Eine Kulturleistung des Menschen
Es geht um Partizipation. Denn der Mensch ist kein selbstgenügsames Wesen. Er weiß und wusste immer, dass sein Leben gegenüber dem Ganzen von Raum und Zeit sehr begrenzt ist. Und um über diese Erkenntnis nicht in ein depressives Gefühl von Sinnlosigkeit zu verfallen, musste und muss er seine Einzelheit, seine Begrenztheit, seine Endlichkeit mit dem Ganzen, dem Grenzenlosen und Ewigen in Beziehung setzen.
Insofern ist der Gedanke der Partizipation tatsächlich ein Urgedanke der Menschheit, seit jeher ein Thema von Mythos, Religion und Philosophie. Er reflektiert die Frage, wie der einzelne Teil (lateinisch: pars) das Ganze (totum) fassen, ergreifen (capere) kann.
Der Gedanke der Partizipation ist also ideengeschichtlich keineswegs auf den Bereich der politischen Philosophie beschränkt, auch wenn er hier natürlich immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Denn der Mensch ist kein Einzelgänger. Er besitzt zwar Verstand, ist aber in physischer Hinsicht von der Natur nur äußerst spärlich ausgestattet; er ist ein "Mängelwesen" (Arnold Gehlen). Die natürlichen Mängel, die ihm das Überleben in der rauen Umwelt erschwerten, musste der Mensch dadurch ausgleichen, dass er sich eine Ersatz-Natur schuf: die Kultur. Das konnte er aber nicht allein, sondern dafür war und ist er nach wie vor auf die Kooperation seiner Mitmenschen angewiesen. Immer schon sitzt der Mensch deshalb mit seinesgleichen in einem Boot. Die alten Griechen bezeichneten ihn deshalb als "zoon politikon": das Wesen, das in der Stadt (griech.: polis) lebt; die Römer nannten ihn das "soziale Tier": "animal sociale". Während die gesamte Vormoderne immer von der Gemeinschaft her dachte und der Einzelne erst in zweiter Linie kam, entdeckte die Moderne dann das Individuum. Die Geschichte der Neuzeit wird deshalb oft als Emanzipationsgeschichte des Menschen bezeichnet: Der Einzelne löste sich von der Fremdbestimmung und Bevormundung durch Traditionen und Institutionen und fand so zu Selbstbestimmung und Autonomie. Dieser Prozess machte eine neue Klärung des Verhältnisses von Einzelnem und Gemeinschaft erforderlich. Dabei ging es auch um neue Partizipationsrechte. Denn wer in den eigenen vier Wänden ein selbstbestimmtes Leben führt, möchte, wenn er vor die Tür tritt, nicht fremdbestimmt werden. Deshalb führte die erkämpfte Selbstbestimmung im Privaten bald auch zu dem Ruf nach Mitbestimmung in den öffentlichen Angelegenheiten. In den europäischen Monarchien wurden Verfassungen eingeführt, in denen den Bürgern nicht nur liberale Grundrechte im Sinne von Abwehrrechten gegen den Zugriff des Staates, sondern auch politische Partizipationsrechte garantiert wurden. Die ursprünglich vom Monarchen bestimmte Regierung bekam ein Parlament vor die Nase gesetzt, das vom Volk gewählt wurde und dessen Kompetenzen immer mehr ausgeweitet wurden. Am Ende stand die parlamentarische Demokratie unserer Tage.
Der Klassenkampf ist abgesagt
Das sind die liberalen Partizipationsrechte. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende andere große Diskussion war darauf gerichtet, was diese formellen Rechte angesichts der realen Unfreiheit vieler Menschen eigentlich für eine Bedeutung hatten. Was nutzten dem Arbeiter seine Religionsfreiheit, seine Meinungsfreiheit, sein Wahlrecht, wenn seine reale, das heißt seine alltägliche Existenz von der Sorge um das nackte Überleben für sich und seine Familie bestimmt war? Das war das große Thema von Karl Marx (1818-1883) und auch von christlichen Sozialreformern wie etwa dem Arbeiterbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877), dessen 200. Geburtstag wir vor einigen Wochen gefeiert haben. Man erkannte, dass eine wirkliche politische Partizipation ein Mindestmaß auch an Partizipation am wachsenden materiellen Wohlstand voraussetzte. Durch Arbeiterschutzgesetze und Tarifautonomie wurden erste Vorkehrungen gegen die Ausbeutung der Arbeiterschaft eingeführt, die Sozialversicherungen sollten Schutz angesichts der Wechselfälle des Lebens bieten. Das war der Anfang des modernen Sozialstaats, der nach dem Zweiten Weltkrieg kräftig ausgebaut wurde. Der Klassenkampf wurde abgesagt. Aus den von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossenen Arbeitern wurden Erwerbsbürger. Die Ausweitung des Partizipationsgedankens auf neue Lebensbereiche verlief dabei parallel zu der Entfaltung der Idee von Menschenwürde und Menschenrechten. Die klassischen liberalen Grundrechte, Abwehrrechte und politische Partizipationsrechte, wurden um eine dritte Gruppe ergänzt: soziale Anspruchsrechte.
Damit aber war die Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Ausgehend von den USA und Großbritannien, wurde seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts der Sozialstaat wieder in Frage gestellt. Die Reaganomics und der Thatcherism bedeuteten neben anderem einen deutlichen Abbau sozialstaatlicher Strukturen. Auch diese Politik wurde mit dem Ziel gesellschaftlicher Partizipation begründet. Der Wohlfahrtsstaat, so die Argumentation, habe die Armut nicht bekämpft, sondern vergrößert, weil er bei den Leistungsempfängern eine chronische "welfare dependency" erzeugt habe. Wer die Armen und Leistungsschwachen aus ihrer Abhängigkeit vom paternalistischen Staat befreien wolle, müsse deshalb die sozialstaatlichen Strukturen zurückbauen.
