" unter einen "nationalen" Caritasverband.
Deutlich größeren Einfluss sollte der Jesuitenpater Constantin Noppel erhalten. Der Theologe arbeitete nach einem Studium der Soziologie noch vor dem Ersten Weltkrieg mit verwahrlosten und straffällig gewordenen Jugendlichen in Berlin. Seine "Denkschrift über den Ausbau der katholischen Caritasorganisation" (1915) sorgte bei der Fuldaer Bischofskonferenz im Juni 1915 für den Stimmungswandel und die Anerkennung des Deutschen Caritasverbandes als Dachverband.
Bildung statt Almosen: Körperbehinderte Menschen hatten im 19. Jahrhundert kaum Chancen, einen Beruf zu erlernen. Das Josefsheim in Bigge war die erste katholische Initiative, um Betroffene nachhaltig zu fördern. Das Foto zeigt die Schuhmacherwerkstatt in den 1920er-Jahren.Josefsgesellschaft
Der erste Bischof, der bereits ein halbes Jahr später über einen Diözesan-Caritasverband als Gliederung verfügte, war der junge Paderborner Oberhirte Karl Joseph Schulte (1871-1941). Er hatte bereits im Januar 1915 ein heute fast vergessenes caritatives Projekt ins Leben gerufen: einen Vermisstensuchdienst für deutsche und "feindliche" Kriegsgefangene. Diese "Kirchliche Kriegshilfe" weitete ihre Arbeit bald auf nationaler Ebene aus. 120 Mitarbeiter arbeiteten allein 1918 im Auftrag des Bischofs in diesem Hilfswerk. Sie konnten bis zum Kriegsende fast 100000 Soldatenschicksale klären.
Kein Konzern, sondern Vielfalt
Der Paderborner Bischof lud, ohne sich groß mit Lorenz Werthmann abzustimmen, für den 8. Dezember 1915 zur Gründungsversammlung des Diözesan-Caritasverbandes nach Dortmund ein. 600 Vertreter caritativer Vereine und Institutionen aus dem ganzen Bistum füllten den Pfarrsaal der St.-Josephs-Gemeinde in der Nordstadt. Pater Noppel hielt das Hauptreferat und schloss mit einem äußerst modern klingenden Satz: "Wir wollen keine Bettelsuppen geben, sondern helfen, dass möglichst wenige danach verlangen müssen."
Über Ziele und Aufgaben des neuen Diözesan-Caritasverbandes gab es deutliche Differenzen zwischen Schulte und Werthmann. Während der Deutsche Caritasverband sich als große Gemeinschaft von Institutionen und Einzelpersonen als Mitgliedern verstand, wollte Schulte einen reinen Spitzenverband von selbstständig agierenden Caritasträgern. Der diözesane Caritasverband sorgte zwar für die Anbindung an die kirchliche Autorität, versprach aber seinen Mitgliedsträgern weitgehende Unabhängigkeit, leistete lediglich Unterstützung und die nötige Koordination, "so dass keine Bedürfnisse übersehen werden, aber auch in derselben Sache keine zweifache und darum unnötige Arbeit geschehe", wie Schulte es formulierte.
Damit ist seit 100 Jahren eine Struktur vorgegeben, die auch heute die verbandliche Caritas in den meisten deutschen Bistümern prägt: Der an den Bischof angebundene diözesane Dachverband vereint ein buntes Geflecht an katholisch-caritativen Trägern wie die Orts- und Kreiscaritasverbände, die Fachverbände und korporativen Mitglieder. Allein im Erzbistum Paderborn sind es (ohne Pfarrgemeinden) 217 Träger mit über 1500 Einrichtungen. Der Caritasverband ist von Anfang an von Vielfalt geprägt, ein "Konzern" war er nie.
Die unmittelbare Nachkriegszeit: Die „hohe Zeit“ der Caritas ist geprägt durch die Betreuung von Vertriebenen und Flüchtlingen. Der Diözesan-Caritasverband Paderborn hatte hierfür ein eigenes Hilfswerk gegründet, die Katholische Osthilfe.Walter Nies/Stadtarchiv Lippstadt 687 g 079
Was fällt auf, wenn man sich als heutiger "Caritäter" mit Caritasgeschichte beschäftigt? Zunächst ist es die kurze Zeitspanne, in der alle heute noch agierenden Träger der verbandlichen Caritas gegründet wurden: die zweite Hälfte des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts. Es war die Blütezeit des Sozialkatholizismus. Nachdem die katholische Kirche lange mit den gesellschaftlichen Umbrüchen des neuen Industriezeitalters gehadert hatte, nahm jetzt die Gestaltung der "sozialen Frage" Fahrt auf. Personen wie der Priester und Sozialreformer Franz Hitze (1851-1921) beeinflussten die Sozialgesetzgebung.
Neue "tätige" Ordensgemeinschaften schossen ebenso wie Pilze aus dem Boden wie von Laien getragene caritative Vereine oder Einrichtungen. Im Ruhrgebiet wurde um die Jahrhundertwende praktisch jeden Monat ein katholisches Krankenhaus eröffnet. 1913 zählte man allein im Bistum Paderborn 112 katholische Kliniken. Ohne Ordensleute wäre dies nicht möglich gewesen. Sie bildeten ein quasi unerschöpfliches (und kostengünstiges) Personalreservoir, das es Vereinen und anderen katholischen Initiativen ermöglichte, stationäre Einrichtungen zu betreiben. Laut Paderborner Caritas-Statistik waren 1947 über 7000 Ordensangehörige in caritativen Einrichtungen tätig. Heute sind es noch rund 150.
