Ständig gegenhalten
Gibt man in eine Internet-Suchmaschine die Begriffe Hartz IV und Bürokratie ein, stößt man schon bei den ersten Treffern auf kuriose und absurd erscheinende Beispiele einer ausufernden Bürokratie. So soll Deutschlands dickster Hartz-IV-Bescheid 75 Seiten stark sein und ein halbes Pfund Gewicht auf die Waage bringen. Auf immerhin neun Seiten brachte es ein Bescheid, weil die Zuverdienstgrenze um zwei Cent überschritten wurde. Auch dass es für einen Hartz-IV-Empfänger nicht egal ist, ob das Duschwasser mit Strom oder über die Heizungsanlage erwärmt wird, findet man schnell heraus.
In Deutschland, könnte man einwenden, sind die Dinge eben geregelt. Für alle Eventualitäten gibt es Regeln, Verfahren oder Kennziffern, die festlegen, wie etwas zu handhaben ist. Doch offenbar ist längst nicht alles eindeutig, tun sich immer neue Lücken und Ausnahmen auf, gibt es Härtefallklauseln, Mehraufwand oder Sonderbedarfe. Im letzten Jahr gab es die 50. Reform der Hartz-Gesetze.
Jede noch so kleine Reform setzt in der Verwaltung eine ganze Welle notwendiger Veränderungen in Bewegung. Leistungs-bescheide, Eingangsbestätigungen, Rechts-belehrungen und vieles mehr müssen geändert werden. Vieles bleibt fehlerhaft oder vage, dann entscheiden die Gerichte.
Beim Berliner Sozialgericht geht an einem Arbeitstag durchschnittlich alle 16 Minuten eine Klage im Zusammenhang mit Hartz IV ein. Mitte des letzten Jahres summierte sich die Klagewelle auf 100 000 Verfahren, und ein Ende ist nicht abzusehen. Etwa jeder zweite Kläger bekommt Recht, doch bis es so weit ist, dauert es seine Zeit. Längst haben viele im undurchdringlich wirkenden Dschungel aus Paragrafen und Regelsätzen aufgegeben.
"Und wenn man nicht ständig gegen hält ...", so heißt eine Studie der Wissenschaftlerin Marlies Mrotzek im Auftrag des Industrie- und Sozialpfarramtes (ISPA) des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid über die Erfahrungen von Frauen und Männern, die Hartz IV beziehen. Schon der Titel macht deutlich, worauf es in dieser Lebenssituation ankommt - nicht nur, aber eben auch im Kampf mit und durchaus auch mal gegen die Bürokratie. Der der Studie zugrunde liegende Fragebogen gab auch die Möglichkeit zu anonymen persönlichen Stellungnahmen. Es mag nicht erstaunen, dass diese Möglichkeit genutzt wurde, um auch mal Dampf abzulassen, und die Kritik an den Behörden teilweise sehr harsch ausfällt. Doch es ist erschreckend, wie viel an Wut, aber auch tiefer Frustration und Resignation über vermeintliche oder echte Bürokratie deutlich wird.
Klima des Misstrauens
Wer mit Mitstreitern der von Industrie- und Sozialpfarrer Dieter Heisig begleiteten Hartz-IV-Selbsthilfegruppe in Gelsenkirchen spricht, spürt schnell das Klima des Misstrauens, der Angst und auch der Scham, in dem die Betroffenen leben. Niemand will seinen Namen veröffentlicht sehen, wenn er über seine Erfahrungen spricht. So wie zum Beispiel die Frau, die über ihren Kampf um ihre Wohnung berichtet. Die ist etwas größer, als sie einer alleinstehenden Person im Hartz-IV-Bezug zusteht. Doch hier hat die chronisch kranke Frau seit vielen Jahren ihren Lebensmittelpunkt und gute nachbarschaftliche Kontakte. Oder die Akademikerin, die es wütend macht, wenn auf ihren Bescheiden als Kontaktperson nur eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben statt eines konkreten Namens steht.
Gabriele Ravenstein-Klink vom Job-Café der Gelsenkirchener Caritas kennt solche und ähnliche Erfahrungen aus ihrer Beratungspraxis und könnte die Liste leicht um ein Vielfaches verlängern. Neben den immer wieder auftauchenden Fragen zu den Leistungsbescheiden sorgt derzeit das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder aus Familien im Hartz-IV-Bezug für Verwirrung. "Das Anliegen des Pakets verdient jede Unterstützung, wie es praktisch umgesetzt werden soll, ist aber völlig unausgegoren. Auch mich stellt es vor Fragen und Probleme, auf die ich nicht sofort eine Antwort parat habe", so Gabriele Ravenstein-Klink. Damit das Paket greift, hat die Stadt Gelsenkirchen im Sommer zwei Büros eröffnet, die bei der Beantragung von Beiträgen für den Fußballverein, die Musikschule oder den Schulranzen helfen. Auch die Broschüre der Stadt "GEfördert. Damit Ihr Kind weiterkommt" soll dazu beitragen, die Fallstricke auf dem Weg zu mehr Bildung und Teilhabe zu umgehen. So schafft Bürokratie neue Strukturen, damit die von ihr selbst aufgestellten bürokratischen Hürden nicht zur Stolperfalle werden.
