Prinzip Hoffnung
Fünf Tage lang quälten Eric L. höllische Schmerzen im Bein. Schon bei der kleinsten Belastung schwoll das durch eine Thrombose vorgeschädigte Bein an. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und suchte endlich einen Arzt auf. Und das auch nur, weil seine Mitbewohnerin sich große Sorgen machte und ihn zum Arztbesuch drängte. "Ich bin sonst eigentlich sehr schmerzresistent. Aber das ging gar nicht mehr, ich hatte akute Schmerzen", sagt der 37-Jährige. Rückblickend ist er froh, dass seine Mitbewohnerin so hartnäckig geblieben ist. "Hätte ich noch zwei Tage länger gewartet, hätten wir wohl einen Rettungswagen holen müssen", sagt Eric. Der Arzt, der Erics Bein schließlich behandelt, bestätigt ihm, dass er nur knapp an einer lebensbedrohlichen Infektion vorbeigeschrammt ist, die buchstäblich in letzter Sekunde noch abgewendet werden konnte.
Warum der Wahl-Kölner, der zehn Jahre lang bei einem bekannten Düsseldorfer Waschmittelherstellerauf Schicht gearbeitet hat, den Arztbesuch so lange hinausgezögert hat, lässt sich in zwei Worten erklären: aus Scham. "Mir war es einfach nur peinlich, aufgrund meiner eigenen Nachlässigkeit die medizinische Hilfe einer solchen Einrichtung, die vor allem von Spenden lebt, in Anspruch nehmen zu müssen", erklärt er verlegen. Hilfe für sein krankes Bein fand Erik nämlich bei der Malteser Migranten Medizin in Köln, auf die er im Internet stieß. Allein im letzten Jahr wurden dort 616 erwachsene Patienten ohne Krankenversicherung kostenlos behandelt, darunter mit steigender Tendenz auch Deutsche. Seit über einem Jahr ist Eric, der sich seit Verlust seines Jobs mit Schwarzarbeit mühsam über Wasser hält, aber bewusst keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen möchte, schon nicht mehr krankenversichert. Und damit teilt er das Schicksal von vielen Tausenden von Unversicherten, deren Zahl trotz gesetzlich vorgeschriebener Krankenversicherungspflicht, die hierzulande seit dem 1. April 2007 besteht, kontinuierlich steigt. Wie auch Eric vertrauen sie auf das Prinzip Hoffnung - darauf, möglichst gar nicht erst krank zu werden und keinen Arzt zu benötigen.
Schätzungen gehen von mindestens einem Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung aus, also rund 800 000 Versicherungslosen. "Aber die Dunkelziffer dürfte vermutlich noch weitaus höher liegen", bestätigt der pensionierte Familienarzt Dr. Uwe Denker, der in seiner "Praxis ohne Grenzen" im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg einmal wöchentlich Menschen ohne Krankenversicherung kostenlos behandelt. Seit die Praxis im Januar 2010 eröffnete, finden immer mehr Menschen aus der näheren oder auch weiteren Umgebung den Weg zu Dr. Denker und seinem ehrenamtlich arbeitenden Ärzteteam. "Ich befürchte, dass die Zahl der Patienten in den nächsten Jahren aufgrund der allgemein wachsenden Verschuldung und ansteigenden Zahl von Privatinsolvenzen noch dramatisch zunehmend wird", äußert sich Denker pessimistisch.
Wer allerdings glaubt, dass das Schicksal, nicht (mehr) ausreichend krankenversichert zu sein, nur obdachlose Drogenabhängige, Erwerbslose, Illegale oder Menschen mit Migrationshintergrund trifft, der irrt gewaltig. Immer häufiger fallen auch "Normalbürger" durchs soziale Netz und geraten in die Versicherungslosigkeit. "Unsere Klientel setzt sich weitgehend aus der sogenannten bürgerlichen Mittelschicht zusammen", erzählt der Mediziner. Erst neulich habe ihn ein Kollege aus Darmstadt angerufen, der ihm berichtete, dass unter seinen unversicherten Patienten zwei Rechtsanwälte und sogar ein Arzt seien. Die Gründe dafür, warum jemand nicht krankenversichert ist, können sehr unterschiedlich sein. In den meisten Fällen können die anfallenden oder gestiegenen Kassenbeiträge etwa für eine private Krankenkasse nicht mehr geleistet werden. Oder der Versicherungsschutz in einer gesetzlichen Krankenkasse erlischt. Letzteres trifft insbesondere auf Versicherte zu, die bislang über den Ehepartner mitversichert waren oder in sogenannten Bedarfsgemeinschaften leben. Verstirbt der Partner oder wird die Ehe geschieden, erlischt automatisch auch der Versicherungsschutz. Besonders gefährdet sind auch ehedem Privatversicherte, die im Alter die steigenden Prämien nicht mehr aufbringen können.
