Mehr Menschlichkeit ins System
Barbara Steffens, Dr. Christof Beckmann und Markus Lahrmann (v. l.) Serap Celen
Caritas in NRW: Sie sind seit etwas mehr als
1 ¼ Jahren im Amt. Wie fühlt man sich denn als Ministerin?
Barbara Steffens: Dadurch, dass ich den Themenbereich zehn Jahre als Abgeordnete intensiv bearbeitet habe, bin ich nicht mehr in der Rolle, nur Ideen zu haben. Ich werde gehört und kann auf Landesebene Schritte umsetzen. Jeder Schritt, der das Gesundheitssystem und das Pflegesystem menschlicher macht, macht mir Spaß. Es verändert sich etwas und man kommt dem eigenen Idealbild vom Miteinander in der Gesellschaft ein Stückchen näher. Das ist schöner, als in der Opposition zu sitzen und nur Anträge zu schreiben.
Caritas in NRW: Haben Sie sich im Amt schon mit Interessengruppen angelegt? Sie sind ja durchaus eine streitbare Frau.
Barbara Steffens: Ja, ich bin eine streitbare Frau, keine Frage. Aber ich bin jemand, der Sachfragen sehr gerne diskutiert, um die bestmöglichen Lösungen zu finden. Das wissen die Menschen. Ich treffe keine Entscheidungen über die Köpfe hinweg, sondern werbe für den bestmöglichen Weg in der Sache. Ich vertrete meine Überzeugungen mit Leidenschaft, ändere aber auch meine Position, wenn mich jemand fachlich und sachlich überzeugt.
Caritas in NRW: Mit wem haben Sie sich bisher am meisten gestritten?
Barbara Steffens: Im Gesundheitsbereich gibt es den Streit um einen konsequenten Nichtraucherschutz. Ich stehe auf der Seite derjenigen, die vor Passivrauch geschützt werden müssen. Viele sagen, "das ist Quatsch, das ist Blödsinn, wir wollen rauchen und zwar überall, das hat etwas mit Selbstbestimmung zu tun". Da bin ich sehr streitbar, weil es einen Unterschied gibt zwischen dem Recht auf Selbstgefährdung und der Gesundheitsgefährdung anderer gegen ihren Willen durch Tabakqualm. Ein vergleichbares Beispiel: Niemand darf in der Kneipe seinen Schnaps nehmen und mir in den Kaffee schütten. Aber jeder darf mir seinen Qualm in die Nase blasen? Das kann nicht sein! Hier liegt die Grenze zwischen Selbstbestimmung und Fremdgefährdung. Da lege ich mich dann mit denjenigen an, die überall völlig egoistisch glauben, auch andere Menschen gefährden zu dürfen.
Caritas in NRW: Die Caritas führt 2012 eine Kampagne zum Thema "Armut und Gesundheit" durch. Armut macht krank. Warum ist das so?
Barbara Steffens: Es gibt zwei Zusammenhänge: Wer krank ist, wird schneller arm. Und wer arm ist, wird schneller krank. Viele Menschen fallen aufgrund von Krankheit aus dem Berufsleben heraus. Da ist die Krankheit oft die Ursache für ein Abgleiten in Armut. Niemand soll aber aufgrund einer Krankheit aus dem Erwerbsleben, aus dem System ausgeschlossen werden. Leider passiert das aber nach wie vor gerade bei Menschen mit psychischen Erkrankungen sehr häufig.
Die zweite Ebene: Armut macht schneller krank. Das kann einen Teufelskreis bilden. Wer Geld zur Verfügung hat, lebt meist gesünder. Das fängt beim Wohnraum an. Wer arm ist und vom Hart-IV-Regelsatz lebt, bekommt natürlich nicht die Wohnung, die optimal ist, sondern eher eine in einem belasteten Stadtteil mit höherem Schadstoffgehalt oder eine Wohnung mit schlechterem Raumklima. Da gibt es Wohnungen mit Schimmel oder welche in einem sehr lauten Wohnumfeld, was im Alltag natürlich zu hohen Belastungen führt. Wenn Kindern die Möglichkeiten fehlen, sich an der frischen Luft gut zu bewegen, weil sie mitten in der Stadt an Hauptverkehrsstraßen leben, dann macht das Wohnumfeld schneller krank.
