Irgendwann zurück nach Hause ...
Das neue Angebot des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) aus Essen-Mitte will Mädchen im Alter von zwölf bis 16 Jahren und deren Eltern durch intensive therapeutische Betreuung unterstützen, wieder zueinanderzufinden. Die Jugendlichen leben in einer Wohngruppe, doch die Eltern behalten die Erziehungshoheit - deshalb das Handyverbot der Mutter. Beim "Home- Run" im Baseball holt der Schlagmann mit nur einem einzigen Abschlag den Punkt für die Mannschaft nach Hause. Das HomeRun-Projekt des SkF ist dann erfolgreich, wenn es gelingt, die Jugendlichen nach Hause zurückzuholen, wieder ein Zusammenleben mit den Eltern zu ermöglichen.
Fünf Mädchen können aufgenommen und maximal ein Jahr lang betreut werden. Die Teenager stammen aus Familien, die dem Jugendamt bekannt sind. Familien, die schwierige Situationen, belastende Trennungen oder Arbeitslosigkeit nicht verkraftet haben. Meist fehlen verbindliche Regeln und Tagesstrukturen. Nicht selten spielen Alkoholprobleme eine Rolle. "Trotz aller Schwierigkeiten haben viele Familien den Wunsch zusammenzuleben", sagt SkF-Geschäftsführer Björn Enno Hermans. Das Problem: Eltern und Kinder fallen immer wieder in die gleichen Verhaltensmuster zurück, der nächste Konflikt ist programmiert.
Ein Teufelskreis: Es gibt Zoff, weil die Tochter mal wieder stundenlang das Badezimmer okkupiert. Ein Wort ergibt das andere, die Situation eskaliert. Irgendwann "rutscht" dem (Stief-)Vater die Hand "aus". Das Mädchen reißt aus, taucht bei einer Freundin oder einem zwielichtigen Lover unter, lässt sich tagelang nicht blicken, natürlich auch nicht in der Schule. Irgendwann kehrt die Tochter reuevoll nach Hause zurück, es geht ein paar Wochen gut, dann bekommt man sich erneut in die Wolle, und das Drama beginnt von vorn. Ohne fremde Hilfe können die Beteiligten die Situation nicht ändern.
Hier setzt HomeRun an. Die Mädchen verlassen die Familie für eine Zeit, ziehen in die Wohngruppe im Theresienheim in der Dammannstraße und werden dort intensiv von Familientherapeuten und Pädagogen betreut. Ebenso erhalten die Eltern in wöchentlichen Familiengesprächen, bei gemeinsamen Aktivitäten und in Einzelcoachings Unterstützung. Dabei werden die Eltern "rangenommen". Sie bleiben, anders als bei einer Heimunterbringung, in der Erzieherrolle. "Wenn ein Kind zwei Stunden zu spät in die Gruppe zurückkommt, rufen wir die Eltern an und fragen sie, wie wir ihrer Meinung nach reagieren sollen", erzählt Familientherapeutin Birgit Rosenfeld aus der Praxis.
Nadine, die in den nächsten Tagen ohne Handy auskommen muss, hat sich längst häuslich eingerichtet. In ihrem Zimmer hängen zwei Poster von Mädchenschwarm Taylor Lautner, vorm Fenster mit Blick auf die A 40 steht ein großer Spiegel. Auf dem Regal neben ihrem Bett hat sie ihre persönlichen Schätze aufgereiht, einen glitzernden Schutzengel, zwei Bärchen und eine Schatztruhe mit Muscheln.
Wenn die Kommunikation gestört ist
Ihr Tagesablauf ist klar strukturiert: Wecken, gemeinsames Frühstück, Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, maximal eine halbe Stunde Computer am Tag, Therapiegespräche, 22 Uhr ist Schlafenszeit, dann wird das Handy einkassiert. "Ganz schön nervig", eine Einschätzung, die wahrscheinlich viele Teenager mit ihr teilen. Bei Nadine kommt hinzu, dass sie klare Strukturen in ihrer Familie nicht kennengelernt hat. "Die elterliche Präsenz fehlt sehr oft", sagt der Psychologe Hermans dazu. Außerdem ist die Kommunikation meist nachhaltig gestört. Ein Gespräch kommt nicht zustande. "Egal was ich sage, meine Mutter reagiert voll sauer", erzählt Nadine, ein bildhübsches Mädchen, das perfekt geschminkt ist. Statt Argumente auszutauschen, fliegt ganz schnell die Fernbedienung - oder was sonst grade greifbar ist - durch die Gegend.
