Verbesserungsbedarf auf allen Seiten
Caritas in NRW Die Caritas - in etlichen Einrichtungen selbst geschädigt - hat umgehend Erstunterstützung und Beratung für die Opfer geleistet, insbesondere für die vulnerablen Gruppen, die Alten, Kranken, Kinder und sozial Benachteiligten. Inwiefern sind diese Gruppen bei der im Koalitionsvertrag angekündigten Stärkung des Katastrophenschutzes im Blick?
Julia Höller: Die Bilder der Hochwasserkatastrophe haben auch mich persönlich schockiert. Besonders betroffen gemacht hat mich der Tod der zwölf Menschen im Haus der Lebenshilfe in Sinzig. Dieser tragische Fall zeigt exemplarisch, dass vulnerable Gruppen beim Katastrophenschutz besonders in den Blick genommen werden müssen. Es braucht eine bessere Zusammenarbeit zwischen Staat, Betreibern und Öffentlichkeit, damit vulnerable Gruppen in dynamischen Einsatzlagen nicht aus dem Blick geraten. Dabei müssen alle Akteure ihrer Verantwortung gerecht werden. Der Staat muss zum Beispiel rechtzeitig und barrierefrei warnen, und die Betreiber von Einrichtungen müssen sich mit Notfallplänen vorbereiten, damit im Katastrophenfall jeder weiß, was zu tun ist. Da besteht auf allen Seiten noch Verbesserungsbedarf. Sowohl in der Vorsorge und Vorbereitung als auch im akuten Krisenmanagement müssen die besonderen Herausforderungen berücksichtigt werden. Dazu zählen unter anderem unterschiedliche Informationsbedarfe oder eine eingeschränkte Mobilität, die andere Rettungskonzepte erfordert. Unser Ziel ist es, dass alle Menschen in NRW bei Katastrophen möglichst gut geschützt sind.
Caritas in NRW: Beim Katastrophenschutz sind - neben dem Staat - zunächst vor allem die Hilfsorganisationen (DRK, Johanniter, Malteser, ASB etc.) zuständig. Welche Rolle sollen künftig die Wohlfahrtsverbände in diesem Zusammenhang einnehmen?
Julia Höller: Die anerkannten Hilfsorganisationen sind eine tragende Säule des Katastrophenschutzes. Unzählige Menschen sind in diesen Organisationen ehrenamtlich engagiert und dafür ausgebildet, im Katastrophenfall der Bevölkerung zu helfen. Damit sich auch in Zukunft viele Menschen ehrenamtlich im Bereich des Katastrophenschutzes engagieren, arbeiten wir daran, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass das ehrenamtliche Engagement zukünftig weiter attraktiv bleibt. Neben den Hilfsorganisationen kommt aber auch den Wohlfahrtsverbänden eine wichtige Rolle im Katastrophenschutz zu, weil sie wertvolle Arbeit insbesondere im Bereich der Vorsorge leisten. Als Betreiber von kritischen Infrastrukturen sind sie in der Verantwortung, sich auf verschiedene Gefährdungen - beispielsweise mit betrieblichen Notfallplänen - vorzubereiten. Zugleich stehen sie in engem Kontakt zu vielen Menschen und sind ein wichtiger Akteur, um Bewusstsein über Katastrophen zu schaffen, Wissen über Verhalten in Notfällen zu vermitteln und so die Vorsorge in der Bevölkerung zu stärken. Und auch im Katastrophenfall wissen die Wohlfahrtsverbände vor Ort am besten, wo im Krisenfall akute Hilfe benötigt wird. Wenn Katastrophenschutz die Menschen wirkungsvoll schützen soll, braucht es eine gute Zusammenarbeit von Staat, Wirtschaft, Hilfsorganisationen, Wohlfahrtsverbänden und Bevölkerung.
Caritas in NRW: Das Land will zukünftig nach Lösungen suchen, wie die Hilfe von Spontanhelferinnen und -helfern koordiniert und integriert werden kann. Was ist damit gemeint?
Julia Höller: Die Einbindung von Spontanhelfenden ist eine der großen Aufgaben im Katastrophenschutz. Die Erfahrungen aus der Hochwasserkatastrophe haben deutlich gemacht, dass Spontanhelfende einen immensen Beitrag zur Lagebewältigung leisten können. Gerade bei Katastrophen großen räumlichen und zeitlichen Ausmaßes kommen die Ressourcen der Hilfsorganisationen an ihre Grenzen. Viele Hilfeleistungen wären ohne die Spontanhelfenden in dieser Form nicht möglich gewesen. Gleichzeitig ist die Einbindung so vieler Menschen eine große Herausforderung für die bestehenden Strukturen. Viele Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, Fähigkeiten und zeitlichen Verfügbarkeiten erfordern ein großes Maß an Management und Kommunikation. Es geht darum, einen Weg zu finden, wie dieses Potenzial genutzt werden kann, damit am Ende alle davon profitieren, die Spontanhelfenden, die Betroffenen und auch die Hilfsorganisationen.