Barbara SteffensMarkus Lahrmann
Wir wissen aber auch, dass Bildung entscheidend ist für eine gesunde Ernährung und eine gesunde Lebensführung. Wer nicht weiß, was Inhaltsstoffe und Zusammensetzung in Fertigprodukten sind, dem ist es kaum möglich, sich gesund zu ernähren. Selbst wer sich bemüht und dann auf die klassischen Werbetricks reinfällt, tut seinem Kind keinen Gefallen. Denn viele Kinderprodukte sind extrem stark gesüßt oder enthalten Zusatzstoffe, die nicht unbedingt gesund sind. Unwissenheit führt oft zu Fehl-, oder zu Mangelernährung. Mit einer anderen Gesundheitsbildung könnte man hier viel verändern.
Hinzu kommt: Wer wenig Geld zur Verfügung hat, muss genau abwägen, was er sich davon leisten kann. Ich kenne viele Alleinerziehende, die Geld von ihrem eigenen Hartz-IV-Regelsatz für ihre Kinder abzweigen. Die Kinder sollen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Der Regelsatz reicht vorne und hinten nicht, wenn man will, dass das Kind auch ein Fahrrad hat, wenn es das für die Fahrprüfung in der Schule braucht. Wenn man will, dass das Kind seinen Geburtstag feiern kann, selbst mit einem Geschenk zu einem anderen Kindergeburtstag gehen kann, dass es mit ins Schwimmbad gehen kann und nicht immer mit dem Stigma auf der Stirn rumläuft "ich bin arm". Dann aber fehlt zum Beispiel für die Mütter das Geld, um sich selbst notwendige Medikamente zu kaufen, um vielleicht der Chronifizierung einer Krankheit vorzubeugen.
Caritas in NRW: Unser Gesundheitssystem in Deutschland ist solidarisch aufgebaut. Darüber besteht - anders zum Beispiel als in den USA - auch weitgehend Konsens. Das bedeutet eigentlich, jeder hat ein Recht auf Gesundheit. Trotzdem gehen die Leistungen der Krankenkassen zurück und die Zuzahlungen steigen.
Barbara Steffens: Solidarität ist im Gesundheitswesen in sehr engen Grenzen zu verstehen. Gesundheit ist ja nicht nur die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit betrifft den Allgemeinzustand, meint das wirkliche Wohlbefinden des Menschen. Dazu gehört weit mehr als nur die Verschreibung von Medikamenten oder die medizinische Versorgung.
Natürlich sind die Zuzahlungen ein Problem, weil wir eine Reihe von notwendigen gesundheitlichen Maßnahmen eigenverantwortlich selbst bezahlen müssen. Klassisches Beispiel sind die Schnupfenmittel in der Winterzeit. Wenn man das notwendige Geld hat, kauft man naturheilkundliche Produkte oder Heilmittel für Dampfbäder oder die entsprechenden Tees. Wem das notwendige Wissen und das Geld fehlen, der läuft Gefahr, dass der Schnupfen chronisch wird, dass er sich weiterentwickelt zur Lungenentzündung.
Das kann man für viele andere Krankheitsbilder auch durchgehen. Wenn die Mutter am Ende des Monats abwägen muss, kaufe ich das Frühstück für mein Kind oder einen Bronchialbalsam für mich, dann entscheidet sich die Mutter, dass das Kind satt wird. Mir berichten Ärzte und Ärztinnen, dass Patienten aus finanziellen Gründen um ein verschreibungspflichtiges Antibiotikum betteln, was medizinisch völlig unangebracht wäre. Unser Gesundheitssystem lässt den Ärzten zu wenig Spielraum, etwas zu verschreiben, um Schlimmeres zu verhindern. Obwohl sie mit ihrer Kompetenz eine Chronifizierung verhindern könnten. Das führt oft dazu, dass Folgekosten für die Kassen teurer kommen.
Barbara SteffensMarkus Lahrmann
Caritas in NRW: Wie könnte man das Problem angehen? Die Kassen werden sich wehren gegen mehr Freiheiten für Ärzte, weil sie höhere Kosten befürchten.
Barbara Steffens: Ja natürlich, weil die Kassen an dieser Stelle sehr kurzsichtig denken. Vielleicht könnte eine Öffnungsklausel funktionieren, oder die Kassen machen mal einen Modellversuch, um das auszuprobieren. Das ist allerdings Bundeskompetenz. Auf Landesebene haben wir an solchen Stellen keinen Spielraum. In der ambulanten Versorgung haben wir überhaupt nichts mitzuentscheiden. Ich kann nur den Finger in die Wunde legen.
Caritas in NRW: Solche Systemfehler gibt es auch bei Mutter-Kind-Kuren, hier steigt die Zahl der abgelehnten Anträge wieder.
