Pflege ist komplex, und sie wird noch viel komplexer
Caritas in NRW: Ab 2020 sollen alle Auszubildenden der Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege zwei Jahre lang eine gemeinsame Ausbildung, die sogenannte generalistische Ausbildung, erhalten. Was das konkret für die Auszubildenden, aber auch für die Schulen und die Einrichtungen bedeutet, erklärt die Schulleiterin Menka Berres-Förster.
Menka Berres-Förster: Ich habe parallel zu meiner Arbeit als Krankenschwester in einem Krankenhaus der ctw als Honorardozentin unterrichtet. Irgendwann hat man mich gefragt, ob ich hierhin an die Schule wechseln möchte. Ich habe dann ein Studium der Pflegepädagogik begonnen. Das war berufsbegleitend, das habe ich für mich gemacht und selber finanziert. Später habe ich noch Schulmanagement studiert, weil es Voraussetzung für meine heutige Tätigkeit war. Seit 2012 leite ich die Schule. Mir ist es aber schwergefallen, aus der Pflege ganz herauszugehen. Dadurch aber, dass wir als Schule die Schüler auch in der Praxis begleiten, sehe ich immer noch die Pflege. Ich gehe zuweilen auch in verschiedene Bereiche, um zu hospitieren. Ein, zwei Tage arbeite ich dann mit. Das machen aber auch andere Kollegen aus unserem Team. Da bekommen wir mit, was in der Pflege gemacht wird und wie sie sich verändert. Denn das, was in der Pflege zu tun ist, verändert sich rasant. Zudem bekommen wir den Alltag unserer Schüler auf Station mit.
Caritas in NRW: Was bedeutet generalistische Pflegeausbildung?
Menka Berres-Förster: Die generalistische Ausbildung befähigt zur Pflege von Menschen aller Altersstufen in allen Versorgungsbereichen. Sie verbindet Elemente der Alten-, Kinderkranken- und Krankenpflege, aber nicht nach dem Motto "Aus drei mach eins". Sie führt zu einem neuen, modernen Pflegeberuf und einem in Europa anerkannten Abschluss Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann.
Caritas in NRW: Bisher war es so: Ein Auszubildender bewirbt sich in einem Pflegeheim, bei einem Pflegedienst oder im Krankenhaus um eine Ausbildung zum Altenpfleger bzw. zum Krankenpfleger. Die Einrichtung oder der Dienst stellt ihn an, diese sind dann die Praxisorte für den Auszubildenden, der den theoretischen Teil in einer Altenpflege- bzw. Krankenpflegeschule absolviert. Wie ist es in der Generalistik?
Menka Berres-Förster: Die praktische Ausbildung erfolgt auch nach der neuen Ordnung zum überwiegenden Teil bei dem Träger, mit dem der Auszubildende den Ausbildungsvertrag geschlossen hat. Für die Pflichteinsätze in anderen Versorgungsbereichen gibt es Kooperationspartner. Schulen und Praxisstellen vereinbaren, wer die Einsätze koordiniert. Ich denke, dass überwiegend die Schulen diese Aufgabe übernehmen werden. Die theoretische Ausbildung erfolgt in der Pflegeschule. Alle Auszubildenden starten generalistisch. Diejenigen, die stationäre oder ambulante Langzeitpflege bzw. Pädiatrie als Vertiefungsbereich im Vertrag haben, können - müssen aber nicht - nach zwei Jahren den Abschluss Altenpflege bzw. Gesundheits- und Kinderkrankenpflege wählen. Diese beiden Abschlüsse sind in Europa jedoch nicht automatisch anerkannt. Wer von seiner Wahlmöglichkeit keinen Gebrauch macht, macht den generalistischen Abschluss. Er ist europäisch anerkannt, qualifiziert für alle Altersstufen und alle Settings. Damit stehen den Absolventen alle Wege offen.
Caritas in NRW: Gehen wir einmal von folgendem Fall aus: Jemand bewirbt sich für die generalistische Ausbildung in einem Krankenhaus. Im dritten Lehrjahr kommt er plötzlich auf die Idee: Nein, Krankenhaus ist doch nichts für mich, ich möchte in die Altenpflege. Das Krankenhaus hat in ihn investiert, verliert eine potentielle Arbeitskraft. Was nun?
Menka Berres-Förster: Das kann passieren. Der Auszubildende kann dann den Träger der Ausbildung wechseln und sich in einem Seniorenpflegeheim bewerben. So hat er in der Praxis die Altenpflege, die ihm gefällt. Er macht dann trotzdem den generalistischen Abschluss und ist später im Beruf für alle Bereiche qualifiziert. Ich finde es wichtig, dass solche Wechsel von der Schule gut begleitet werden, damit die Ausbildung gut gelingt.