Normen contra Lebenswirklichkeit
"Auf Hartz IV angewiesen zu sein bedeutet, mit Rechtsunsicherheit leben zu müssen. Eine Ursache hierfür ist das Zusammenspiel von rigiden Gesetzesvorlagen und Vorschriften, die sich in schneller Reihenfolge ändern und deren Regelungen und Vorschriften in der Alltagspraxis ... eine große Fehlerquelle sind", heißt es in der ISPA-Studie. Dies führe dazu, dass nicht wenige Befragungsteilnehmer den Glauben an den Rechtsstaat verloren hätten.
Das kann Werner Marquis, Pressesprecher der Regionaldirektion für Arbeit NRW, so nicht stehen lassen. Er verweist auf die über 17 Millionen Bescheide, die jährlich verschickt würden und die größtenteils korrekt seien. Da erzeuge die viel zitierte Klagewelle ein schiefes Bild. "Wir sind eine ausführende Verwaltung und administrieren Bundesgesetze. Komplexe Rechtsverhalte so umzusetzen, dass der Kunde seine Ansprüche im Rahmen der Gesetze wahrnehmen kann, und diesen Vorgang transparent zu machen ist unsere Aufgabe", bringt es der Pressesprecher auf den Punkt. In der Praxis ist dies jedoch nicht ganz so einfach, räumt Werner Marquis ein: "Die Lebenswirklichkeit lässt sich nicht immer in gesetzliche Normen fassen." Passten Lebenswirklichkeit und gesetzliche Normen in zugespitzten Situationen, wie sie eine lange Arbeitslosigkeit mit sich bringe, nicht zusammen, seien Konflikte programmiert. "Dann können einfache Dinge wie die Frage, was eine Rücklage oder eine eheähnliche Gemeinschaft ist, oder auch die Vorlage eines Mietvertrages viel Konfliktstoff bergen", weiß Marquis. Zudem gebe es eine Vielzahl sogenannter unbestimmter Rechtsbegriffe. Der eine oder andere programmierte Konflikt lasse sich aber auch durch das Ausschöpfen eines gewissen Ermessensspielraums vermeiden. "In der Vergangenheit hatten wir die Diskussion, wie mit Geldgeschenken an Kinder zum Beispiel anlässlich einer Konfirmation oder Kommunion umzugehen sei. Diese Geldgeschenke sind de facto Einkommen und unterliegen Freibeträgen. Hier gibt es aber Möglichkeiten, damit umzugehen", deutet Werner Marquis Spielräume an.
Hartz IV habe eine große Maschinerie in Gang gesetzt, die sowohl die Hilfeempfänger als auch die Mitarbeiter in den Behörden Zwängen aussetze, denen man sich kaum entziehen könne, ist Pfarrer Dieter Heisig überzeugt. Die Suche nach seelsorgerischer Hilfe hat daher stark zugenommen, weiß er aus seiner täglichen Arbeit: "Die Erfahrung, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu sein, die vermeintliche oder tatsächliche Willkür von Behörden: All das nagt an den Menschen, hinterlässt tiefe Spuren und führt zu großen Selbstzweifeln." Er betont, dass die Zusammenarbeit mit den Behörden oft gut funktioniere und sich vieles mit einem Telefongespräch klären lasse.
An seiner grundsätzlichen Kritik ändert dies nichts: "Hartz IV versucht, Dinge per Gesetz zu verordnen und zu regeln, die per Gesetz nicht zu handhaben sind." Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, werde von immer mehr Menschen nicht mehr als eine unangreifbare Erfahrung geteilt. "In unserer Hartz-IVSelbsthilfegruppe wurde diese Einschätzung als Slogan auf ein großes Transparent gebracht, das seit geraumer Zeit alle öffentlichen Auftritte der Gruppe begleitet: Hartz IV - eine Bürde ohne Würde", sagt Dieter Heisig.
"Und wenn man nicht ständig gegen hält ..."
Die Erfahrungen von Frauen und Männern mit der Umsetzung des SGB II in Nordrhein-Westfalen.
Eine Studie von Marlies Mrotzek im Auftrag des Industrie- und Sozialpfarramtes (ISPA) des Evangelischen Kirchenkreises gelsenkirchen und Wattenscheid
Die Publikation kostet 9,80 Euro (bei Hartz-IV-Bezug kostenfrei) und kann im ISPA bestellt werden.
Telefon: 02 09/17 98-2 10
E-Mail: Dieter.Heisig@kk-ekvw.de