Lebensdienlich Zeit und Zuversicht schenken
Der Tod ist für viele Menschen ein Tabu. Für Marie-Luise Derix ist es bereits im Kindesalter gefallen. Denn eine Tante arbeitete als Ordensschwester in der Krankenpflege. Sie nahm ihre Nichte zu sterbenden Menschen mit. Diese Begegnungen hatten etwas Natürliches und machten Marie-Luise Derix deutlich: Das Sterben gehört zum Leben.
Diesen Gedanken klammern viele Menschen aus, beobachtet die lebenserfahrene Frau, die in Korschenbroich lebt. Das sieht sie sowohl bei denen, die lebensbedrohlich erkranken, als auch bei deren Angehörigen. Selbst wenn die Symptome und die Diagnosen eindeutig sind, wird die Tatsache verdrängt: dass hier ein Leben in die nächste und letzte Phase eintritt.
Neben der Aussicht, dass ein endgültiger Abschied näher rückt, ist es vor allem die Angst vor einem schmerz- und mühevollen Sterben, die Gedanken wegwischt und das Ansprechen erschwert. Dieses Vorurteil baut eine unnötige Barriere auf. Denn die Medizin ist heute so fortgeschritten, dass in der Regel niemand übermäßig leiden muss, weiß Marie-Luise Derix. Der Mehltau des Tabus verhindert, dass Menschen frühzeitig ihren Frieden mit der Situation machen und diese letzte Etappe als Lebenszeit begreifen, die sich mit Qualität gestalten lässt. Diese Einsicht steht vor dem Schritt, sich helfen, begleiten und stärken zu lassen, mit Alltagshilfen, ambulanter oder stationärer Pflege, mit Besuchen und Gesprächen.
Manchmal sind die Angehörigen weiter als die kranke Person, manchmal ist es umgekehrt. "Die Menschen haben eine unglaubliche Blockade", beschreibt es Marie-Luise Derix, "die glauben, wenn sie nichts sagen und nichts tun, passiert auch nichts." So verstreicht oft wertvolle Zeit, und die Kraft der Beteiligten schwindet, die Lage gut zu gestalten und die Dinge zu ordnen.
Im Alter von 66 Jahren, in dem viele eher an Ruhestand denken, startete Marie-Luise Derix noch mal durch. Sie arbeitet seitdem in der Altenpflege, und sie hat sich als Ehrenamtliche im Hospizdienst ausbilden lassen. "Ich möchte etwas aus meiner Zeit machen und der Gesellschaft etwas zurückgeben", sagt sie.
In beiden Arbeitsfeldern lernt Marie-Luise Derix Demut und Dankbarkeit für das eigene erfüllte Leben. Sowohl in der Altenhilfe als auch im Hospizdienst braucht es Einfühlungsvermögen, Verständnis und Ruhe, um den Menschen gerecht zu werden. "Man muss mit sich im Reinen sein, um diese Arbeit zu machen."
Die Ausbildung hat sehr gut auf die Aufgabe vorbereitet. Sie führt die, die sich engagieren möchten, an Grenzen, um sich selbst besser kennenzulernen, gerade in den Fragen von Leben und Tod, mit denen sie bei ihrem Einsatz konfrontiert werden. So kann man auch die Grenzen der Beteiligten besser sehen und achten, berichtet Marie-Luise Derix.
Der Rest ist persönlicher Natur. Vor allem muss die Chemie stimmen zwischen Besucherin und Besuchter oder Besuchtem, betont die Ehrenamtliche. Jeder neue Einsatz ist anders, denn jeder Mensch ist anders und sein Umfeld auch. Meist sind es die Angehörigen, die sich beim Hospizdienst melden, wenn eine lebensbedrohliche, nicht umkehrbare Erkrankung festgestellt wurde.
Es geht schlicht darum, da zu sein
Marie-Luise Derix geht ganz offen in die ersten Gespräche. Zum einen möchte sie sehen, was von der Diagnose von den Erkrankten und ihren Angehörigen angenommen wurde. Zum anderen gilt es, als Gesprächspartnerin das Vertrauen zu gewinnen. Im Zentrum steht für die Ehrenamtliche die besuchte Person, alles dreht sich um deren Themen und Anliegen.
Wenn es gut läuft, öffnen sich die sterbenskranken Menschen bei den Besuchen immer mehr. Etwas Erstaunliches und Lebensdienliches setzt ein: Sie sprechen mit Marie-Luise Derix über Dinge, über die sie sonst nicht sprechen. Oft betätigt sich die Ehrenamtliche so als Türöffnerin, die Angelegenheiten des Lebens zu ordnen.
Einmal in der Woche den Menschen Zeit zu schenken, erfüllt sie sehr. Alles, was sie an Kraft investiere, erhalte sie doppelt zurück, erzählt sie. Den Menschen eine Zuversicht zu geben, dass trotz des nahenden Todes alles gut sei, erlebt sie als sehr sinnvoll, zumal sie mit schönen Ritualen und Gesten ihren Beitrag dazu beisteuert.
Oft geht es schlicht darum, da zu sein. Manchmal braucht der Mensch, den sie besucht, nur eine Hand, die seine hält. Marie-Luise Derix achtet darauf, die Würde der oder des Besuchten in jeder Situation zu wahren. Oft schämen sich die Kranken für ihren Zustand und die Umstände, die damit verbunden sind. Die Ehrenamtliche versucht, ihnen diese Scham zu nehmen.
Wer mit ihr spricht, erlebt eine Frau, die ihre Erfahrung mit "Pack an!" verbindet. Sie weiß, was in Situationen des Altwerdens und Krankseins zu tun ist. Soweit gewünscht, bringt sie ihr Wissen und ihre Stärken ein. Auf Basis dieser Hilfsbereitschaft kann aus der Begleitung mehr entstehen, als der Hospizdienst vorsieht.
So hat es auch die Nichte von Ferdi Reinhold erlebt. Der fortgeschrittene Krebs setzte dem vitalen Korschenbroicher zunehmend zu. Einmal in der Woche besuchte ihn Marie-Luise Derix zu Hause. Das geliebte Ritual: Sie brachte Kuchen mit, mal bezahlte er, mal sie, und sie redeten über das bewegte, volle Leben des Mannes, über die Familie, über die Reisen.
Aus den Gesprächen erwuchs eine Freundschaft. Ferdi Reinhold vertraute seiner Besucherin Dinge an, die niemand anders so wusste. Und sie war ihm eine Gesprächspartnerin, die Themen ansprechen durfte, die ihm sein Stolz und seine Scham schwer machten. So ließen sich Hilfen organisieren, die nötig waren. Familiäre Dinge ordneten sich in guter Weise.
Für die Angehörigen, die Hunderte Kilometer entfernt leben, waren das Dasein, Mitdenken und Anbahnen ein wahrer Segen. "Frau Derix war für Ferdi und für uns Angehörige ein Engel", betont die Nichte, wissend, dass die Ehrenamtliche diese Würdigung beschämt. Aber so war es: "Wir hatten immer jemanden, der mit im Boot saß. Das hat uns sehr entlastet."
So konnte Ferdi Reinhold friedlich gehen. Und auch seine Angehörigen haben ihren Frieden machen können damit. Das führt die Nichte auf Marie-Luise Derix zurück: "Menschen wie sie sind ganz besonders. Ihre Menschenfreundlichkeit bereichert uns - als Gegenentwurf zur Selbstbezogenheit, die wir heute häufig wahrnehmen."