Partizipation oder Almosen
Mit anpacken, Kisten schleppen, Gutes tun – Ehrenamtliche engagieren sich gerne bei Warenkörben und Tafeln.Harald Westbeld
3777. Das ist ihre Kartennummer. Die steht an diesem Freitag erst im fünften Zehnerblock. Christel Brockmann hat noch Zeit und kann erst etliche Kunden bedienen. Heute muss sie auch keine Eile haben. Die Regale sind heute wieder gut gefüllt im Warenkorb der Caritas in Ahlen. Später wechselt sie die Seiten. Die Verkäuferin wird zur Kundin, um günstig Obst, Gemüse, Brot und Aufschnitt mit nach Hause nehmen zu können. Der Monat ist schnell um, das Geld knapp, denn sie muss mit Arbeitslosengeld II auskommen und lebt allein.
Christel Brockmann ist 54, ihren letzten Job hat sie im April 2010 verloren, weil sie die Letzte war, die im Geschäft eingestellt worden war, und damit die Erste, die gehen musste, als die Belegschaft verkleinert werden musste. Seitdem hat sie keine bezahlte Arbeit mehr finden können. "Die wollen immer Jüngere, am liebsten 25 Jahre alt, mit vielen Jahren Berufserfahrung", ärgert sie sich. Und manchmal ist sie als gelernte Fleischfachverkäuferin auch zu teuer. Dabei kann sie richtig anpacken, ist im turbulenten Verkaufsgeschehen des Warenkorbs spürbar in ihrem Element, packt zügig Radieschenbündel, Blumenkohl und Orangen auf die Theke, rechnet die Summe zusammen, scherzt nebenbei mit den Kunden. Hätte sie diese ehrenamtliche Aufgabe nicht, würde ihr "zu Hause die Decke auf den Kopf fallen", sagt sie. Das Team der Ehrenamtlichen schätzt ihre zupackende Art und ist froh um die Verstärkung.
Die große, schlanke Frau, der man auf den ersten Blick nicht zutrauen würde, die schweren Gemüsekisten aus dem Kühlraum an die Verkaufstheke zu schleppen, ist nicht die einzige "Kundin", die die Seiten gewechselt hat und zur ehrenamtlichen Mitarbeiterin des Warenkorbs geworden ist. Fast das gesamte Fahrer- und Beifahrerteam gehört dazu. Von den zwei Frauen und vier Männern haben fünf eine Einkaufsberechtigung für den Warenkorb.
Betroffene zu Beteiligten zu machen, ist eine Forderung der Caritas in NRW im Anschluss an die Studie der Forschungsgruppe Tafelmonitor (Selke/Maar *) zu Warenkörben, Suppenküchen und Kleiderkammern. Es bedeutet, ihnen sinnstiftende Arbeit zu ermöglichen, ihre Fähigkeiten und Ressourcen zu stärken und zu fördern (verkaufen, Waren sortieren, Fahrdienste, Kaffee kochen ...). Oder anders gesagt, Menschen durch Mitarbeit Würde zu ermöglichen und sie aus ihrer Bittsteller-Rolle herauszuholen.
Vor sechs Jahren hat Frank Thom (46) seine Stelle als Lagerarbeiter verloren, allen Bemühungen zum Trotz nichts Neues finden können. Zwei Jahre lang hat er selbst im Warenkorb eingekauft, dann hat ihn seine Schwägerin Nicole Goetsch (39) überredet, mal als Beifahrer mitzukommen. Sie sitzt an diesem Morgen am Steuer des weißen, mit reichlich Sponsoring beklebten Transporters des Caritasverbandes Ahlen. Gut zwei Stunden haben sie Bäckereien, Discounter und Lebensmittelgeschäfte in Ahlen und im Umland angefahren. Kurz nach dem Öffnen der Ladentür um 10 Uhr unterbricht ihre Ankunft den Verkauf. Erst einmal müssen die Kisten ausgeladen werden. Einige Kunden packen spontan mit an, in wenigen Minuten ist der Wagen geleert, deutlich mehr Gemüse, Obst und Eier sind jetzt im Angebot.
Das Engagement vieler ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Team des Warenkorbs wird begleitet und moderiert, organisiert und reflektiert. Das macht Lisa Wieland, eine hauptamtliche Sozialarbeiterin des CV Ahlen, die für diese Aufgabe ein bestimmtes Stundenkontingent zur Verfügung hat.