Caritas in NRW: Verlangt die Generalistik nicht von allen Beteiligten ein hohes Maß an Flexibilität?
Menka Berres-Förster: Absolut. Der Betrieb, z. B. das Altenpflegeheim, sorgt für Praxisanleitung der Auszubildenden, aber auch dafür, dass die Auszubildenden alle vorgeschriebenen Einsätze absolvieren. Der eigene Azubi ist eventuell im externen Einsatz der ambulanten Pflege, dafür kommt - wenn es gut organisiert ist - ein Azubi z. B. aus dem Krankenhaus. Dieser ist ganz neu in der Einrichtung, hat noch nie in einem Heim gearbeitet, braucht hier besondere Begleitung und Anleitung. Die Schule koordiniert die Einsätze, besucht die Azubis in der Praxis, kommuniziert mit den Trägern und Kooperationspartnern. Natürlich müssen sich alle flexibel zeigen. Ich finde es wichtig, dass Schule und Betriebe die gleiche Haltung zu Ausbildung und Pflege haben und auf Augenhöhe kooperieren. Dann kann auch gute Ausbildung gelingen.
Menka Berres-Förster leitet das Pflegebildungszentrum am St. Marien-Hospital, Düren. Dort werden in drei Abteilungen mit insgesamt 210 Plätzen Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflegekräfte ausgebildet.© St. Marien-Hospital
Caritas in NRW: Als Sie zum ersten Mal gehört haben, dass der Pflegeberuf hin zur Generalistik reformiert werden soll, was haben Sie da gedacht?
Menka Berres-Förster: Hurra! (lacht). Aber das ist schon lange her. Zwanzig Jahre etwa. Da war ich gerade fünf Jahre im Beruf. Schon als junge Krankenschwester in der Intensivstation hatte ich Kontakt zur Altenpflege- und zur Kinderkrankenpflegeausbildung. Und schon damals hatte ich das Gefühl, dass es eine Prestige-Hierarchie in den Pflegeberufen gibt. Jeder hält sich für etwas Besseres: Kinderkrankenpflege hält sich für besser als Krankenpflege, Krankenpflege für besser als Altenpflege. Für mich war das sehr befremdlich. Ich habe mich schon immer berufspolitisch interessiert und kenne Pflege auch in anderen europäischen Ländern. Sie ist überall generalistisch ausgerichtet. Das Medizinstudium ist generalistisch ausgerichtet. Überall lernt man einen Grundberuf Pflege oder Medizin, und später geht man einen Weg, der eher in die Kinderheilkunde oder in die Geriatrie geht. Ich hatte das Gefühl, dass in Deutschland die Altenpflege einen deutlich schlechteren Ruf hatte als anderswo, aber eigentlich eine ganz tolle Arbeit verrichtet. Sie findet nicht die Anerkennung, die sie eigentlich verdient. Und wenn wir diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Altenpflege heute im Jahr 2019 nicht verstehen, wann bitte dann?
Caritas in NRW: Warum, glauben sie, hat die Altenpflege so einen schlechten Ruf?
Menka Berres-Förster: Meine persönliche Meinung ist: Es ist für uns alle in der Gesellschaft schwer, in das Alter hineinzublicken. Jeder für sich muss einmal dort hinblicken. Und jeder wird eigene Bilder im Kopf haben, wie sein eigenes Alter sein wird. Das muss man erst einmal für sich verarbeiten. Wenn wir Kinder pflegen, ist das durch unsere Instinkte abgedeckt. Das ist normal. Das wir alle so alt werden und so lange leben, auch pflegebedürftig so lange leben, das ist für unsere Kultur eher etwas Neues. Es ist schwerer, mit alten Menschen, mit Sterbenden, mit Schwerstpflegebedürftigen zu arbeiten, und es ist schwer zu ertragen, dass man auch einmal so dort liegen könnte. Deshalb schauen wir da eher weg. Und die Rahmenbedingungen in der Altenpflege sind viele Jahre nicht optimal gewesen. Man dachte, als der Altenpflegeberuf in Deutschland entstand, das sei etwas für Hausfrauen, die nach der Kinderphase in den Beruf einsteigen. Damit hat man nicht so viel Professionalität verbunden. Heute ist das Wissen aus der Altersforschung und aus der Medizin so sehr in die Altenpflege eingezogen. Die Arbeit, die dort verrichtet wird, ist sehr anspruchsvoll und verdient höchste Anerkennung, finde ich.
Caritas in NRW: Ist die Pflegeberufereform auch eine Reaktion auf den Pflegenotstand?
