Überwintern in Deutschland?
Peter Renzel, der Essener Sozialdezernent hatte aus Serbien und Mazedonien Anregungen mitgenommen , um die sogenannte Winterwanderung der Roma an die schrumpfenden kommunalen Geldtöpfe in NRW einzuschränken. Jetzt sitzt er zwischen allen Stühlen. Im Essener Stadtrat ist Renzels Konzept "Sachleistungen statt Bargeld" durchgefallen, nicht zuletzt wegen Widerstands der Flüchtlingsorganisation "Pro Asyl". Das rechte Lager mit Pro NRW hatte schon vorher getönt, die Kommunalen hätten doch nur ihre Ideen geklaut. Polit-Getöse hier wie dort - Flüchtlingen aus z.B. Syrien oder Eritrea, die zu Hause um Leib und Leben fürchten müssen, hilft das alles nicht einen Zentimeter weiter. Und: Weit weg ist näher, als du denkst …
Doch blicken wir zurück auf eine Reise mit vielen Begegnungen, Gesprächen, Meinungen in Belgrad und Skopje, von der ein Caritas-Mann vor Ort gesagt hatte: "Wir sind gekommen, um zu lernen!" Vor allem suchten die Essener Antwort auf diese Frage: Was muss und kann in Mazedonien und Serbien geschehen, damit die Roma nicht jeden Winter wieder visumsfrei im Ruhrgebiet auf der Matte stehen, dann als Asylanten abgelehnt werden und im Frühjahr wieder mit der zusammengesparten Finanzhilfe, die dann locker einige Tausend Euro ausmachen kann, zurückgehen. "Armutswanderung" sagt man zu dieser Tour, ein Begriff, der politisch korrekt ist, die Realität aber nur streift.
Shutka, größte Roma-Siedlung der Welt
Schauen wir uns um und lernen wir, zum Beispiel in Shutka, der wahrscheinlich größten Roma-Siedlung der Welt am Rande der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Wir sehen und staunen: nagelneue SUV-Geländewagen neben Pferdekarren. Mehrstöckige Villen, gut umzäunt, hier; armselige Baracken, die der Abfall zusammenhält, dort. Menschen, die zur Arbeit fahren, hier. Menschen, die den Tag vergammeln, dort. Die Eindrücke einzuordnen fällt nicht leicht und ist wie immer im Leben eine Sache der Perspektive.
Was hier auch bedeutet: Deutschland, aber auch Serbien und Mazedonien sind Teil des Problems und Teil der Lösung. Roma-Vertreter wie Osman Muhamed im Belgrader Stadtteil Palilula schütteln nur den Kopf, wenn sie hören, welche finanziellen Verlockungen den Roma in deutschen Städten winken. "Da müsst ihr aktiv werden", meint er und wird später vom Mann der ehemaligen Roma-Referentin Sarita Esharovska in Skopje unterstützt: Das Geld, das deutsche Kommunen den Roma auf Winterwanderschaft in bar auszahlten, sei kontraproduktiv zu den Bemühungen in den Heimatländern, die Kinder der Roma am Bildungssystem teilhaben zu lassen und zu guten Schulabschlüssen zu führen. Wer quasi ein halbes Jahr in seinem Heimatland nicht zur Schule gehe, habe keine Chance, den versäumten Lehrstoff nachzuholen, meint der Mann und weiß, wovon er spricht: Er ist Lehrer.
Apropos Schule: Bei allen politischen Gesprächen in Skopje und vorher schon in der serbischen Hauptstadt Belgrad steht das Thema "Schule und Bildung", die beide wahrscheinlich der Schlüssel zur Zukunft der jüngeren Roma-Generation sind, immer wieder im Mittelpunkt. Erkenntnis dabei: Je mehr die Kinder vor Ort lernen, je besser ihre Zeugnisse und Qualifikationen sind, desto größer sind die Chancen, in der Heimat auf dem Balkan einen ordentlichen Job zu finden. Die Caritas weiß das, viele Nichtregierungsorganisationen wie Nadez ("Hoffnung"), die auch mit der Ruhrcaritas zusammenarbeitet, wissen das ebenfalls.
