Warum macht es der Staat nicht gleich selbst?
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Nur aus stilistischen Gründen hat es dieser Satz dann nicht in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes geschafft. Nichtjuristen wäre damit unmissverständlich erklärt worden, warum der Staat nicht gleich selbst soziale Einrichtungen und Dienste betreibt - wenn er sie doch ohnehin selbst bezahlt.
Für die juristisch gebildeten Autoren (unter ihnen waren auch vier Frauen) unserer Verfassung war deswegen nicht weniger klar, dass das Subsidiaritätsprinzip gilt. Es durchzieht mehrere Artikel und ist in Sozialgesetzbüchern ausformuliert worden. Sie legen die Grundlage für die Existenz und Finanzierung der Freien Wohlfahrtspflege.
Kritisch und häufig auch wenig diplomatisch wird gerade in den sozialen Medien geschimpft, dass die Caritas die Finger von Krankenhäusern, Altenheimen, Jugendhilfe-Einrichtungen … lassen sollte. Wenn die öffentlichen Kostenträger dort die Leistungen bezahlten, dürfe es dort auch kein eigenes Arbeitsrecht geben.
Doch aus gutem Grund haben die Verfassungsväter den schon in der Weimarer Verfassung begonnenen Weg zur Ausgestaltung des Sozialstaats weiter beschritten. Im Dritten Reich hatte der diktatorische Staat alle sozialen Aktivitäten an sich gerissen, um sie gleichzuschalten und entsprechend Kontrolle über seine Bürger ausüben zu können. Das Wunsch- und Wahlrecht des Einzelnen war in der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" faktisch aufgehoben.
Wunsch- und Wahlrecht für die Bürger
Auch wenn es etwas in Vergessenheit geraten ist und öffentliche Träger immer wieder versuchen, soziale Aufgaben selbst zu übernehmen: Das Subsidiaritätsprinzip gilt weiterhin. Es sichert den Bürgerinnen und Bürgern, zwischen mehreren freien Trägern der Wohlfahrtspflege mit unterschiedlicher weltanschaulicher und konfessioneller Ausrichtung wählen zu können. Dass der Staat nur einen Sicherstellungsauftrag hat, lässt sich auch aus dem berühmt gewordenen Diktum Ernst-Wolfgang Böckenfördes ableiten: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann", so der ehemalige Bundesverfassungsrichter.
Das sind zum Beispiel die werteorientierten Leistungen, die Wohlfahrtsverbände in ihren Diensten und Einrichtungen bieten. Von daher ließe sich sogar argumentieren, dass die öffentlichen Träger auf eigene Leistungen verzichten müssten, selbst wenn sie sie kostengünstiger organisieren könnten. Gerade die Vielfalt erhält den Diskurs über die Unterstützungsangebote aufrecht und ist damit für die Demokratie nicht verzichtbar.
In unserem staatlichen Aufbau ist das Subsidiaritätsprinzip ein relativ neuer Grundsatz, der sich erst nach 1945 durchgesetzt hat. Als Prinzip hat es dagegen eine lange philosophische Tradition und ist in der katholischen Soziallehre zusammen mit den Prinzipien Individualität und Solidarität ausformuliert worden. Dabei ging es nicht in erster Linie um das Verhältnis von Staat und Individuum, sondern die jeweils größere gesellschaftliche Einheit soll oder darf erst dann eine Aufgabe übernehmen, wenn es die kleinere nicht schafft. Was dann auch für die Caritas gelten muss: erst einzugreifen, wenn zum Beispiel eine Familie ihre Probleme nicht selbst lösen kann.
Erst später ist diese Denkrichtung auf das Staatsverständnis übertragen worden. Dass sie bei der Formulierung unserer Verfassung eine Rolle gespielt hat, zeigt die Bedeutung der katholischen Kirche und ihrer Soziallehre zu dieser Zeit. Wobei das Grundverständnis des Subsidiaritätsprinzips nicht auf Deutschland und die jüngere Vergangenheit beschränkt ist, sondern weltweit die Geschichte durchzieht. Den Kerngedanken hat Abraham Lincoln so formuliert: "Die Regierung hat für die Bevölkerung das zu besorgen, wonach die Leute ein Bedürfnis haben, was sie aber selbst nicht tun können oder doch, auf sich gestellt, nicht ebenso gut tun können." Das gilt - in größerem Maßstab und organisierter Form - eben auch für das Verhältnis von Freier Wohlfahrtspflege und Staat heute.