"Wenn wir es nicht machen, macht es keiner"
Als in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 eine verheerende Flutwelle aus dem Ahrtal die Kreisstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler erreichte, saß Thomas Pütz dort auf der Verkaufstheke seines Sanitätshauses, sah der schlammigen Brühe dabei zu, wie sie von dem Laden Besitz ergriff, und dachte über die Zukunft nach. Um sein Wohnhaus und seine Familie musste sich der vierfache Vater nicht sorgen, es liegt hochwassersicher am Hang. Aber drei seiner vier Ladenlokale standen unter Wasser; Pütz erlebte das dritte Hochwasser, das verheerendste bisher.
Es gibt manche, die hätten in seiner Situation aufgegeben oder sich nur um sich selbst gekümmert. Pütz machte das Gegenteil: Es muss schnell weitergehen, sagte er sich und baute nur drei Tage später mit seinem Geschäftspartner Marc Ulrich ehrenamtlich einen "Helfer-Shuttle" auf, der zur zentralen Infrastruktur für Menschen wurde, die spontan zum Helfen ins Ahrtal kamen. Mit dem von Pütz und Ulrich organisierten Pendelverkehr vom Industriegebiet Grafschaft-Ringen ins Ahrtal kamen zwischen Juli 2021 und Mai 2022 mindestens 125000 Helferinnen und Helfer auf die Baustellen der Flutbetroffenen und leisteten rund eine Million Arbeitsstunden.
Um ein solches Großprojekt in der Chaosphase nach einer Katastrophe aufzubauen, brauchte es erst einmal den Willen, sich gegen die Zerstörung und den Stillstand zu stemmen. Letzteres im wörtlichen Sinne: Thomas Pütz hatte in den ersten Tagen erlebt, dass eine Blechlawine aus Lkw, Treckern und Baggern die Straßen verstopfte und alle sich gegenseitig blockierten. Und er sah in den sozialen Medien, dass aus dem ganzen Bundesgebiet viele weitere Gruppen kommen wollten. Noch mehr Durcheinander drohte, wenn niemand diese Hilfswelle ordnen würde. Gleichzeitig habe es keine Anzeichen gegeben, dass sich die Kreisverwaltung oder der Krisenstab um das Problem kümmern würde. "Wenn wir das jetzt nicht machen, macht es keiner", hatte Pütz zu Marc Ulrich gesagt. Ihre Idee zum "Helfer-Shuttle" war geboren: Wer spontan zum Helfen kommt, dem wollten sie einen Hafen bieten und ihn per Shuttle zu Flutbetroffenen bringen, die helfende Hände gerade besonders dringend brauchten.
Facebook als wichtigste Plattform
Vor allem Facebook hatte sich schnell zur wichtigsten Plattform für alle etabliert, die auf eigene Faust nach der Flut helfen wollten. Täglich formierten sich neue Gruppen, die sich für Sachspendensammlungen oder Einsatzfahrten organisierten und Informationen über die Lage vor Ort austauschten. Sie suchten nach Vermissten oder posteten Fotos von Fundstücken, um nach deren Besitzern zu suchen, organisierten Futterspenden für Tiere, boten und suchten Unterkünfte für Flutbetroffene und vieles mehr. Netzgetrieben entwickelte sich so sehr schnell eine riesige Szene von Spontanhelfenden, die auf eigene Verantwortung Hilfsaktionen starteten, Schlamm schippten, Essens- und Sachspendenausgaben organisierten oder Trinkwasser verteilten. Organisieren mussten sich die Initiativen selbst, denn weder die professionellen Hilfsorganisationen noch die kommunale oder staatliche Verwaltung boten ihnen in der Krise Andockmöglichkeiten. Man hatte sie einfach nicht auf dem Schirm.
Superflache Hierarchien
Thomas Pütz und Marc Ulrich bauten den Helfer-Shuttle so professionell auf, wie sie es als Unternehmer gewohnt waren - und schossen eine Menge Geld vor, ohne zu wissen, ob die Kreisverwaltung es ihnen erstatten würde. Die ersten Pendelbusse fuhren sie selbst. Mit der Zeit bauten sie sich ein Organisationsteam auf, das ihnen zuarbeitete. "Am Anfang hatten wir um uns herum Bekannte, Freunde, Mitarbeiter unserer Firmen", erzählt Thomas Pütz. Dann boten sich ihnen Freiwillige auch als Disponentin, Logistiker, Telefonistin, Programmierer an. So entwickelte sich der Startplatz der Busse zu einem Helfer-Camp, das alle Bedürfnisse rund um den Einsatz erfüllte inklusive psychosozialer Nachversorgung, Gummistiefelverleih und Corona-Testzentrum. Nach dem Einsatz gab es warmes Essen im Großzelt und abends auch mal ein Bier, man konnte Zelte und Campingwagen aufstellen und übernachten. Ein "Helfer-Woodstock trotz Corona" sei es aber nicht gewesen, betont Pütz. "Ich habe dafür gesorgt, dass wir uns alle auch mal feiern. Aber um 21 Uhr war Nachtruhe."
