Welten weit weg
Kinderärzte und -pflegerinnen brauchen Erfahrung und viel Einfühlungsvermögen.Ingeborg F. Lehmann
Keine Arbeit und damit kein Geld und wegen mangelnder Bildung häufig auch keine Perspektive zu haben sind Ursachen. Hier "leben die Kinder weit weg von der Musterfamilie", sagt Paulussen. Erwachsene und Kinder hocken in engen Wohnungen aufeinander, können sich nicht durch eine Urlaubsreise eine Auszeit gönnen oder zur Entlastung eine Putzhilfe beschäftigen. Der Stress untereinander löst manchmal Gewalt aus, die Überforderung dieses Alltags führt zu Vernachlässigung.
Die Kinderklinik startet die Suche nach der Lösung von der medizinischen Seite. Paulussen und seinem Team ist allerdings klar, dass viele Akteure nötig sind, um nach der medizinischen Klärung und Behandlung weiteren Vorfällen vorzubeugen. Das ist das Ziel eines Zentrums für Kinderschutz, das in Datteln, gespeist aus den Erfahrungen der Kinderschutzambulanz, entstehen soll. Aber erst einmal müssen die Fälle erkannt werden, in denen es nicht tatsächlich der klassische "Treppensturz" war. Misshandlung nachzuweisen ist gar nicht so einfach und braucht viel Erfahrung und Sensibilität. In der medizinischen Ausbildung gibt es dazu bisher wenig Anleitung, und in der normalen Notfall-Ambulanz bleibt wenig Zeit, genau hinzuschauen. Zu häufig werden deshalb misshandelte Kinder mancherorts nach Behandlung der Symptome wieder nach Hause geschickt, weiß Paulussen. Er will deshalb dieses Thema verstärkt in die Ausbildung der Mediziner und Pflegemitarbeiter einbringen.
In Datteln bietet in der Klinik die AG Kinderschutz ihre Unterstützung an. Die Spezialisten helfen ihren Kollegen beispielsweise beim Fotografieren blauer Flecken, damit die Fotos gegebenenfalls gerichtsfest sind. Sie weisen darauf hin, dass Krampfanfälle möglicherweise durch ein Schütteltrauma ausgelöst sind und ein Kernspin notwendig ist, "um noch zu retten, was zu retten ist", erklärt Paulussen.
Innerhalb von 24 Stunden legt die Helferkonferenz das weitere Vorgehen fest, wenn ein Verdacht sich erhärtet. In den seltensten Fällen würden sich die Eltern weigern, ihr Kind über Nacht in der Klinik zu lassen. "Viele kommen, weil etwas schiefläuft", sagt der Mediziner: "Sie suchen Hilfe - und manche sind sogar erleichtert." Manchmal sei es auch nur Unwissenheit wie im Fall der 19-jährigen Mutter, der nicht bewusst war, dass sie ihr Kind nicht allein auf dem Wickeltisch liegen lassen kann, um eben eine Zigarette draußen zu rauchen. Die Idee für das Zentrum für Kinderschutz, für das es in Nordrhein-Westfalen bislang nur eine Parallele in Bonn gibt, hat Paulussen aus der Schweiz mitgebracht. Eine medizinische Kinderschutzambulanz ist dort an jeder Klinik Vorschrift.
Wir wollen uns erst einmal medizinisch um die Kinder kümmern", erklärt Paulussen. Darüber hinaus soll in der Region ein Netzwerk geknüpft werden, um soziale Hilfen für die betroffenen Kinder und ihre Familien zu organisieren. Und vor allem auch alle Beteiligten dafür zu sensibilisieren, genau hinzuschauen. Denn die Dunkelziffer ist groß: "Nach Schätzungen werden gerade einmal zehn Prozent der betroffenen Kinder in der Klinik vorgestellt", sagt Paulussen.
Trotz der guten Ideen fehlt es an der Finanzierung. Zwar wird die medizinische Behandlung von den Krankenkassen bezahlt. Aber nicht die vielen Stunden danach, wenn der Verdacht auf Gewalt oder Vernachlässigung besteht und geklärt werden muss. Tanja Brüning hat sich zur Hälfte aus dem Klinikalltag herausgezogen für die medizinische Kinderschutzambulanz. Dieser Teil muss ebenso aus Spenden finanziert werden wie spezielle Gerätschaften. Um Mädchen möglichst schonend gynäkologisch untersuchen zu können, gibt es ein spezielles Gerät. "Allein das kostet 10 000 Euro", sagt Paulussen.