Der Armut entfliehen
Weit weg ist vielleicht doch gleich um die Ecke. Wenn im Restaurant nebenan ein Rumäne die Teller spült oder sein Kollege für einen Hungerlohn das Schwein geschlachtet hat, dessen Schnitzel wir genüsslich verspeisen. Weit weg ist er dann von seiner Familie, die vielleicht im Dorf Sabaoani wohnt. Sabaoani, das Dorf im Kreis Neamt, eine der größten und ältesten Siedlungen im Nordosten von Rumänien. Von den rund 12000 Einwohnern in drei Ortsteilen haben sich 4000 in anderen europäischen Ländern das gesucht, was es hier im Nordosten des Landes seit der Wende kaum noch gibt: Arbeit.
Auf der regennassen Hauptstraße, die sich durch den kleinen Ort windet, fallen uns die vielen Kinder und älteren Menschen auf. Wir sind mit einer kleinen Delegation der Caritas aus der Diözese Münster nach Iasi geflogen, um mit den rumänischen Caritas-Kollegen ein gemeinsame EU-Projekt zu beschließen. In Sabaoani besuchen wir die Caritasstation, die mit den Fördermitteln aufgebaut werden konnte, und sprechen mit der Bürgermeisterin.
Valeria Dascalu kann unseren ersten Eindruck bei der Durchfahrt erklären: "170 Kinder werden hauptsächlich von den Großeltern betreut", weil ihre Eltern im Ausland arbeiten. Die Männer in allen Jobs, die sich finden lassen, die Frauen häufig als Pflegekräfte in Familien. Eine schwierige Situation, die die Bürgermeisterin und die Caritas-Kollegen vor Ort spürbar umtreibt. Die Kommune versuche, die Kinder zu unterstützen. Sowohl die Eltern als auch die Kinder "werden von Psychologen beraten", sagt Dascalu.
Es gibt zu wenig bezahlte Arbeit
Nah dran ist die katholische Kirche, die hier mit einer strahlend weißen Kirche in der Ortsmitte stark präsent ist. "Wir arbeiten mit jungen Freiwilligen und erfahren bei Hausbesuchen von der Situation der Familien", sagt der junge Kaplan Alin Contu. Dauerhaftere Hilfe wünscht sich allerdings Pfarrer Egidiu Condac, Direktor der Caritas Iasi, "aber derzeit können wir nur punktuell helfen".
Die ganze Familie ist neben den Einsätzen der Caritas-Mitarbeiter in die Pflege ihres Mannes eingebunden und hat sich dafür teilweise im EU-Projekt ausbilden lassen, berichtet Angela Anghel (rechts) der Caritas-Delegation aus dem Bistum Münster.Harald Westbeld
Punktuell werden neues Geld und Aufschwung in der landwirtschaftlich geprägten Gegend mit sonst eher einfachen, teils verfallenden Häusern und Brunnen an ungepflasterten Straßen sichtbar. Große neue Häuser, gerade fertiggestellt oder noch im Rohbau, dokumentieren den Rückkehrwillen der erfolgreicheren Gastarbeiter. "Sie warten nur auf Arbeit hier", sagt die Bürgermeisterin.
Die neu zu schaffen, sieht sie als ihre Hauptaufgabe. Von zehn Firmen, die bis zum Sturz Ceauşescus und seines kommunistischen Regimes 1989 Lohn und Brot boten, sind neun verschwunden. Das große Rohrleitungswerk, wenige Kilometer entfernt, gehört jetzt dem indischen Stahlbaron Mittal und beschäftigt statt 15000 gerade noch 2000 Menschen.
Förderung durch die EU
Mühsam ist der Neustart. Mit ihren Kollegen in zwei Nachbargemeinden hat Valeria Dascalu es geschafft, 2,8Millionen Euro Fördermittel von der EU zu bekommen. Die sollen viele Neugründungen in der Region ermöglichen, eine Mühle zum Beispiel in der landwirtschaftlich geprägten Gegend, in der wir viele Pferdefuhrwerke unterwegs überholen. Acht Mitarbeitern soll sie ein Auskommen sichern. Eine Autowerkstatt soll entstehen, bisher gibt es keine in dem abgelegenen Ort, etwa 70 Kilometer südlich der 350000-Einwohner-Stadt Iasi an der Hauptroute nach Bukarest. Dascalu denkt auch an den Aufbau einer Pelletproduktion.
Mit im Boot ist die Caritas. Wir, die Caritas in der Diözese Münster, haben die langjährigen Erfahrungen aus Beschäftigungsprojekten eingebracht. Unser Partner, die Caritas Iasi, hat über drei Jahre die Förderung der EU genutzt, um fast 1000 arbeitslose und teilweise behinderte Menschen vor allem in Krankenpflege sowie als Erzieherinnen, Tischler und Masseure auszubilden.
In Sabaoani, katholisch geprägt in einer Region mit über 90 Prozent orthodoxen Christen, sind allein 248 Arbeitslose qualifiziert worden. Schwierig wird es nur danach. Gerade zwei Dutzend haben eine Arbeit vor Ort finden können. Eine Reihe der in der Pflege ausgebildeten Frauen sind ins Ausland gegangen.
Am Krankenbett von Petru Anghel (61) in Sabaoani erläutern Egidiu Condac, Direktor der Caritas Iasi, und seine Mitarbeiterinnen von der örtlichen Sozialstation Dr. Ulrich Thien (links), Referatsleiter Soziale Arbeit im Diözesan-Caritasverband Münster, die Pflegesituation nach dem Sturz vom Pferdewagen.Harald Westbeld
Allerdings war die Vermittlung in Stellen nicht das alleinige Ziel, macht Egidiu Condac deutlich. Nicht weniger wichtig ist für ihn die Stärkung der häuslichen Pflege in den eigenen Familien. Es fehlt das für uns selbstverständlich gewordene dichte Netz an Anbietern ambulanter Pflege.
Angela Anghel hat da noch Glück, weil es in Sabaoani die Sozialstation der Caritas gibt. Im Mai letzten Jahres ist ihr Mann Petru vom Pferdewagen gestürzt. Seitdem liegt der früher so aktive 61-Jährige, der bei der Feuerwehr als Fahrer arbeitete, bewegungsunfähig im Bett. Im Anfang waren die Caritas-Schwestern sogar täglich vor Ort. Aber den Großteil der Pflege muss die Familie gemeinsam selbst leisten. Die Tochter hat einen Hauskrankenpflegekurs der Caritas dafür besucht.
Armutsflüchtlinge reisen nach Deutschland
Ungewiss bleibt, wie die Caritas Iasi nach Auslaufen des Projekts weiterarbeiten kann. Ohne neue Projektmittel werden die Aktivitäten wieder eingeschränkt werden müssen, denn eine staatliche Finanzierung gibt es bislang nur in sehr geringem Umfang. Nicht nur ideelle Unterstützung wird weiter benötigt.
Weit weg mögen diese Probleme erscheinen. Aber sie kommen ganz nah als "Armutsflüchtlinge". Die aus Not kommen, weil es zu Hause in Sabaoani für sie keine Perspektive gibt. Nicht, weil sie sich in Deutschlands soziale Hängematte legen wollen, wie manche meinen. Als Caritas müssen wir uns vor Ort für faire Arbeitsbedingungen für sie einsetzen. Und unsere Kollegen im 2000 Kilometer entfernten Iasi unterstützen im Aufbau tragfähiger Sozialstrukturen.
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