Menka Berres-Förster: Das glaube ich nicht. Fachleute sagen schon lange, der Weg zur Generalistik müsse beschritten werden. Es war eher die Politik, die das nicht schnell umgesetzt hat.
Caritas in NRW: Wenn ich künftig die Ausbildung nach der Generalistik beginne, sind dann die Anforderungen, die an mich gestellt werden, höher als jetzt?
Menka Berres-Förster: Wenn man sich die Anlagen zum Pflegeberufegesetz und zur Ausbildungs- und Prüfungsordnung anschaut, beziehen sich die Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler im Laufe der Pflegeausbildung entwickeln sollen, auf die Steuerung des Pflegeprozesses. Organisation und Übernahme von Verantwortung für Pflegeprozesse in allen Pflegesituationen sind da die Stichworte. Das ist noch einmal einen Ticken höher als heute.
Caritas in NRW: Ist das klug? Wir können schon heute nicht genügend Fachkräfte für die Pflege gewinnen.
Menka Berres-Förster: Das Pflegeberufegesetz ist nicht nur ein Ausbildungsgesetz. Das Gesetz soll die Bevölkerung vor unsachgemäßer Pflege schützen. Insofern ist es in unserem Interesse, dass diejenigen, die wir Fachkräfte nennen, so gut ausgebildet sind, dass wir all die anderen, die wir noch in der Pflege brauchen - Hilfskräfte, ausländische Fachkräfte, vielleicht auch Roboter -, managen und organisieren können. Man muss für diese Heterogenität Verantwortung übernehmen können. Und dafür muss man eine starke Ausbildung haben. Was Sie ansprechen, ist ja die Frage nach einem abgesenkten Niveau. Das ist etwas für die Assistentenausbildung. Also: die Assistentenausbildung öffnen und bitte für alle nach oben öffnen, dass man sich im Beruf entwickeln kann. Aber das Niveau abzusenken ist der falsche Weg. Die Pflege ist komplex, und sie wird noch viel komplexer. Wenn wir gut gepflegt werden wollen, brauchen wir Leute, die top sind. Da geht es nicht nur um Körperpflege. Es geht um den Überblick in Krisensituationen. Es geht darum, Pflege anordnen zu können, und auch darum, zu überprüfen, ob die getroffenen Pflegemaßnahmen richtig durchgeführt sind.
Caritas in NRW: Welche Erwartungen verbinden Sie mit der Pflegeberufereform für die Pflege?
Menka Berres-Förster: Meine große Hoffnung ist, dass die Settings, die wir schon heute in der Pflege haben - Pflege im Krankenhaus, im Heim, zu Hause - in der Ausbildung angemessen abgebildet werden und alle Schüler alle Settings kennen. Dann hört es auch auf, dass man sagt: die im Altenheim oder die im Krankenhaus. Dann wird es auch jeder Fachkraft später leichter fallen zu verstehen, wenn mein Patient vom Heim kommt oder ins Heim geht, was ihn da erwartet und was wir heute schon in der Klinik machen müssen, damit es im Heim gut funktioniert. Das Versäulte, die Settings, die nebeneinanderstehen, sind auch gesamtgesellschaftlich sehr ungünstig. Die Menschen, die in den Systemen arbeiten, müssen von der Arbeit der anderen wissen.
Caritas in NRW: Sie sagten, die Pflegeberufereform diene nicht dazu, den Pflegenotstand zu beseitigen. Aber könnte sie nicht durch die Hintertür, dass der Pflegeberuf aufgewertet wird, dazu dienen, dass mehr Menschen in die Pflege gehen?
Menka Berres-Förster: Das kann ich mir schon vorstellen. Denn die Berufsanfänger wissen: Wenn ich diesen Beruf erlernt habe, kann ich in Deutschland und in Europa in jedem Krankenhaus, jedem Pflegeheim, jedem ambulanten Pflegedienst arbeiten. Ich bin qualifiziert. Das ist eine große Freiheit. Und das macht den Beruf dann auch attraktiv für junge Leute.
Caritas in NRW: Pflegekräfte beklagen, sie hätten keine Zeit mehr für die Patienten oder Bewohner. Wird sich daran etwas verändern?