In solchen Situationen ist die Hauptschülerin dann lieber abgehauen, erst recht, wenn abends irgendwo eine Party anstand. Sie ist dann gleich vier, fünf Tage untergetaucht. Niemand wusste, wo die 14-Jährige steckte. Weder die Mutter noch die Lehrer - in der Schule ist sie natürlich auch nicht erschienen. Die erste Nacht hat sie durchgefeiert und keinen Gedanken daran verschwendet, dass sich jemand um sie sorgen könnte. Am nächsten Tag traute sie sich dann nicht nach Hause. "Ich konnte meiner Mutter einfach nicht in die Augen gucken." Montags bis freitags leben die Mädchen in der Wohngruppe, das Wochenende verbringen sie in der Regel in ihren Familien. "Wir besprechen, wie das Wochenende gelaufen ist. Gab es zum Beispiel Situationen, in denen das Mädchen Angst hatte?", so Birgit Rosenfeld. Die Jugendlichen - und bei den Familiengesprächen auch die Eltern - sollen über ihre Gefühle und Probleme sprechen. Alle Beteiligten müssen eine neue Art des Umgangs miteinander lernen. Zuhören, aufeinander eingehen - was gar nicht so einfach ist, wenn man es jahrelang anders gewohnt ist.
Die Eltern können ihre Kinder jederzeit bei HomeRun besuchen. Gestern zum Beispiel hat Sarahs Mutter in der modern eingerichteten Wohnküche eine Gemüsesuppe mit der Tochter zubereitet. Jedes Mädchen übernimmt einmal in der Woche den Küchendienst: Rezepte raussuchen, frische Zutaten einkaufen und kochen - gesundes Essen gehört auch zum Konzept. "Das hat richtig Spaß gemacht", sagt die 15-Jährige, die erst vor ein paar Wochen eingezogen ist. Gemeinsame positive Erlebnisse schaffen ist ebenfalls Bestandteil des Konzepts. Birgit Rosenfeld: "Dazu organisieren wir auch Ausflüge, zum Beispiel in den Kletterpark oder zum Picknick."
Bei diesen Aktivitäten bekommen die Eltern mit, wie andere Mütter und Väter mit ihren heranwachsenden Töchtern umgehen, und vergleichen die Verhaltensweisen mit ihren eigenen: Lernen ohne pädagogischen Zeigefinger vor der Nase. Auch Freunde können die Mädchen jederzeit besuchen. Doch meistens erzählen die Teenager gar nicht, wo sie zurzeit wohnen, auch den Klassenkameraden nicht. Die Familie bleibt für die meisten das Ideal. "Ich würde schon gerne wieder nach Hause. Da hab ich mein eigenes Zimmer mit Fernseher und Computer", sagt Nadine. Sarah ist sich nicht sicher, ob sie sich auf Dauer mit ihren beiden jüngeren Stiefbrüdern arrangieren könnte. "Ich möchte auf jeden Fall Kontakt zu meiner Familie. Aber eigentlich möchte ich möglichst schnell selbstständig werden. Vielleicht mit Freundinnen in eine eigene Wohnung ziehen."
Heimaufenthalte vermeiden
Björn Enno Hermans ist klar, dass nicht alle in ihre Familie zurückkehren werden. "Nach drei Jahren werden wir Bilanz ziehen, ob es sich lohnt", sagt der Geschäftsführer. Denn das Projekt ist kostenintensiv, auf einen Betreuungsplatz kommt eine Personalstelle, und das Jugendamt wird nur dann weiterhin die Kosten übernehmen wollen, wenn das gesetzte Ziel, die Rückführung in die Familien, erreicht wird. Hermans: "Wenn ein Großteil zurückkehrt und die anderen im Kopf aufgeräumt haben und anschließend wissen, in welcher Form es weitergehen soll, hat es sich gelohnt. Dann entfallen viele jahrelange Heimaufenthalte."
Gabriele Beautemps
* Die Namen der Mädchen wurden geändert.