Ihre Arbeit ist eine notwendige Voraussetzung, um das nicht ganz einfach zu gestaltende Miteinander zwischen Nutzerinnen und Mitarbeitern des Warenkorbs, zwischen Nutzerinnen, die gleichzeitig auch Mitarbeiterinnen sind, und anderen Mitarbeitenden (aufgrund anderer Beweggründe) professionell zu unterstützen.
Die Lebensmittelindustrie fördert die Tafeln und spart die Entsorgungskosten.Harald Westbeld
Ursprünglich sollten Kunden nicht zu Mitarbeitern werden. Zu groß war die Sorge vor bösen Zungen, die ihnen Bevorzugung beim Einkauf unterstellen würden. Die Gerüchte lassen sich nur durch klare Regeln bekämpfen. Deshalb kann Christel Brockmann sich auch nicht vor Öffnung des Warenkorbs bedienen, sie muss warten, bis ihre Nummer an der Reihe ist oder bis zum Ladenschluss. Damit jeder mal am Anfang die größte Auswahl hat, rotieren die Nummern.
Lisa Wieland trägt mit dazu bei, dass der Warenkorb sich nicht auf die alleinige Almosenabgabe beschränkt, sondern sie gestaltet ihn zu einem lebenswerten Ort und wirkt damit in politische Strukturen und gesellschaftliche Denkschemata hinein. Eine wichtige Aufgabe sieht die Sozialarbeiterin darin, den Warenkorb als Ort der Begegnung zu gestalten. Die Menschen spüren, dass Mittun das eigene Selbstwertgefühl fördert und dass ein direktes Helfen für die Verwirklichung menschlicher Grundbedürfnisse notwendend sein kann.
Der Bedarf bleibt groß und ist über die Jahre gewachsen. Der Warenkorb der Caritas Ahlen war das erste Geschäft, das in der Diözese Münster gespendete Waren günstig anbot. 120 Berechtigungskarten, die im Durchschnitt vier Personen im Haushalt versorgen können, werden hier im Quartal ausgegeben. Aber nicht alle "Einkaufsberechtigten" nutzen sie und kommen dienstags und freitags in den Warenkorb. Die Kundenzahlen bewegen sich relativ stabil zwischen 35 und 45 Kunden pro Verkaufstag. Die Hemmschwellen sind groß. Es kostet viel Überwindung, sich zu seiner Armut zu bekennen. Ulla Ebeling, die an diesem Tag den Kundeneinlass regelt, berichtet: "Eine Frau musste ich beim ersten Mal in den Warenkorb begleiten." Die sehr schüchterne Kundin habe Angst gehabt, ausgelacht zu werden.
Umso wichtiger deswegen auch die Frage, wie die Menschenwürde der Kunden gewahrt, wie ihrem verständlichen Schamgefühl begegnet werden kann. Stefan Selke zeigt in der Studie Vorschläge der Betroffenen auf, und Lisa Wieland erlebt dies in der Praxis. Wichtig sind z. B. klare Regeln und Rahmenbedingungen für ein gelingendes Miteinander (verbindliche Zeiten, Rollenwechsel der Nutzerin in die Mitarbeiterinnenrolle, verbindliche Teamregeln, keine Selbstbedienung an den Waren, Konflikte im Teamalltag u.v.m.). Daneben gilt es besonders, die Stärken und Schwächen, die Wünsche und Hoffnungen der von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen zu erkennen, zu fördern und sinnvolle Perspektiven in diesem caritativen Angebot zu ermöglichen.
Dass Beteiligung ein Schritt auf dem Weg ist, Ängste abzubauen, wird allein an der Motivation deutlich. An sechs Tagen in der Woche sind die beiden Fahrerteams unterwegs, abwechselnd in drei Tagesschichten und auf den langen Touren von acht Uhr bis mittags. Keine leichte Arbeit, denn da gibt es viel zu schleppen. Sie haben zwar eine kleine Sackkarre dabei, aber ohne geht es noch schneller. Begehrt sind trotzdem nicht die kurzen, sondern die längsten Touren. Christel Brockmann war am Anfang so engagiert, dass sie an ihre gesundheitlichen Grenzen stieß. An jedem Verkaufstag half sie im Warenkorb mit. Jetzt hat es sich eingespielt. Gebraucht wird Christel Brockmann auf jeden Fall, denn gerade mal 25 Ehrenamtliche stehen für das Verkaufsteam zur Verfügung, und fünf müssen an jedem Verkaufstag bereitstehen.