Caritas in NRW: Was schwebt Ihrer Partei in diesem Zusammenhang vor?
Julia Höller: In der Vergangenheit gab es bereits zahlreiche Überlegungen, wie Spontanhelfende besser eingebunden werden können. Die Anforderungen an (technische) Systeme wie Apps oder Ähnliches sind hoch. Wir brauchen ein zentrales Management, zum Beispiel eine zentrale App, in der sich Spontanhelfende unter Angabe ihrer Kompetenzen und Verfügbarkeiten registrieren können, damit im Katastrophenfall schnell auf diese Helfenden zurückgegriffen werden kann. Aus meiner Sicht braucht es hierbei eine bundeseinheitliche Lösung für ganz Deutschland. Katastrophen machen nicht an administrativen Grenzen halt, und auch Spontanhelfende möchten über Bundesländergrenzen hinweg helfen.
Caritas in NRW: Die Caritas kümmert sich heute in Fluthilfebüros und Beratungsstellen um die psychosoziale Beratung von Betroffenen. Wie kann die Resilienz der Bevölkerung gestärkt werden?
Julia Höller: Die Flutkatastrophe hat das Leben für viele Menschen grundlegend verändert. Viele Anwohnerinnen und Anwohner, aber auch viele Helferinnen und Helfer haben traumatische Erfahrungen gemacht. Es ist wichtig, dass es ausreichend adäquate und professionelle psychosoziale Unterstützungsangebote für die Betroffenen und Helfenden gibt. Neben der akuten Notfallversorgung müssen wir die Resilienz der Bevölkerung steigern. Ein wichtiger Bestandteil ist dabei, dass wir uns als Gesellschaft mit Risiken auseinandersetzen und Katastrophen nicht nur als weit entfernte Phänomene begreifen.
Wir müssen offen darüber reden, dass es auch in Deutschland keine absolute Sicherheit vor Naturkatastrophen gibt. Mit einer Gefahr zu leben heißt jedoch nicht, dass wir dieser tatenlos ausgeliefert sind. Wir können durch Schutzmaßnahmen das Risiko senken und lernen, wie man sich auf Katastrophen vorbereitet und sich in diesen verhält. Viele Menschen bewahren mittlerweile einen Vorrat an Lebensmitteln, Wasser und notwendigen Medikamenten zu Hause auf. Die individuelle Vorsorge ist ein wichtiger Schlüssel zur Steigerung der Resilienz in der Gesellschaft. Wir müssen aber insgesamt noch besser vorbereitet sein. Dies könnte zum Beispiel durch Thematisierung von Risiken, Möglichkeiten der Vorbereitung und Vorsorge, in Schulen oder regelmäßige Übungen geschehen.
Caritas in NRW: Wir erleben eine Häufung von unterschiedlichen Krisen: Corona-Pandemie, Umweltkatastrophen, Fluchtkrise, Klimawandel, Russlands Angriffskrieg, Attacken auf die Infrastruktur … Was empfehlen Sie einem Wohlfahrtsverband wie der Caritas? Worauf sollten wir uns (noch) einstellen?
Julia Höller: Wir leben in einer Zeit multipler Krisen, in der der Handlungsdruck auf die Verantwortlichen in allen Bereichen dauerhaft hoch ist und bleibt. Akute Probleme müssen bewältigt werden, ohne dass die anderen Krisen dabei aus dem Blick geraten dürfen. Die Wohlfahrtsverbände haben mit ihren zahlreichen Einrichtungen eine besondere Verantwortung für viele sozial benachteiligte Menschen in unserer Gesellschaft. Dabei benötigen sie für diese zahlreichen Aufgaben staatliche Unterstützung. Ich würde mir wünschen, dass sich die Wohlfahrtsverbände dieser Rolle bewusst sind und mutige Entscheidungen treffen. Dazu gehört es, auch bei unsicheren Zukunftsprognosen rechtzeitig Vorsorgemaßnahmen und Entscheidungen zu treffen, damit man auf Katastrophen vorbereitet ist, bevor diese eintreffen. Denn letztlich ist Vorsorge weitsichtige Fürsorge für den Menschen.
Die Fragen stellte Markus Lahrmann.
Kontaktdaten von Julia Höller
Telefon: 0211/8 84-40 48
E-Mail: julia.hoeller@landtag.nrw.de
Web: www.julia-hoeller.de
Twitter: @julehoeller