Zur Abschreckung: Sachleistungen
Man müsse jetzt zu fairen Lösungen für alle Seiten kommen, und da sei ein gesamteuropäisches Konzept zur Armutsmigration bzw. Flüchtlingspolitik wichtig, sagt Verwaltungsmann Renzel. Ob die von ihm propagierte "Karte Europa" kurzfristig sticht, darf bezweifelt werden - erst vor Kurzem hat sich der EU-Gipfel unfähig gezeigt, als es um Lehren nach der Katastrophe vor Lampedusa ging. Nötig sind andere Ansätze, etwa der, den das Asylbewerberleistungsgesetz als Regelfall vorsieht - die Gewährung von Sachleistungen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Den Roma vorzuwerfen, sie würden die deutschen Behörden austricksen, führt zu weit. Aber sie nutzen clever die sich bietenden (legalen) Möglichkeiten. Osman in Belgrad bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: "Nach Deutschland gehen die von uns, die es sich leisten können und die hier im Winter die Heizkosten sparen wollen. Die Armen bleiben hier." Das Armutsgefälle innerhalb der diversen Zigeuner-Sippen ist sehr unterschiedlich. Im nördlichen Belgrader Stadtteil Borca haben sich rund 2000 Kosovo-Roma sogar ein eigenes Moschee-Haus gebaut, wie mit Stolz Saban berichtet, der durch die Wirtschaftskrise seine Arbeit in einer Gießerei verloren hat und heute von Gelegenheitsjobs (etwa Plastikflaschen und Papier sammeln) sowie einem Zuschuss der Stadt lebt. Saban sagt, und das hören wir häufig auf unserer Tour: "Ich bin zufrieden hier."
Anderswo in Belgrad, auch in Mazedonien sieht die Roma-Welt dunkler, teilweise erbärmlich aus. Bis zu 150 illegale Siedlungen nennt etwa offiziell der Sozialdezernent von Belgrad, Nenad Matic. Wir stoßen an einer Ausfallstraße auf eine, die direkt neben einer Tankstelle liegt: Eine Müllhalde sieht besser aus. 20 Kilometer weiter, in der Ortschaft Ripanj, stehen Wohncontainer, auf denen noch das Caritas-Logo einer früheren Rückführungsaktion zu erkennen ist. Viele Roma in Ripanj schimpfen: "Wir haben kein Wasser, wir haben keinen Strom!" Die Stadt habe ihnen das seinerzeit versprochen, nichts sei geschehen. Sie behelfen sich, klauen Strom und besorgen sich mit Kanistern Wasser, wo immer dies frei zugänglich fließt. Fatima zeigt uns ihren Wohnraum. Sogar ein Computer steht da, dem freilich die Hälfte seines technischen Innenlebens fehlt. "Funktioniert nur manchmal", sagt sie. Ihr Nachbar, den sie alle - man begreift schnell, warum! - "Ein-Zahn" nennen, ist stolz auf Mofa und Computer, sagt aber, er habe keine Toilette und kein Bad. Die gab es zwar mal in den Containern, die verschwanden dann aber auf wundersame Weise ...
Wie das Thema "Winterwanderung" weitergeht bzw. ob es für alle Seiten fair gelöst werden kann, ist offen. Gerade war der Innenminister von Schleswig-Holstein, Andreas Breitner (SPD), zum gleichen Thema auf dem Balkan unterwegs. Seine Erkenntnisse sind ziemlich deckungsgleich mit denen der Essener Delegation. Und erste Städte in NRW haben, unabhängig vom "No-Go" des Essener Rates, begonnen, bei Roma, die zum wiederholten Mal an die versperrte Asyltür klopften, kein Geld mehr auszuzahlen.