Inklusion ja, aber ...!
Zu einem legendären Fun-Sport-Event haben sich die integrativen Drachenbootrennen auf dem Essener Baldeneysee entwickelt. 24 Teams starteten im letzten Sommer, die Mannschaften in den Booten bestehen je zur Hälfte aus Menschen mit und ohne Behinderung. Hier jubeln die Sieger vom D’OES-Paddel-Team.DJK Franz-Sales-Haus
Gelungene Inklusion ist nach Aussage von Aktion Mensch: wenn jeder Mensch - mit oder ohne Behinderung - überall dabei sein kann, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Wohnviertel, in der Freizeit. Dazu gilt aber auch die UN-Rechtskonvention, die immer wieder das Wunsch- und Wahlrecht hervorhebt.
Kinder mit Behinderungen und Eltern wollen entscheiden, auf welche Schule sie gehen. Sosehr ein inklusives Schulsystem zu begrüßen ist, es muss aber auch weiterhin Förderschulen geben.
Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen wollen entscheiden können, wo sie wohnen. Und da kann ein zeitgemäßes stationäres Wohnheim z. B. mit 24 Einzelzimmern oder eine kleine Wohngemeinschaft auch in Zeiten der Inklusion der richtige Lebensort sein. Leider haben Menschen mit Behinderungen manchmal diese Wahlmöglichkeiten nicht, wenn z. B. wie im Hochsauerlandkreis (Brilon, Meschede und Sundern) nicht genügend stationäre Wohnheimplätze zur Verfügung stehen. Eltern, die sich nicht mehr in der Lage sehen, ihr "Kind" im eigenen Haushalt zu begleiten, müssen dann in andere, entfernte Regionen ausweichen.
Die Umsetzung der Forderung "ambulant vor stationär" hat sicher für viele Menschen mit Behinderungen mehr Autonomie und eine Steigerung der Lebensqualität mit sich gebracht. Aber es gibt auch eine Schattenseite dieser gelungenen Inklusion. Am besten kommt dies in einem offenen Brief einer Bewohnerin eines Wohnheimes aus dem Kreis Warendorf zum Ausdruck: "Seitdem es Inklusion gibt, hat sich vieles für mich zum Negativen verändert. Bei jedem Bewohner wird geguckt, wie fit er ist und ob er eventuell in einer Außenwohngruppe wohnen kann. … Früher haben wir zusammen Spiele gemacht, Fernsehen geguckt. Wenn wir spazieren gingen, haben Bewohner die Rollstühle geschoben. In meiner Gruppe ist kaum noch einer, der sprechen kann bzw. versteht, was ich aufschreibe. Für mich ist Inklusion eine Aussortierung, wobei ich auf der Strecke bleibe."
Die allermeisten Menschen wollen sich durch ihre Arbeit ihr persönliches Leben finanzieren. Dies gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Wenn dies auf dem ersten Arbeitsmarkt gelingt, ist dies gelebte Inklusion und unbedingt zu begrüßen. Aber auch schwerstmehrfachbehinderte Menschen wollen arbeiten, und diese Teilhabe am Arbeitsleben ist am besten in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) möglich.
Rund 2100 Mitglieder treiben regelmäßig Sport im Sportzentrum Ruhr. Ein Drittel der Vereinsmitglieder haben eine Behinderung. Inklusion gelingt, wenn nicht nur der Leistungsgedanke zählt.Franz-Sales-Haus, Essen
Vielleicht ist die Umgestaltung zur inklusiven Gesellschaft in Deutschland mit dem Prozess der Wiedervereinigung zu vergleichen. Diese hat sehr viele Anstrengungen gebraucht, aber auch sehr viel Geld gekostet. Und so ist das auch bei der Inklusion! Die geforderte Kostenneutralität bedeutet die "Quadratur des Kreises".
Wir brauchen noch mehr politischen Willen, um eine inklusive Gesellschaft zu entwickeln. Mit dem in Vorbereitung befindlichen Bundesteilhabegesetz will sich der Bund finanziell zur Entlastung der Kommunen an den Kosten beteiligen. Für die Menschen mit schwersten Behinderungen ist dabei wichtig: "Die Finanzierungsbeteiligung des Bundes muss dazu dienen, zur tatsächlichen Verbesserung der Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen beizutragen und die dafür notwendigen Unterstützungssysteme gut auszustatten" (Johannes Magin, Vorsitzender des CBP, Presseerklärung vom 03.12.2014).
Konkret heißt das z. B.:
- Wir brauchen mehr Bereitschaft der Kostenträger, notwendige Fachleistungsstunden für ambulant betreute Menschen zu bewilligen, anstatt zu kürzen. Um das Wunsch- und Wahlrecht zu ermöglichen, muss der Mehrkostenvorbehalt für ambulant betreutes Wohnen wegfallen.
- Wir brauchen für die inklusiven "Regelschulen" ausreichend gut ausgebildete Lehrer, damit Unterricht auch mal mit zwei Lehrern stattfinden kann und eine angemessene sachliche Ausstattung vorgehalten wird.
- Wir brauchen mehr gut ausgebildetes und zufriedenes Personal in Wohnheimen. Es kann nicht sein, dass Mitarbeiter immer mehr Zeit für die Dokumentation aufwenden müssen, die ihnen dann für ihre eigentlichen Aufgaben fehlt. Es kann nicht sein, dass ein sehr gut ausgebildeter 40-jähriger Heilerziehungspfleger mit seinem Gehalt seine Familie nicht auskömmlich versorgen kann. Auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe gibt es immer mehr Mitarbeiter, die überlastet sind. Dauererkrankte können aber nicht immer angemessen ersetzt werden. Und damit fehlen Mitarbeiter, die dafür sorgen, dass auch für schwerstmehrfachbehinderte Menschen Teilhabe möglich ist. Es kann nicht sein, dass ein Bewohner per Inserat eine Person sucht, die ihn einmal in der Woche in ein öffentliches Schwimmbad begleitet, weil keiner von den Wohnheimmitarbeitern dafür Zeit hat. Es kann nicht sein, dass ein Mann ohne Schuhe zur Werkstatt kommt - und keiner hat das im Wohnheim gemerkt.
Es darf nicht sein, dass ein Mensch mit schwerer Behinderung ohne Begleitung einer vertrauen Person in einem Krankenhaus behandelt wird. Sicher könnte das auch eine ehrenamtliche Person des "Sozialraumes" leisten. Aber diesen Sozialraum aufzubauen ist vor allem Aufgabe der Politik und nicht der Einrichtungen, die dies mit ihren Mitarbeitern oder durch Ehrenamtskoordinatoren leisten sollen.
Inklusion darf nicht verordnet, sondern muss von allen gewollt und mitgetragen werden.