Barbara Steffens: Unser Gesundheitssystem denkt immer in einzelnen Säulen. Dann verschieben die Verantwortlichen Kosten zur anderen Säule - immer zu Lasten der Menschen. Es wird zu wenig betrachtet, was gesamtgesellschaftlich kostengünstiger ist. Manches, was in der Krankenversicherung bezahlt werden könnte, aber abgelehnt wird, produziert später massive Kosten in der Pflegeversicherung. Für die Versicherungsnehmer ist das teuer.
Caritas in NRW: Hightech-Medizin im Krankenhaus nutzt letztendlich nur, wenn die Menschen auch im Alltag stabilisiert werden?
Barbara Steffens: Genau. Wenn ein älterer Mensch, dessen Pflege zuhause rundum organisiert ist, im Krankenhaus nicht entsprechend betreut wird, kann es schnell passieren, dass er verwirrt ist. Wir kennen das als Übergangssyndrom. Wenn sich am Anfang jemand gekümmert hätte und gefragt hätte, "Frau Maier, womit kann ich ihnen helfen", wäre dieser Zustand der Patientin erspart geblieben. Oder der ambulant behandelnde Arzt hätte gesagt, "bei ihren Symptomen können wir auch eine bessere Therapie oder eine höhere Betreuungsdichte zu Hause verordnen". Das würde Folgekosten, womöglich Unterbringung in einer stationären Einrichtung mit einer höheren Pflegestufe ersparen. Aber solch kurzfristig notwendige menschliche Zuwendung zahlt das System am Anfang nicht.
Deswegen glaube ich, dass wir im Gesundheitssektor nach jahrelangen Diskussionen über Hightech-Medizin, über den Einsatz von IT und anderen Bereichen an einem Punkt sind, wo wir vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung über Menschlichkeit im System reden müssen. Diese spannende Diskussion wird auch die Themen Armut und Krankheit sowie Alter und Krankheit beinhalten.
Caritas in NRW: Welche Vorhaben möchte die Gesundheitsministerin Barbara Steffens umsetzen?
Barbara Steffens: Wir brauchen auf Länderebene mehr Kompetenzen, um mit dem ambulanten Bereich die gesundheitliche Versorgung besser planen zu können. Das werden wir mit dem Versorgungsstrukturgesetz nicht bekommen, weil diese Bundesregierung nicht den Mut dazu hat, wirklich an der Versorgung vor Ort zu arbeiten. Da geht’s um ideologische Fragen und den Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern. Das ist sehr bedauerlich, aber wir kämpfen weiter dafür, weil ich glaube, dass man nur orientiert an den Bedürfnissen vor Ort die beste Gesundheitsversorgung hinkriegt. "Was brauchen die Menschen" und "wer macht das am besten" - das sind die entscheidenden Fragen.
In der Krankenhausplanung auf Landesebene stellen wir diese Fragen neu. Die Krankenhäuser müssen uns sagen, wo Grenzen des Finanzierungssystems und die Rahmenbedingungen sie hindern, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Unser Ministerium sammelt positive Beispiele aus den Krankenhäusern. Menschlichkeit im Gesundheitssystem darf nicht davon abhängen, ob jemand Glück hat, weil er in einem guten Krankenhaus eines guten Trägers ist. Das System muss einen Wandel hinbekommen und den Blick auf den Menschen richten von der Aufnahme bis zur Überleitung beim Entlassen.
Barbara SteffensMarkus Lahrmann
Caritas in NRW: Also ein Ende der Sparpolitik bei den Krankenhäusern?
Barbara Steffens: Wir weg müssen von Denken, wie noch mehr Geld aus dem Krankenhaussektor rauszupressen ist. Man muss überlegen, was ist für den Menschen gut und danach schauen, ob das nicht vielleicht sogar spart. Ich habe immer ein klassisches Beispiel aus dem Franziskus-Hospital in Münster: Das hat am Modellprojekt des Bundes teilgenommen, mit dem Ziel, bei älteren Menschen das sogenannte perioperative Delirium zu vermindern. Es handelt sich dabei um einen Demenzzustand rund um einen Krankenhausaufenthalt, der manchmal nicht mehr reversibel ist. Das Krankenhaus hat in diesen Fällen die Narkosemittel runtergefahren, mehr menschliche Betreuung organisiert und riesige Erfolge verzeichnet. Viel mehr Menschen haben ihre Aktionsfähigkeit, ihre Selbstständigkeit, ihre Selbstbestimmungsmöglichkeiten behalten, einfach weil das Krankenhaus mit menschlicher Zuwendung und Reduzierung von Narkosemitteln, Reduzierung von Schmerz- und Schlafmitteln eingesetzt hat. Das rechnet sich, letztendlich auch für das Krankenhaus, weil die Menschen schneller entlassen werden können und schneller mit Reha-Angeboten wieder in die eigene Häuslichkeit zurückkehren. Es rechnet sich unterm Strich auch für uns als Beitragszahler und Beitragszahlerinnen, weil die Pflegeversicherung nicht zahlen muss.