Ziel der professionellen Begleitung und Reflexion durch Lisa Wieland ist die ständige Vergewisserung der Teammitglieder z. B. über die Motive des Handelns. Denn auch eine Warenkorbarbeit kann stolz oder bescheiden machen, menschenfreundlich oder herablassend wirken, beteiligend oder ausgrenzend sein. Deshalb sind regelmäßige Teamsitzungen das Instrument einer transparenten Kommunikation aller Beteiligten.
Im reichen Deutschland sind immer mehr Menschen auf die Tafeln angewiesen.Harald Westbeld
Gerne würde Lisa Wieland den Warenkorb an einem dritten Tag öffnen, aber da fehlen ihr die Mitarbeiter. Neue zu finden sei nicht so einfach, auch nicht aus den Reihen der Kunden. Zwei türkische Frauen hätten es mal probiert, aber seien an der nicht sicherzustellenden Kinderbetreuung gescheitert. Aktuell gibt es jetzt wieder eine Kundin, die an einer Mitarbeit interessiert ist. Sie hat wegen Geschäftsaufgabe ihre Stelle verloren und soll zur Probe arbeiten. Ohne Versuch geht es nicht. Alle hinter der Theke sagen zwar, dass es Spaß macht, und das ist offensichtlich auch so. Aber das heißt nicht, dass es immer einfach ist mit den Kunden. Da gibt es auch schon mal Ärger, mit dem man umgehen kann und den man aushalten muss, beschreibt Lisa Wieland ihre Rolle als Begleiterin des Warenkorbs.
Aggressionen bauen sich manchmal vor der Tür auf, wenn alle möglichst schnell reinwollen, gerade im Winter. Aber Ulla Ebeling lässt sich einzeln die Berechtigungskarten zeigen, schaut in der Nummernliste nach und achtet darauf, dass die Reihenfolge eingehalten wird. Wer sich ausgewiesen hat, darf neben dem Verkaufsraum warten. Eigentlich ist es das Café des Warenkorbs, für das einige der Kunden in den Koch- und Backkursen, die in der Küche im hinteren Bereich regelmäßig angeboten werden, den Kuchen backen. Seit der Fachtagung des Diözesan-Caritasverbandes zur "Selke- Studie", an der mehrere der Warenkorb-Mitarbeiterinnen teilgenommen haben, soll kein Kunde mehr draußen warten müssen. Das wurde danach spontan beschlossen.
Warenkorb - Tafeln - existenzunterstützende Angebote
Gemeindliche und caritative Träger bieten vielerorts Suppenküchen, Kleidershops, Möbelhäuser, Tafelläden, Warenkörbe, Lebensmittelgutscheinausgaben und Sozialkaufhäuser an. Kennzeichnend für all diese Angebote ist die Unterstützung von Menschen, die unter ihrer Armut und Ausgrenzung leiden. Einheitlich wird für diese Dienste der Begriff "existenzunterstützende Angebote" verwendet.
"Für die Nutzerinnen und Nutzer existenzunterstützender Angebote sieht die Lebenswirklichkeit anders aus als die Festlegung durch Gesetze und Ausführungsbestimmungen. Die Studie der Forschungsgruppe ‚Tafelmonitor‘ belegt, dass die Vielzahl der Angebote zur Verfestigung von Armut führt. Die Politik ist versucht, in den unterstützenden Angeboten im Lebensmittel-, Bekleidungs- und Möbelbereich eine willkommene Abfederung für ihre Sparpolitik auf dem Rücken der Armen zu erkennen.
Die Interviews mit den Nutzerinnen (...) machen deutlich, wie wenig armutsfest der Sozialstaat in Deutschland tatsächlich ist. (...) Nutzerinnen und Nutzer sehen die Funktion dieser Angebote darin, die finanziellen Lücken zu verkleinern, die durch prekäre Arbeitsverhältnisse (‚Arbeit, deren Lohn nicht zum Leben reicht‘), unzureichende Regelleistungen u. Ä. entstehen."
Aus "Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern? Hilfen zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit" (Seite 5)
* Selke, Stefan/Maar, Katja, Grenzen der guten Tat. Ergebnisse der Studie "Evaluation existenzunterstützender Angebote in Trägerschaft von katholischen und caritativen Anbietern in Nordrhein-Westfalen", in:
Caritas in NRW (Hg.): "Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern? Hilfen zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit", Lambertus Verlag (Freiburg), 2011, S. 15-91