Zweimal in der Woche ist Sprechstunde bei der Malteser Migranten Medizin in Köln. Dr. Herbert Breker behandelt immer mehr „Normalbürger“ ohne Versicherungsschutz.Markus Vahle
Dr. Herbert Breker von der Malteser Migranten Medizin (MMM) in Köln nennt weitere gefährdete Personengruppen: "Kleine Gewerbetreibende und Selbstständige, Menschen in prekären Lebenssituationen, die den Kontakt zu Sozialämtern oder sozialen Einrichtungen aus Scham oder Furcht bewusst meiden. Studierende, die die maximale Altersgrenze überschritten haben und nicht mehr zum Basistarif für Studenten versichert werden können. Oder auch Menschen, die Berufen im ‚grauen Markt‘ nachgehen, etwa Prostituierte." Grundsätzlich gilt, dass sich die Aussichten, wieder in eine Krankenkasse aufgenommen zu werden, deutlich verschlechtern, je länger keine regulären Kassenbeiträge mehr gezahlt worden sind. Im schlimmsten Fall kann einem Antragsteller eine Mitgliedschaft sogar ganz verweigert werden, obgleich theoretisch jeder Bürger einen rechtlichen Anspruch auf eine Krankenversicherung hat. "Unser Krankenkassensystem ist ein Solidarkassensystem, das auf regelmäßigen Beiträgen aufbaut, und keine Sparkasse, in die man nur nach Lust und Laune einzahlt", zeigt Denker durchaus Verständnis für die teils rigide Versicherungspraxis mancher Kassen. Zudem ist eine Wiederaufnahme häufig an die Erstattung der aufgelaufenen Beitragsrückstände gekoppelt, die sich je nach Einzelfall auf bis zu mehrere Tausend Euro summieren können - für viele eine kaum zu nehmende Hürde. "Erst heute habe ich per Mail einen anonymen Hilferuf erhalten, wo eine Krankenkasse einem Versicherten mit dem Rausschmiss droht, falls dieser nicht bis Jahresende 6 000 Euro nachzahlt. So etwas treibt die Leute zunehmend in die Depression", weiß Denker aus vielen Patientengesprächen. Mit etwas Glück finde man jedoch eine Krankenkasse, die mit sich verhandeln lasse und sich kulant zeige.
Dass es das wachsende Problem der Versicherungslosen, die es nach dem Gesetz streng genommen eigentlich gar nicht mehr geben dürfte, überhaupt gibt, ist selbst unter niedergelassenen Medizinern nur wenig bekannt. "Diese Gruppe von Patienten bekommen die Fachärzte erst gar nicht zu Gesicht. Die werden häufig bereits am Tresen abgewimmelt und gar nicht erst bis ins Wartezimmer gelassen", weiß Denker.
Wenn der Initiator der "Praxis ohne Grenzen" auf Ärztekongressen über das sensible Thema spricht, erntet er unter seinen Kollegen meistens nur betretenes Schweigen. Seine Forderungen an die Politik hat der engagierte Mediziner inzwischen in einem Papier zusammengefasst. Darin fordert er unter anderem eine Mindestversicherung für alle Bundesbürger mit der Möglichkeit der privaten Höherversicherung und kostenlose Präventionsangebote für Mittellose und unversicherte Kinder. "Es kann doch nicht sein", empört sich Denker, "dass ein Endvierziger in unserem System keine Aussicht mehr hat, ordentlich versichert zu sein."
Weiterführende Informationen über die "Malteser Migranten Medizin" können Sie unter www.malteser-koeln.de und www.praxisohnegrenzen.de erhalten.