"Wenn man sich nirgendwo sicher fühlen kann …"
Caritas in NRW Pater Vyacheslav, wie sieht die psychische Verfassung der Menschen in der Ukraine nach den mehr als acht Monaten Krieg aus?
Pater Vyacheslav: Es ist ein natürlicher menschlicher Wunsch, zum normalen Leben zurückzukehren, aber die Dynamik des Krieges in der Ukraine erinnert uns ständig daran, dass man sich nirgendwo in der Ukraine in der Sicherheit fühlen kann. Darüber hinaus sind die im Sozialdienst beschäftigten Personen gezwungen, nicht nur auf die Bedürfnisse der vom Krieg betroffenen Menschen einzugehen, sondern sie sind selbst auch auf die eine oder andere Weise vom Krieg betroffen. Nun ist es schwierig, die Folgen, die der Krieg im Leben eines einzelnen Menschen verursacht hat, in vollem Umfang zu beurteilen, da die Übersättigung mit Adrenalin und die Schockreaktion oft dazu führen, dass man sich für längere Zeit in der Illusion von Sicherheit und Produktivität befindet.
Caritas in NRW: Haben die Menschen selbst Strategien entwickelt, um mit dieser extremen Situation umzugehen?
Pater Vyacheslav: Oft sehen wir die Kreativität der Menschen in bestimmten Situationen, in denen sie sich befanden. Zum Beispiel in Kharkiv, wenn die Menschen sich vor den Bombenangriffen in den U-Bahn-Stationen versteckten. Sie haben in den U-Bahn-Stationen Schutzräume organisiert, ein System für die medizinische Versorgung, eine Küche, einen Kinosaal, ein Klassenzimmer zum Lernen eingerichtet und gingen in dringenden Fällen durch die Tunnel, um die Verletzten zu evakuieren und humanitäre Hilfe zu holen. Kreativität, Solidarität und Zusammenarbeit während des Krieges sind sehr beeindruckend.
Caritas in NRW: Welche Rolle spielt die Hilfe der Caritas für die psychische Gesundheit der Menschen?
Pater Vyacheslav: Das Ziel der Tätigkeit von Caritas besteht nicht nur darin, den Menschen die notwendige soziale Unterstützung zu geben, sondern auch den inneren Raum des Herzens öffnen zu helfen, damit sie in der Zukunft einen Weg aus der Krisensituation finden können. Zu diesem Zweck nutzen wir alle möglichen Ressourcen, von der psychologischen Unterstützung durch qualifizierte Fachleute bis hin zu Priestern, die den spirituellen Raum einer Person entwickeln. Es ist sehr erfreulich, wenn der Begünstigte fragt, wie er unser Freiwilliger werden kann, denn es zeigt, dass die Arbeit Früchte bringt.
Caritas in NRW: Was kann der christliche Glaube für die psychische Gesundheit bewirken?
Pater Vyacheslav: Psychologie und Glaube sind im Menschen sehr eng miteinander verbunden. Die Entwicklung des Glaubens ist eine Investition in Werte, die schließlich im menschlichen Leben Früchte tragen. Der Glaube ist eines der Elemente, die es ermöglichen, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Ich bin davon überzeugt, dass der Glaube ein Geschenk des Herrn ist und dass der Herr sich in einer Krisensituation, einem Krieg, besonders um seine leidenden Kinder kümmert.
Caritas in NRW: Welche Hilfen wären für die Menschen besonders wichtig, um diese psychische Ausnahmesituation zu bewältigen?
Pater Vyacheslav: Eine der Herausforderungen, vor denen wohltätige und religiöse Organisationen heute stehen, sind die Unterstützung von Familien und die Arbeit an ihrer Wiedervereinigung. Schließlich sind viele Familien zwangsgetrennt, der Mann kämpft im Krieg, die Frau ist mit dem Kind zu Hause geblieben oder geflüchtet ... Was sollten wir tun, um die Familie wiederzuvereinigen? Das ist eine Herausforderung, aber ich bin überzeugt, dass wir dank der Unterstützung unserer Partner in der Lage sind, die psychologischen und spirituellen Fähigkeiten miteinander zu verbinden, und barmherzige Samariter auf dem Weg aus dem Krieg sein können.
Die Fragen stellte Jürgen Sauer.
Web: www.caritas-spes.org/en
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