Die US-amerikanische Bischofskonferenz hatte in ihrem Hirtenbrief "Economic Justice for All" von 1986 ihr Unbehagen über diese Politik zum Ausdruck gebracht. Sie beschränkte sich dabei aber nicht auf eine bloße Kritik an dem Sozialstaatsabbau, sondern sie versuchte, mit dem Begriff der "contributive justice", Beteiligungsgerechtigkeit, eine neue Leitidee für eine moderne Sozialpolitik zu kreieren. Damit sollte der Einsicht Rechnung getragen werden, dass dem überkommenen Wohlfahrtsstaat tatsächlich oft ein paternalistisches Modell zugrunde lag, das den Hilfeempfänger als passives Objekt staatlicher Fürsorge behandelte. Die Bischöfe wollten aber zugleich deutlich machen, dass Sozialstaatsabbau demgegenüber keine moralisch akzeptable Alternative ist. Der Sozialstaat dürfe nicht abgerissen, sondern müsse unter dem Leitgedanken der Partizipation renoviert werden. Nicht Fürsorge, sondern aktive soziale Beteiligung müsse das Ziel sein.
Bildung ist der Schlüssel für Teilhabe
Das ist freilich ein hoher Anspruch, welcher der politischen Rhetorik nach auch den deutschen Hartz-Reformen zugrunde lag. Er wird aber nicht allein dadurch erfüllt, dass man die Arbeitsämter in Agenturen umbenennt, in denen die Arbeitslosen nun "Kunden" heißen, mit denen man "Vereinbarungen" trifft. Tatsächlich sind die Hartz-Reformen trotz unbestreitbarer Erfolge hinter ihrem Anspruch des "Forderns und Förderns" oftmals zurückgeblieben. Die Bildungsausgaben für Schulkinder beispielsweise wurden bei der Berechnung des Bedarfs ursprünglich gar nicht eigens berücksichtigt, sondern unter den Posten "Freizeit, Unterhaltung, Kultur" subsumiert. Bildung allerdings ist der Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe und vor allem im Blick auf benachteiligte Kinder vorsorgende Sozialpolitik, die letztlich die beste Perspektive für einen Ausweg aus der Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge bietet.
Dieses Beispiel zeigt, dass die so häufig geäußerte Klage über eine "Fürsorgementalität" sich nicht an die Hilfeempfänger, sondern an die Sozialpolitiker richten sollte. Es ist daher ein wirklicher Fortschritt, dass Bundessozialministerin Ursula von der Leyen ein Bildungspaket geschnürt hat, das spezielle Zuschüsse für Lernförderung und für Sport-, Kultur- und Freizeitangebote bei Schulkindern vorsieht. Ein weniger positives Zeugnis muss man der Ministerin allerdings im Hinblick auf die arbeitsmarktpolitische Instrumentenreform ausstellen, die zum 1. April dieses Jahres wirksam werden wird. Die öffentlich geförderte Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen wird hierdurch erheblich eingeschränkt, soziale Exklusion damit verschärft.
Moralischer Fortschritt
Partizipation ist heute aber nicht mehr nur Grundprinzip für die Sozialpolitik, sondern ganz umfassend als sozialethische Leitidee zu verstehen. Die Sensibilität für die Reichweite und die unterschiedlichen Dimensionen der Menschenwürde hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen. Es herrscht heute ein allgemeiner moralischer Konsens darüber, dass jeder und jedem soziale Anerkennung geschuldet ist und niemand zum bloßen Objekt der Zwecke anderer degradiert werden darf. Das gilt für das soziale Hilfehandeln, für öffentliche Entscheidungsprozesse, für das Miteinander am Arbeitsplatz oder für die Pädagogik. Deswegen wird Erziehung heutzutage als partnerschaftliches Beziehungshandeln verstanden, gibt es soziale Sanktionen gegen Mobbing und eine Antidiskriminierungsgesetzgebung. Bei allen diesen Dingen geht es darum, soziale Exklusion zu verhindern und die Partizipation aller an den zentralen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensvollzügen der Gesellschaft sicherzustellen.
Diesem moralischen Fortschritt stehen allerdings auch tatsächliche Rückschritte gegenüber. Von Einsparungen bei sozialstaatlichen Integrations- und Beteiligungsmaßnahmen war oben bereits die Rede. Kirche und Caritas müssen hier wachsam bleiben und ihre anwaltschaftliche Rolle für diejenigen wahrnehmen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Aber auch im Bereich politischer Entscheidungsprozesse findet eine Verschiebung statt, was sich besonders eindrücklich in der gegenwärtigen europäischen Krise zeigt. Die Komplexität der Zusammenhänge verhindert eine wirkliche öffentliche Debatte, selbst Parlamentarier haben kaum einen Überblick über den Inhalt und die Konsequenzen der Beschlüsse, über die sie abstimmen. Nicht die bürgerschaftliche Diskussion, sondern Expertenrunden bereiten deshalb zentrale politische Entscheidungen vor. Mit Griechenland wird gar ein ganzer Staat unter die Kuratel von Brüsseler Beamten gestellt. In der Politikwissenschaft werden diese Phänomene unter dem provozierenden Begriff der "Postdemokratie" (Colin Crouch) thematisiert. Man mag finden, dass das zu weit geht. Eines aber ist offensichtlich: Partizipation ist kein Naturprinzip, sondern eine Kulturleistung, deren Bewahrung Aufmerksamkeit und Anstrengung erfordert.
Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht (...), in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind. (Artikel 22)
Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit (...). (Artikel 23)
Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. (Artikel 26)
Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben. (Artikel 27)
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948