Kurze Wege
Achim Pohl/LAG Freie Wohlfahrtspflege NRW
Zwei dicke, prall gefüllte Aktenordner liegen auf dem Tisch. Dagmar Kogel, Leiterin der Kita "Schatzinsel" (SkF) in Aachen, klopft darauf: "Hier steckt eine Menge Arbeit drin." Vor vier Jahren hat sie den ersten Ordner bearbeitet, über den Kriterienkatalogen gebrütet, die Bögen ausgefüllt. Das Ergebnis der langen Mühen und Überstunden: 2008 wurde die Kita "Schatzinsel" als Familienzentrum zertifiziert. "Das war damals schon ein Arbeitspensum für anderthalb Stellen", erinnert sie sich an ihre Zusatzbelastung. Aber in ihren Augen haben sich die Anstrengungen in jedem Fall gelohnt.
Die Kita "Schatzinsel" kann inzwischen den Familien eine ganze Reihe von zusätzlichen Angeboten machen und mehr und direktere Unterstützung anbieten als früher. Familienzentren sollen dort, wo die Menschen zu Hause sind, nämlich im eigenen Stadtteil, umfassende Angebote an Beratung und Hilfe machen, so lautete die politische Entscheidung des damaligen NRW-Familienministers Armin Laschet. Die Regierung hat inzwischen gewechselt, das Konzept der Familienzentren ist geblieben.
Zusätzliche finanzielle Unterstützung
Dagmar Kogel hat inzwischen auch die Rezertifizierung der Kita "Schatzinsel" erreicht, sie deutet lächelnd auf den zweiten dicken Ordner. "Das bedeutet für unsere Kita eine zusätzliche finanzielle Unterstützung von 13 000 Euro pro Jahr", erklärt sie.
Um ein möglichst breites Angebot machen zu können, suchte Dagmar Kogel sich verschiedene Kooperationspartner wie IN VIA Aachen mit der ElternSchule Aachen, die Evangelische Beratungsstelle Aachen oder den Verband Alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV), die Caritas, das Jugendamt und eine Naturheilpraxis - um nur einige von ihnen zu nennen. "Diese Partner muss jedes Familienzentrum selbst auswählen und dann die Art der Zusammenarbeit festlegen", erklärt sie.
Elternkompetenzkurs ist der Renner
"In einem Familienzentrum, wie wir es jetzt sind", erklärt Dagmar Kogel, "bekommen die Eltern viele unterstützende Angebote an einem Standort." Der "Renner" bei ihren Kursen ist beispielsweise der Elternkompetenzkurs. Der wird offen angeboten und manchen Eltern auch ein wenig "nahegelegt". Wenn die Erzieherinnen mitkriegen, dass ein Kind seiner Mutter oder seinem Vater arg auf der Nase herumtanzt, "wenn wir einfach eine gewisse Hilflosigkeit im Umgang mit dem Kind feststellen", dann werden die Eltern ausdrücklich eingeladen. Und seien auch dankbar für die professionelle Unterstützung.
Kurze Wege, möglichst niedrige Hemmschwelle - so lautet das Konzept für die Familienzentren. Bei familiären Problemen und Erziehungsfragen wendet jeder sich lieber erst einmal an die Fachleute, die er persönlich gut kennt. So fungieren die Erzieherinnen als erste Ansprechpartner und können nun in ihrem Netzwerk an die entsprechende Stelle weitervermitteln.
Scheidungsprobleme am häufigsten
Dagmar Kogel und die ZertifizierungsurkundeClaudia Dechamps
Finanznöte und Scheidungsprobleme stellen viele Familien vor große Herausforderungen. "Wenn ein Kind viel weint, suchen wir das Gespräch mit der Mutter oder den Eltern. Dann stellt sich oft heraus, dass das Paar in Trennung lebt, und wir können sie auf die Gruppenabende des VAMV hier im Haus verweisen", sagt Dagmar Kogel. Seit der Zertifizierung kommt auch regelmäßig ein Psychologe zu Sprechstunden ins Haus. Auch das bedeutet für die Eltern eine erhebliche Entlastung.