Berufungserlebnisse
Was fällt noch auf? Viele "Gründungsgeschichten" haben einen religiösen Bezug und damit einen sehr persönlichen Hintergrund. Agnes Neuhaus hat 1899 ihr "Berufungserlebnis" auf der "Polizeistation" des Dortmunder Stadt-Krankenhauses, so nannte man die Station, zu der die Polizei schwangere oder geschlechtskranke Frauen brachte, die sie auf der Straße aufgegriffen hatte, in der Regel Prostituierte. Die wohlhabende Bürgerstochter, die eher beiläufig mit einer Bekannten dieses Krankenhaus besuchte, verlässt zutiefst verstört die Klinik. Ihr erster Weg führt zum Gebet in die katholische Propsteikirche. Danach verändert sich ihr Leben. Sie gründet schließlich den heutigen Sozialdienst katholischer Frauen (SkF).
Geschlossenes katholisches Milieu
Wenige Jahre später erlebte der Priester Heinrich Sommer an einer Fährstation bei Koblenz sein "Berufungserlebnis". Ein junger, verkrüppelter Mann fiel dem Geistlichen auf. Im Gespräch mit ihm wurde Sommer klar, dass er einen hochintelligenten Menschen vor sich hatte, für den es nur zu einem Aushilfsjob gereicht hatte. Eine Berufsausbildung für Körperbehinderte gab es damals nicht. Sommer ließ die Sache nicht mehr los, er warb Gleichgesinnte für seinen Plan und gründete 1904 im sauerländischen Bigge mit der Josefsgesellschaft und dem Josefsheim das erste katholische Reha- und Ausbildungsangebot für Körperbehinderte.
Müttergenesung in den 1950er-JahrenArchiv Diözesan-Caritasverband Paderborn
Neben einer religiösen Motivation gab es auch das Gefühl, sich als Katholiken in diesem neuen und geeinten deutschen Staat "beweisen" zu müssen. Im preußischen Kulturkampf (1871-1878) waren Katholiken als rückständig und bildungsfern öffentlich diskreditiert worden. Während die staatstreue evangelische Kirche im diakonischen Bereich "vorpreschte", stand man im katholischen Bereich vielfach mit leeren Händen da. Auch die Josefsgesellschaft oder der Verein für Katholische Arbeiterkolonien in Westfalen beziehen sich bei ihrer Gründung u. a. auf bereits bestehende evangelische Einrichtungen. Da mussten eigene Angebote für die notleidenden katholischen Glaubensbrüder und -schwestern her!
Das streng konfessionelle Denken erklärt sich aus dem uns heute fremd erscheinenden geschlossenen katholischen Milieu. Die Kirche bot ihren Mitgliedern alles: Kindererziehung, Schulen, Bibliotheken, Angebote zur Berufsausbildung, Freizeitgestaltung, Heiratsvermittlung, Tageszeitungen etc. Selbst die Stellenvermittlung für "Mädchen vom Lande" funktionierte dank des Kath. Mädchenschutzvereins (heute IN VIA) in einem geschlossenen System: Vom Beratungsgespräch im Heimatdorf bis zum Wohnheim in der Großstadt bewegte man sich nur auf "katholischem Boden". Das dahinterstehende Menschenbild hatte stets die ewige Bestimmung im Blick. "Zweck der Caritas und Jugendpflege ist, durch selbstlose Mitarbeit am Erlösungswerke des Heilandes die Seelen der Gefährdeten (…) vor dem Untergang zu bewahren", heißt es 1926 in den Statuten der Schwestern vom göttlichen Kinderfreund (heute Schwestern zum Zeugnis der Liebe Christi) aus Hattingen-Bredenscheid.
Längst vergessene Arbeitsfelder
Weltfremd war die caritative Arbeit dennoch nicht. Dafür sorgten schon die Katastrophen wie Erster Weltkrieg oder Verelendung breiter Schichten in der Weimarer Republik durch Inflation und Weltwirtschaftskrise. Staunend stehen wir vor längst vergessenen Arbeitsfeldern wie der Wandererfürsorge. Damit waren die differenzierten Hilfen für umherziehende Arbeitslose gemeint. Das System umfasste neben den großen Arbeiterkolonien auch Wanderarbeitsstätten, in denen die Betroffenen Unterkunft, Verpflegung und bescheidene Arbeitsmöglichkeiten erhielten.
Der heutige bundesdeutsche Sozialstaat lässt die damalige institutionelle Caritas fremd und gleichzeitig faszinierend erscheinen. Transformationsprozesse in Kirche und Gesellschaft haben seit den 60er-Jahren ein Übriges getan, diese Zeit deutlich entfernt erscheinen zu lassen. Geblieben sind faszinierende Geschichten von "Caritätern", von denen man sich wünscht, dass sie noch möglichst lange erzählt werden.