Die Regeln im Helfer-Shuttle folgten modernen Managementmethoden: Sinn geben, Schwarmintelligenz zulassen, Fehler tolerieren, nicht zu perfekt sein wollen und möglichst offen kommunizieren. "Diejenigen, die wir für die Organisation rausgepickt haben, waren so hoch motiviert, dass sie grandiose Arbeit gemacht haben", lobt Thomas Pütz. "Die Hierarchie bei uns war superflach. Nach uns beiden kam eine Supervisor-Ebene, und das war es schon. Das beinhaltet ein großes Risiko. Da musst du dich auf viele Leute verlassen, obwohl du sie kaum kennst." Gerade diese Möglichkeit, selbst etwas in die Hand zu nehmen, hätte aber die Menschen besonders motiviert mitzuarbeiten.
Ein großer Teil der Anziehungskraft vieler Fluthilfeprojekte machte die Authentizität ihrer Initiatoren aus. Auch Pütz und Ulrich sind Sympathieträger. Als flutbetroffene Einheimische, die immer wieder optimistisch und fröhlich auf ihrem Facebook-Kanal für die Hilfe warben, genossen sie das Vertrauen und die Bewunderung der Ehrenamtlichen. Pütz glaubt nicht, dass ein von einer professionellen Hilfsorganisation aufgesetzter Helfer-Shuttle ebenfalls so gut funktioniert hätte. Der persönliche Bezug fehle - und die nötige organisatorische Flexibilität. Das sage er auch als Dozent beim Bundesamt für Katastrophenschutz immer wieder. Sinnvoll fände er es aber, wenn die Profis der Hilfsorganisationen den Laien für ihre Projekte die nötige Infrastruktur von Autos bis hin zu Zelten als "Baukasten" zur Verfügung stellen würden.
Wenn man ihn fragt, was die Menschen zur Hilfe angetrieben hat, antwortet Pütz spontan: "Bei 90 Prozent war es reine Nächstenliebe! Die ersten Helfer, die aus einem Impuls heraus da waren, wollten von der Seele weg Menschen beistehen." Es gab Langzeithelfer, die ihren ganzen Jahresurlaub im Helfer-Camp waren, weil sie der Einsatz so erfüllt habe.
Im Ahrtal werden heute für den Wiederaufbau Fachleute gebraucht, die einfachen Aufräumarbeiten sind erledigt. Ulrich und Pütz schlossen deshalb im Mai 2022 das Helfer-Camp und verlagerten ihr Engagement auf den "Spenden-Shuttle", der Wiederaufbauprojekte im Ahrtal finanziert. Es gebe inzwischen einige, die damit angefangen hätten, "unter dem Deckmantel der Ehrenamtlichkeit ordentlich Geld zu verdienen", kritisiert Thomas Pütz. Auch den Helfer-Shuttle hätte man "problemlos vergolden können, aber das haben wir beide ganz bewusst nicht gemacht". Sie wollten die Spontanhelfer nicht enttäuschen. "Die sind nicht gekommen, damit jemand anderes damit Geld verdient, sondern um Menschen zu helfen. Wir haben nur eine Plattform dafür zur Verfügung gestellt, weil wir selber betroffen sind. Und bei uns ist auch was kaputt. Da bist du mit einem ganz anderen Modus unterwegs."
Carmen Molitor
Freie Journalistin
www.helfer-shuttle.de
www.facebook.com/helfershuttle
www.youtube.com/watch?v=tXwW_UxRAI0
Stärken ausbauen, von anderen lernen
Um Notlagen schnell und effizient zu begegnen, ist es erforderlich, adaptierfähige Krisenablaufpläne zu entwickeln. Zur schnellen Spendenverwaltung macht es ebenfalls Sinn, "adaptierbare" Musterfinanzhilfeanträge zu entwickeln. Die Erfahrungen aus der Krisenbewältigung sollten gut ausgewertet werden und in die Entwicklung der Notfallpläne einfließen, ebenso in die Entwicklung der Hilfeanträge. Eine wichtige Erfahrung ist, das Notwendige zu regeln, aber nicht zu starr.
In der Fluthilfe haben wir gemerkt, dass sich viel im Tun ergibt. Man muss lernen, das aushalten zu können, zu müssen und vor allem zu dürfen. In jedem DiCV und auch in den Ortsverbänden sollten zwei bis max. drei Krisenkoordinatoren benannt sein, die sofort den Notfallplan abrufen können und einen Krisenstab mit den Ortsverbänden einberufen können. Ganz wichtig ist es für die Krisenkoordinatoren, auf einen teamübergreifenden Verwaltungsapparat aus den Sekretariaten und der Finanzbuchhaltung zurückgreifen zu können.
Zu schnellen Abläufen gehört auch, die entsprechende Technik vorzuhalten und die EDV zu nutzen: eigene E-Mail-Adressen (krisenkoordination@caritas-ac.de), E-Mails für Antragsabwicklungen, Erstellen von Datenbank, Abläufe im Team besprechen. Wir haben eine Datenbank "Biete Hilfe / Brauche Hilfe" entwickelt, auf die alle im Team zugreifen können.
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Die Auszahlung der Fluthilfegelder über uns als Spitzenverband hat sich sehr bewährt, bis hin zum Direktor waren wir immer sehr nah an den Themen, konnten mit den Fluthilfebüros schnell nachsteuern. Trotzdem wurden Gelder durch tägliche Zahlungsläufe schnell ausgezahlt. Auch bei der Spendenverwaltung war und ist die Zusammenarbeit zwischen Krisenkoordination, Verwaltung und Geschäftsleitung sehr eng, und Fragestellungen konnten aufgrund der verschieden Professionen schnell bearbeitet werden.
Roman Schlag