Caritas in NRW: Die Caritas beobachtet mit Sorge im Bereich der ärztlichen Versorgung, dass sich in sozialen Brennpunkten Schwierigkeiten abzeichnen. Kinderärzte finden keine Nachfolger, wenn sie die Praxis aufgeben oder pensioniert werden.
Barbara Steffens: Das gibt es flächendeckend. Der einzige Ausweg ist für mich die Bürgerversicherung. Solange wir ein Finanzierungssystem haben, wo ein Arzt, der ausschließlich gesetzlich Krankenversicherte hat, davon keine Praxis lukrativ aufrecht erhalten kann, ist das System nicht leistungsfähig genug. Unser Solidarsystem ist von einer funktionierenden Mischkalkulation abhängig, die in armen Stadtteilen nicht mehr durchzuhalten ist. Ich möchte ein Versicherungssystem haben, wo alle Bürger einzahlen und wir innerhalb des einen Systems solidarisch umverteilen, m die flächendeckende Versorgung zu gewährleisten.
Caritas in NRW: Bürgerversicherung bedeutet Einbeziehung von Einkommen aus Vermögen, Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten?
Barbara Steffens: Genau. Eine Versicherungsart für alle. Natürlich kann es mehrere Anbieter geben, um über den Wettbewerb die Qualität zu sichern.
Caritas in NRW: Ärzte versuchen, ihr Einkommen aufzubessern durch "Individuelle Gesundheitsleistungen", kurz "IGeL". Diese bezahlen die Patienten, weil keine Kasse sie übernimmt. Das wissenschaftliche Institut der AOK schätzte für 2010 das Volumen dieser IGeL-Leistungen auf 1,5 Milliarden Euro das ist ein Anstieg von etwa 50 Prozent im Vergleich zu 2005. Ein enormer Anstieg. Welche Folgen hat das?
Barbara Steffens: Das ist gerade für arme Leute ein sehr schwieriges Thema. Manche Arztpraxen brauchen diese Mischkalkulation. Aber man muss aufpassen, wie offensiv dafür geworben wird. Wenn der Patient in die Praxis hineinkommt und als erstes erklärt bekommt, was jetzt alles an Augenuntersuchungen für ihn wichtig ist, damit er nicht auf der Stelle erblindet, ist das unredlich. Wenn er dann unterschreiben muss, dass er selbst abgelehnt hat, diese Untersuchung machen zu lassen und damit das individuelle Risiko trägt, dann ist das gerade für arme Leute ein Problem. Sie fühlen sich massiv unter Druck gesetzt. Sie können sich dem entweder nicht entziehen und zahlen oder sie haben Angst. Viele IGeL-Leistungen und das Werben dafür sind absolut grenzüberschreitend. Wenn die Patienten von sich aus danach fragen, ist es okay, aber aggressives und offensives Werben finde ich fatal.
Barbara Steffens, Dr. Christof Beckmann und Markus Lahrmann (v. l.)Serap Celen
Caritas in NRW: Zahnreinigung ist auch so ein Thema…
Barbara Steffens: Ich erlebe die Ärzteschaft als sehr unterschiedlich. Wir haben nach wie vor einen sehr großen Anteil an Ärzten, die den Heilberuf ernst nehmen. Und es gibt einen noch wesentlich wichtigeren Teil von Ärztinnen und Ärzten, die in Stadtteilen mit hohen Belastungen ohne große Gewinnspannen arbeiten, weil sie Ideallisten sind. Das System muss allerdings effizienter und menschlicher arbeiten, um die Solidarität zu stärken.
Caritas in NRW: Insofern ist die Caritas-Kampagne und die Werbung "Jeder verdient Gesundheit" für Sie eine hilfreiche Sache und Sie zählen darauf?
Barbara Steffens: Ja ich finde so eine Kampagne total gut und total klasse, weil sie den Solidargedanken betont. Es gibt sogar viele Beispiele, wie mehr Menschlichkeit, mehr Lebensqualität und weniger Kosten zusammengehen. Daher freue ich mich über so eine Kampagne, weil ich glaube, dass der Blick auf Menschen im System der ist, den wir jetzt brauchen.
Caritas in NRW: Vielen Dank für das Gespräch.