Menka Berres-Förster: Nicht durch diese Pflegeausbildungsreform alleine. Dafür braucht es mehr, eigentlich einen Masterplan. Aktuell gibt es vor der Regierung die Konzertierte Aktion Pflege. Genauso, wie wir jetzt über den Klimawandel diskutieren, müssen wir über die Pflege sprechen. Was heißt das für die Gesellschaft, wenn wir alle älter werden, pflegebedürftiger werden, jetzt mit Erkrankungen alt werden, die noch vor Jahren tödlich waren? Was wollen wir? Was kostet das? Und wie kriegen wir es hin? Das ist eigentlich recht einfach, aber von nichts kommt nichts. Eine Antwort auf diese Fragen gibt es nicht zum Nulltarif. Ich meine: Wir sollten ordentlich Geld in die Hand nehmen, damit es in der Pflege spürbar besser wird.
Caritas in NRW: Das Pflegebildungszentrum am St. Marien-Hospital in Düren hat drei Abteilungen, eine für Altenpflege, eine für Krankenpflege, eine für Kinderkrankenpflege. Ist in diesem Haus schon das vorweggenommen worden, was da kommt?
Menka Berres-Förster: Ja. Das war auch der Wunsch des Trägers. Ursprünglich waren es drei Schulen, dann wurden zwei daraus mit drei Schulleitungen. Und jeder Bereich hat ja ein enormes Wissen. Dieses nicht für alle nutzbar zu machen, ist eigentlich nicht hinnehmbar. Der Träger hat gesagt: Die Institution muss entwickelt werden. 2009 haben wir mit einem Schulentwicklungsprozess begonnen und haben die Schulen organisatorisch fusioniert. Auch haben wir mit fachbereichsübergreifender Unterrichtsentwicklung begonnen. Mittlerweile unterrichtet jeder Lehrer und jede Lehrerin in der Kinderkrankenpflege, Krankenpflege und Altenpflege. Jeder kennt die Bereiche, die Praxis, die Curricula. Man könnte es so sagen: Wer in den vergangenen zehn Jahren hier auf der Schule war, wurde schon ein wenig generalistisch ausgebildet, zumindest in der Theorie.
Caritas in NRW: Welche Rückmeldungen hören sie?
Menka Berres-Förster: Die Schüler finden das gut, weil sie in Kontakt treten mit anderen Berufen aus der Pflege. Man baut Vorurteile ab. Man tauscht sich fachlich aus. Die aus dem Altenheim sagen: Dass ihr das im Krankenhaus macht, hätten wir nicht gedacht. Die im Krankenhaus sagen: Oh, das macht ihr im Altenheim? Es gab quasi so ein heimliches generalistisches Curriculum hinter allem, was wir gemacht haben. Das Wissen von und über Pflege als eigenständige Disziplin, die überall stattfindet, sollte überallhin gelangen. Das war die Idee.
Caritas in NRW: Es gibt Befürchtungen z. B. bei Arbeitgebern in der Altenpflege, dass die Bewerberzahlen zurückgehen werden oder dass das Profil der Altenpflege als sozialpflegerischer Beruf verschwinde. Halten Sie diese Befürchtungen für gerechtfertigt?
Menka Berres-Förster: Die Befürchtungen, dass die Bewerberzahlen zurückgehen werden, teile ich. Das liegt aber nicht an der Generalistik. Das liegt daran, dass die Zahl der Schulabgänger zurückgeht. Das ist eine Auswirkung des demographischen Wandels und des Fachkräftemangels in anderen Berufen. Zum Profil der Altenpflege kann ich nur sagen, dass es sich weiterentwickelt hat. Das geht heute deutlich über das Sozialpflegerische hinaus. Im Pflegeheim leben heute auch jüngere Menschen, die manchmal sogar beatmet sind, an hochkomplexen Erkrankungen leiden. Hier muss Lebensqualität und medizinische Versorgung gelingen. Das erfordert viele Kompetenzen bei den Pflegenden.
Caritas in NRW: Das heißt aber auch, sie teilen die Befürchtung für alle Pflegeberufe.
Menka Berres-Förster: Ja, die teile ich für alle drei Pflegeberufe, die es jetzt noch gibt, weil die Pflege mit anderen Berufen konkurrieren muss. In anderen Berufen gibt es auch Fachkräftemangel, und sie bieten duales Studium an, sie bieten Auslandssemester an. Da muss die Pflege jetzt schauen: Was bieten wir an? Aber zurück zur Altenhilfe: Auch nach dem neuen Pflegeberufegesetz können Altenhilfeträger Schüler bekommen. Es ist an ihnen, sie gut auszubilden. Wenn sie mit einer guten Schule kooperieren, wenn sie gute Ausbildung in Theorie und Praxis anbieten, wenn sie gute Praxisanleitung haben, dann wird das am Ende sehr gut.
Caritas in NRW: Es heißt, die Pflegeberufereform werde den Pflegefachkräften nun eindeutig der Pflege vorbehaltene Tätigkeiten zuweisen. Was hat das für Konsequenzen?