"Bei einer Familie kriegten wir immer die Auseinandersetzungen über Erziehungsfragen mit", erinnert sich Kita-Leiterin Kogel. "Die junge Mutter mit ausländischen Wurzeln war in Deutschland geboren, ihr Mann aus einem muslimischen Land zugewandert. Die Eltern waren sich immer wieder uneins in Erziehungsfragen, gerade was den Jungen betraf. Da war ich dankbar, die junge Mutter ohne lange Wartezeiten hier im Haus zur psychologischen Beratung schicken zu können - die sie dann auch mehrere Wochen lang in Anspruch genommen hat."
"Trotz, Sauberkeitserziehung oder Aggressionen sind häufige Themen meiner Sprechstunden", erzählt Alfred Gerke von der Evangelischen Beratungsstelle. Auch die unterschiedlichen Auffassungen von Erziehung und der sich daraus ergebende Streit spielen eine wichtige Rolle in seinen Beratungsgesprächen. Psychologe Gerke ist neben den Eltern auch für das Kita-Team da und steht den Mitarbeiterinnen beratend zur Seite.
Entlastung für die Familien
Eine Entlastung der Familien stellen auch die logopädischen Sitzungen dar, die Kinder mit Förderbedarf im Familienzentrum bekommen können. Für die Mütter entfallen damit zusätzliche Bring- und Hol-Termine. Genauso wie mit der Theater-AG, zu der Große wie Kleine eingeladen sind. "Die Eltern finden das Angebot toll, und die Kinder haben großen Spaß", berichtet Dagmar Kogel.
Elternabende, Elternkurse, Spielegruppen, Kochtreff - die Liste der Veranstaltungen ist lang und deckt viele Bereiche ab. Neben der fachlichen Beratung und Unterstützung kommen in den Zusatzangeboten des Familienzentrums "Schatzinsel" auch Spaß und geselliges Miteinander nicht zu kurz. "Für die Großeltern bieten wir - auf mehrfachen Wunsch der Eltern - einen Erste-Hilfe-Kurs an, bei dem sich die Omas und Opas auch mal gegenseitig kennenlernen können."
Durch regelmäßige Elternumfragen erfährt Dagmar Kogel von den Wünschen und Vorstellungen der Eltern. Zum Standard gehören bei der "Schatzinsel" inzwischen die Nähkurse, die von Gudrun Behlau, einer jungen Mutter, angeboten werden. Drei Kurse hat sie parallel laufen, alle sind voll. "Wir nähen was für die Kinder, Klamotten für uns selbst oder machen Wohnaccessoires", erzählt die gelernte Textildesignerin, die sich über die Resonanz auf ihre Kurse freut. "Eigentlich können wir alles anbieten, was die Eltern sich hier wünschen", sagt Dagmar Kogel. "Vielleicht ist es aber auch immer noch zu wenig bekannt, dass man in einem Familienzentrum kostenlos Räume haben kann für alle Themen rund um Familie, Erziehung und Kinder."
Weitere Angebote
Viele Familienzentren (FZ) bieten medizinische und pflegerische Infoveranstaltungen an, z. B. zur Mundhygiene durch eine Zahnärztin oder eine Hebammensprechstunde oder Babysitterkurse für Jugendliche mit der anschließenden Möglichkeit, die Babysitter zu vermitteln. Die Beteiligung von FZ an Aktivitäten im Stadtteil ist natürlich auch ein wesentlicher Teil der Arbeit. So gibt es immer wieder Kitas, die sich an multikulturellen Spielplatzfesten oder Stadtteilfesten beteiligen. Nicht zu vergessen ist die Begleitung der Kinder mit ihren Familien beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Rund um dieses Thema sind Eltern in der Kita gut beraten. Für viele Familien (oft für die Mütter) ist "ihre" Erzieherin in der Kita eine ganz wichtige Stütze im Alltag. Sie weiß, an wen man sich wenden kann, wenn es Probleme gibt, kennt vielleicht jemanden beim Job-Center und weiß, was man da mitnehmen muss, kennt einen Kinderarzt, von dem auch andere Mütter positiv berichten, hört sich die Sorgen und Nöte im Alltag an und ist jeden Tag kurz zu sprechen.