Menka Berres-Förster: "Der Pflege vorbehaltene Tätigkeiten" heißt: Kein anderer darf diese Aufgaben übernehmen außer uns, den Pflegefachkräften. Zu diesen Tätigkeiten zählen die Erhebung des Pflegebedarfs, die Pflegeplanung, die Steuerung der Pflege, Kontrolle oder Qualitätssicherung. Ich glaube, es wird eine ganze Zeit dauern, bis wir die Folgen davon spüren werden. Schauen Sie in andere Länder. Ich habe einmal im Pflegesystem in Schweden hospitiert. Dort sind Pflegekräfte diejenigen, die sich die Durchführung der Pflege anschauen und gucken, ob es richtig läuft, die sagen, welche Lagerung der Patient jetzt braucht. Die Pflege muss die Maßnahme nicht selbst machen, aber sie muss sie anordnen und kontrollieren, ob sie durchgeführt wird und wie es dem Patienten geht. Und in Deutschland ist es noch so: Die Pflege macht alles. Die Pflegekraft auf der Station oder im Wohnbereich ist natürlich auch für die eigentlichen pflegerischen Aufgaben zuständig, aber ebenso fürs Austeilen und das Anreichen des Essens. Und bei diesen Aufgaben brauchen wir Unterstützung.
Caritas in NRW: Wenn ich mir das so anhöre, frage ich mich: Führt das nicht dazu, dass es demnächst nur noch Häuptlinge, aber keine Indianer mehr gibt?
Menka Berres-Förster: Die Indianer brauchen wir und haben wir, und wir werden sie auch weiter haben müssen. Aber wir brauchen auch noch viel mehr Hilfskräfte. Die Caritas arbeitet auch an Projekten daran. Man nennt das Skill- and Grade-Mix. Wir brauchen Leute, die verschiedene Kompetenzen haben, Fähigkeiten auf verschiedenen Niveaus. Und die Pflegekraft, die Verantwortung hat für den Pflegeprozess von 40 Personen, muss das alles steuern können. Und sie muss auch sagen können: Dieses kann eine Hilfskraft machen, jenes macht einer mit einer einjährigen Ausbildung, das kann ein Praktikant machen und dieses tut jemand, der Bundesfreiwilligendienst leistet. Und wir brauchen auch ca. zehn Prozent akademisch ausgebildeter Pflegekräfte. So kann es gelingen, dass das Wissen aus der Pflegewissenschaft schneller die Basis erreicht. Mit dem Pflegeberufegesetz ist erstmalig auch die akademische Ausbildung in der Pflege geregelt.
Caritas in NRW: Ist ein eigenes Pflegeassistenzberufsbild notwendig?
Menka Berres-Förster: Ja. Es ist die Frage, ob es eine ein- oder eine zweijährige Ausbildung wird. Aber es ist unbestritten, dass wir eine Helferausbildung brauchen und dass wir viele Helfer brauchen.
Caritas in NRW: Sie haben sicher Vorstellungen davon, wie eine Assistentenausbildung aussehen müsste.
Menka Berres-Förster: Ich wäre für eine zweijährige Assistentenausbildung. Denn auch das, was Assistenten machen müssen, ist sehr anspruchsvoll. Da braucht es schon die nötige Zeit für die Ausbildung. Ich denke auch, dass die Assistentenausbildung auch für diejenigen Schulabgänger ein Weg sein könnte, die nicht die Voraussetzung für die dreijährige Ausbildung zur Pflegefachkraft haben. Die Ausbildung sollte in jedem Falle so durchlässig sein, dass auch ein Assistent seinen Weg in der Pflege gehen kann.
Caritas in NRW: Welchen Spielraum lässt das neue Gesetz der Schule bei der Gestaltung des Lehrplanes? Sie brachten eben das Stichwort Duales Studium. Gibt es in Ihrem Haus Überlegungen, mit einer Hochschule zu kooperieren?
Menka Berres-Förster: Das tun wir schon und das werden wir auch unbedingt in Zukunft tun.
Caritas in NRW: Sie haben derzeit 210 Plätze. Werden sie die Anzahl der Plätze ausbauen?
Menka Berres-Förster: Ja, wir werden zunächst auf die Zielgröße von 300 Schulplätzen gehen.
Caritas in NRW: Und haben Sie schon Bewerbungen für die neue Ausbildung?
Menka Berres-Förster: Ja, und ich glaube, wir haben auch schon die erste Zusage.
Caritas in NRW: Sie dürfen jetzt das umsetzen, zu dem sie damals "hurra" geschrien haben. Wie fühlen sie sich?
Menka Berres-Förster: Ich weiß, wieviel Arbeit das sein wird. Ich habe Respekt davor. Manchmal habe ich auch schlaflose Nächte, wenn ich darüber nachdenke, was mein Team leisten muss, was die Stationen und Wohnbereiche leisten müssen, was die Praxisanleiter leisten müssen. Das ist eine enorme Herausforderung, die auf die gesamte Pflege und auf alle Pflegeschulen zukommt. Trotzdem finde ich den Weg richtig und notwendig. Ich glaube: Für das gesamte Gesundheitssystem, für die zu Pflegenden und für die Pflegenden lohnt es sich. Aber es ist gewaltig. So eine große Reform gab es, glaube ich, noch nicht in der Pflegeausbildung.
Caritas in NRW: Wenn ich am 1. September 2023 ins Krankenhaus komme, wie merke ich dann, dass ich von der ersten Generation der Pflegekräfte betreut werde, die nach der neuen Ausbildungsordnung ausgebildet wurden?
Menka Berres-Förster: Ich glaube, Sie werden Fachkräften begegnen, die viel breiter und freier ausgebildet wurden. Sie haben viel mehr gesehen. Ich stelle mir das so vor: Zu einem Krankenhauspatienten, der aus dem Pflegeheim kommt, werden die Pflegefachkräfte sagen: Ach ja, da weiß ich, wie das da ist, da weiß ich, was er braucht, dann können die Fachkräfte die Angehörigen des Patienten besser beraten. Sie werden den Patienten gut versorgen können und ein anderes Verständnis von dem System haben. Die Patienten werden auf selbstbewusste, starke Fachkräfte treffen, die auch sagen können, was realistisch ist und was nicht, die sagen können, was Pflege leisten kann und was nicht.
Caritas in NRW: Sind nicht viele Patienten bzw. Bewohner von Pflegeheimen die "klassische" Pflege gewohnt? Wie wird sich das in der Praxis einspielen?
Menka Berres-Förster: Es wird dauern. Aber das hat nichts mit der neuen Pflegeausbildung zu tun, sondern vielmehr mit der Frage, wie wir mit Neuerungen in der Pflege umgehen. Schauen Sie: Schon heute haben wir Roboter in der Pflege. Die Frage ist doch: Wie sprechen wir mit den Menschen darüber? Wie spricht die Pflege darüber? Wie positionieren wir uns als Berufsangehörige? Wir sind auch das Sprachrohr in die Bevölkerung. Die Pflege wird sich verändern. Wir müssen einen Weg finden, darüber zu kommunizieren. Die Veränderungen kommen so schnell, die Systeme aber bewegen sich eher im Tempo der griechischen Landschildkröte.
Caritas in NRW: Was verändert sich durch das neue Gesetz für die Schulleiterin Menka Berres-Förster?
Menka Berres-Förster: (seufzt erst, dann lacht sie) Ich werde noch mehr Arbeit haben als heute. Ich werde viel mehr im Austausch sein müssen mit Arbeitgebern, mit Trägern der Ausbildung. Für jede Schulleitung wird es ein Balanceakt sein, wenn sie möchte, dass die Träger ihre Auszubildenden in ihre Schule schicken. Wie bekommen wir es hin, dass die Pflegekräfte bei ihrer Ausbildung vor Ort und in ihrer Ausbildung in der Schule gut begleitet werden, so dass sie insgesamt eine qualitativ hochwertige Ausbildung haben? Das wird eine entscheidende Frage sein. Schule muss aber auch ein bisschen in die Zukunft schauen. Einerseits müssen wir die Pflegefachkräfte für die Gegenwart ausbilden, andererseits aber auch die Anforderungen an die Pflege der Zukunft erkennen. Ich werde kooperativer sein müssen, diplomatischer, ich werde viel Zuversicht vermitteln und wecken müssen.
Caritas in NRW: Sie leiten heute die Pflegeschule, die Sie selbst während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester bei der ctw besucht haben. Was war 1994 Ihre Motivation, sich für den Pflegeberuf zu entscheiden?
Menka Berres-Förster: Ich hatte damals schon den Eindruck, dass es ein Beruf ist, in dem ich sehr viel machen kann, in dem ich mich in viele Richtungen entwickeln kann. Mich hat zudem gereizt, mit ganz vielen Berufsgruppen, unterschiedlichen Patienten, unterschiedlichen Altersstufen zu tun zu haben. Ich hatte gedacht: Wenn ich später etwas anderes studieren möchte, ist der Pflegeberuf schon der richtige. Der Beruf war damals schon eine zukunftssichere Sache, so dass ich sicher war, mich mit diesem Beruf selbst finanzieren zu können.
Caritas in NRW: Wie konkret waren Ihre Vorstellungen von diesem Beruf?
Menka Berres-Förster: Ich hatte keine konkreten Vorstellungen, was mich in dem Beruf erwarten würde. Ich hatte damals auch kein Praktikum gemacht. Ich hatte Bilder von Pflege im Kopf. Die sind entstanden durch Gespräche in der Familie, in der Gesellschaft. Für mich war es etwas sinnstiftendes. In meiner Familie gab es niemanden, der in der Pflege tätig war.
Caritas in NRW: Und entsprach die Praxis Ihren Vorstellungen?
Menka Berres-Förster: Ich hatte es mir im Praktischen leichter vorgestellt. Im Praktischen hatte ich erwartet, dass ich viel mehr Anleitung, Begleitung haben würde. In der theoretischen Ausbildung war es so, wie ich es erwartet hatte: sehr bunt, sehr breit gefächert. Ich hatte viel zu lernen. Das hat mich gereizt. Das fand ich auch gut. Schon damals habe ich gemerkt: Pflegeschüler sind viel unterwegs und arbeiten richtig mit. Natürlich wird man angeleitet und bekommt vieles gezeigt. Aber es passiert im echten Betrieb. Das ist einerseits gut und interessant, andererseits aber auch herausfordernd.
Caritas in NRW: Sie sagten, Sie hatten die Erwartung, sich in diesem Beruf entwickeln zu können. Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?
Menka Berres-Förster: Ja, gänzlich. Ich würde den Beruf auch noch einmal ergreifen.
Caritas in NRW: Auch unter den heutigen Umständen?
Menka Berres-Förster: Ja. Ich denke: Wenn man auch heute als junger Mensch für sich klar hat, dass man sich entwickeln möchte - und in diesem Beruf kann man es, dann stehen einem alle Wege offen. Die Rahmenbedingungen sind so, wie sie sind. Sie sind aber von Menschen gemacht, und Menschen können sie auch verändern. Und da habe ich die jungen Leute vor Augen, die in den Beruf eintreten. Auch an ihnen ist es zu benennen, was fehlt.
Caritas in NRW: Wie war die Situation in der Pflege damals im Vergleich zu heute?
Menka Berres-Förster: Es war schon eine entspanntere Arbeit. Ich habe die ersten sieben Jahre auf der Intensivstation gearbeitet. Was diverse Studien bestätigen, war auch meine persönliche Erfahrung: Die Zahl der Patienten, die man zu versorgen hatte, ist von Jahr zu Jahr gestiegen. Die Arbeitsdichte hat zugenommen. Und an diesem Punkt denke ich auch: Da braucht Pflege Unterstützung. Auch in der Zukunft. Sie braucht sie durch Helfer, durch Maschinen, durch Digitalisierung. Da können wir auch etwas machen. Wir brauchen Pflegefachkräfte, aber auch alle anderen, die in der Pflege zuarbeiten.
Caritas in NRW: Stichworte wie Pflegenotstand, Fachkräftemangel hören wir jeden Tag. Warum lohnt es sich heute für junge Menschen, einen Beruf in der Pflege zu ergreifen?
Menka Berres-Förster: Fachkräftemangel gibt es heute in allen Berufen. Das liegt an der demografischen Struktur. Der Pflegeberuf ist einer, in dem man schon ein ganzes Berufsleben bleiben kann. Von der Arbeit am Patientenbett, über Organisationsaufgaben, Weiterbildungen, Spezialisierungen, Aufstieg in der Hierarchie, bis hin zu einer Tätigkeit in der Ausbildung kann man sich sehr gut weiterentwickeln. Ich kenne kaum einen anderen Beruf, in dem man sich in so viele verschiedene Bereiche entwickeln kann. Viele Arbeitgeber unterstützen das. Auch die Politik bemüht sich, Fort- und Weiterbildung zu unterstützen. Das ist vor allem relevant vor dem Hintergrund des neuen Pflegeberufegesetzes. Wir leben in Europa, wir können in allen europäischen Ländern arbeiten. Das ist einfach spannend und in gewisser Weise auch attraktiv.
Caritas in NRW: Welche Erfahrungen können Sie den jungen Azubis aus Ihrer praktischen Tätigkeit in der Pflege vermitteln?
Menka Berres-Förster: Ich muss schon sagen, dass sich in der praktischen Tätigkeit sehr viel verändert hat. Ob ich da Erfahrungen weitergeben kann, weiß ich nicht. Mir ist vielmehr wichtig, dass ich die Schule nicht nur leite, sondern auch selber unterrichte. Ich möchte alle Settings in der Kranken-, Alten- und Kinderkrankenpflege sehen. Denn ich muss wissen, wie die Uhren ticken, welche Entwicklungen es gibt. Ich glaube, dass ich den jungen Schülerinnen und Schülern aus meiner Erfahrung als Berufsangehörige viel mehr mitgeben kann. Ich kann den Beruf und seine Rahmenbedingungen beobachten. Ich kann ihnen eine gewisse Stärkung geben, wie sie Professionalität für sich entwickeln können, wie sie Dinge, die ihnen begegnen, betrachten können, wie sie sich berufspolitisch engagieren könnten, wie sie auch ihren Anteil an der Weiterentwicklung der Pflege verwirklichen können.
Caritas in NRW: Stichwort Professionalität entwickeln: Wie geht das heute?
Menka Berres-Förster: Im privaten Umfeld hört fast jeder etwas über Pflege von jemandem, der gepflegt wird oder Pflege braucht. Professionell zu handeln heißt, Fähigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln, sodass man mit jedem Fall, der einem begegnet, arbeiten kann. Man muss also ein gewisses Repertoire an Kompetenzen haben, wie man mit Menschen arbeitet. Einerseits ist dazu Fachwissen notwendig. Andererseits ist echtes Interesse am Anderen notwendig um mit den Widersprüchen, die jeder sieht, der in die Pflege kommt, umgehen zu können: Man möchte helfen, man möchte gut seine Arbeit verrichten, man möchte auch Zeit für die Menschen haben, hat sie aber ganz oft nicht. Das auszuhalten, ohne dass der Patient oder der Pflegbedürftige darunter leidet, Pflegequalität gesichert ist, auch das ist Professionalität.
Caritas in NRW: Sie arbeiten bei einer Pflegeschule in christlicher Trägerschaft. Woran erkennt man das?
Menka Berres-Förster: Ich glaube, es steht und fällt mit den Menschen, die an solchen Schulen arbeiten und mit den Trägern dieser Schulen. Für die Trägerschaft dieser Schule kann ich sagen, dass sie den jungen Menschen immer das gegeben hat, was sie auch brauchten. Wenn wir in christlicher Trägerschaft sind, müssen wir den Schülern schon sagen: Wir kümmern uns um euch, wenn ihr Probleme in der Familien habt, wenn ihr finanzielle Engpässe habt, wenn es schwierige Lebensphasen in der dreijährigen Ausbildung gibt. Dann ist der Träger auch mit psychosozialer Beratung, mit Familienberatung da und tut konkret etwas. Das christliche Label oder jedes andere Label bliebe auch nur ein Label, würde es nicht mit Leben gefüllt.
Caritas in NRW: Der Pflegeberuf ist ein Beruf, in dem es nicht nur um Heilung geht. Sie stoßen auch an Grenzen, an Grenzen des Lebens. Hat es auch mit Professionalität etwas zu tun, mit solchen Grenzerfahrungen umgehen zu können?
Menka Berres-Förster: Ja. Das ist auch das Besondere am Pflegeberuf und an dieser Ausbildung: In keiner anderen wird man so früh in seinem Leben und so stark mit Körperlichkeit, Leid, Tod, Endlichkeit konfrontiert. In diesen Situationen verhilft den Schülern einerseits die Praxis zur Professionalität, andererseits aber auch die Schule. Sie muss in diesen drei Jahren eine Heimat sein, in der man das erlebte reflektieren kann und auch einen Rahmen findet, Dinge auszusprechen. Die Schülerinnen und Schüler sollen hier in der Schule über ihre Gefühle sprechen. Und es ist unsere Aufgabe, sie gut zu begleiten, damit sie ihre Arbeit gut machen können und sich letztendlich als Mensch gesund und stark genug für diesen Beruf zu fühlen.
Caritas in NRW: Sie wurden auch in Ihrer Ausbildung mit Situationen konfrontiert, die sie vorher nicht kannten. Wie hat das ihr persönliches Leben verändert?
Menka Berres-Förster: Wenn ich heute darüber nachdenke, wundere ich mich, wieviel man aushalten kann, wenn man so nah am Patienten arbeitet, wie in der Pflege. Es gab einige Patienten, an die ich mich heute noch erinnere, weil ihr Schicksal so schwer war. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass in solchen Situationen eine Institution wie diese Schule und die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen zum Wohl des Patienten schon etwas ist, was trägt. Das darf man nicht unterschätzen. Etwas völlig anderes ist es, wenn sie als Angehöriger pflegen. Da sind sie ganz anders involviert.
Das Interview führte Christian Heidrich.