Das Geld fehlt den Betroffenen
Caritas in NRW: Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket wollte die Bundesregierung Kinder armer Eltern unterstützen. Wieso läuft das so schwer?
Marita Haude: Beispiel Schule: Der Lehrer muss den Eltern für den Antrag auf Nachhilfe attestieren, dass die Versetzung gefährdet ist. Der Nachhilfelehrer wird dann unmittelbar vom Amt bezahlt und schließt mit diesem den Vertrag. Für einen Mittagessen-Zuschuss müssen die Eltern ebenfalls einen Antrag stellen. Die Kommune rechnet dann mit einer Vielzahl von Anbietern ab, weil sich jeder Träger von einem anderen Unternehmen beliefern lässt. Für die Zuzahlung von Schülerfahrtkosten ist ein Antrag nötig, für Teilhabe an Bildung, Sport und Kultur müssen ebenfalls Anträge gestellt werden, da sind dann die Vereine mit im Boot. Nebenbei: Alle erfahren, dass es sich um eine arme Familie handelt.
Caritas in NRW: Sie beobachten, dass die Bürokratie auch in den Kindergärten ankommt?
Marita Haude: Um an die Informationen zu kommen, welche Familien Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket haben, mussten die in Frage kommenden Eltern sehr umfassend informiert werden. Die Kommunen haben oft irgendwelche Flyer gedruckt, was natürlich nicht immer das richtige Instrument ist, um diese Zielgruppe zu informieren. Daher haben viele Eltern bei der Leitung der Tageseinrichtungen nachgefragt: Wie kommen wir eigentlich zu dem Zuschuss fürs Mittagessen, oder wie kommen wir zu einem Zuschuss für den Ausfl ug, den die Einrichtung macht?
Caritas in NRW: Müssten sich die Eltern nicht eigentlich an den Sozialhilfeträger wenden, von dem sie die Unterstützung erhalten?
Marita Haude: Die Eltern hatten irgendetwas gehört, wussten aber nicht, an wen sie sich wenden können, wie das Antragsverfahren funktioniert und sonstige Details. Hinzu kommt, dass mit der Zusammenführung der Hilfeleistungen in diesem Bereich die neu zuständigen Jobcenter oft noch weiter entfernt liegen als früher das Sozialamt. Ein Beispiel aus einer Optionskommune in einem ländlichen Kreis: In der Vergangenheit konnten die Familien diese Leistungen direkt in der Kommune vor Ort beantragen. Mit der Veränderung in der gesamten Gesetzgebung hat es ja eine Zusammenführung dieser Leistungen bei den Jobcentern gegeben. Das Jobcenter liegt aber nicht mehr vor Ort, sondern in der Kreisstadt, und das ist schon fahrtechnisch schwieriger. Der Nahverkehr ist nicht so ausgeprägt, da muss man schon sehr mobil sein, um das auch in Anspruch nehmen zu können.
Caritas in NRW: Waren die Kindergärten auf diese zusätzlichen Anfragen vorbereitet?
Marita Haude: Wir als Spitzenverband haben im Vorfeld die Träger und die Kindergartenleitungen informiert und gesagt: Da kommt was Neues, und es wäre klug, wenn ihr darüber Bescheid wüsstet. Das war aber eher eine allgemeine Information, weil niemand damit gerechnet hat, dass jetzt tatsächlich die Beratung zu den Leistungsmöglichkeiten in Einrichtungen stattfi nden sollte. Natürlich kann man immer sagen, das sei doch der Auftrag von Familienzentren. Aber auch das hat ja durchaus irgendwo seine Grenzen, weil man ja für diese Beratung ganz spezifi sche Kenntnisse aus dem Sozialhilferecht braucht. Diese Menschen benötigen direkt vor Ort einen Ansprechpartner, zu dem sie Vertrauen haben und den sie ansprechen können, der greifbar ist. So ist diese Aufgabe halt beispielsweise bei den Leitungen der Kindergärten gelandet, die doch gar nicht zuständig sind.
Caritas in NRW: Finden Sie die Antragsunterlagen verständlich und einsichtig?
Marita Haude: Es ist ja immer die Frage, womit man sie vergleicht. Es ist schon sehr aufwendig, was man immer alles angeben muss. Das sind häufig auch Angaben, die bei der Antragstellung von ALG II sowieso schon in den Kommunen angegeben wurden und bei den Einrichtungen nachgewiesen wurden und dort vorliegen.
Jetzt muss man noch mal zusätzlich nachweisen, dass das Kind ganztags eine Einrichtung besucht und an einem entsprechenden Angebot teilnimmt. Im Unterschied zur neuen Regelung hatten wir bislang in einigen Kommunen die Situation, dass Eltern in diesen sehr niedrigen Einkommensgruppen überhaupt keinen Beitrag zum Essen bezahlen mussten.
Jetzt müssen die beim Bildungs- und Teilhabepaket einen Euro Eigenleistung aufbringen. Für manche Familien wird es also unterm Strich vielleicht sogar teurer als vorher. Das müssen sie ausführlich erklären, denn es erschließt sich aus den Antragsunterlagen nicht so ohne Weiteres.
Caritas in NRW: Ein aufwendiges Antragsverfahren dient dazu, Missbrauch auszuschließen.
Marita Haude: Das ist ja immer die Begründung für irgendeinen bürokratischen Aufwand. Ich finde aber, darin spiegelt sich eine völlige Fehlinterpretation dessen, was die Kinder in diesen Verhältnissen brauchen. Sie brauchen diese zusätzlichen Leistungen, angefangen vom Mittagessen bis hin zu Unterstützung bei der Teilnahme an örtlicher Kultur und Sport. Jedem, der normal rechnen kann und sich über die Situation und die Kosten von Familien ein bisschen Überblick verschafft, müsste nachvollziehbar sein, dass die Pauschalen bei Weitem nicht ausreichen.
Caritas in NRW: Ist der bürokratische Aufwand an der falschen Stelle einer der üblichen Webfehler eines Bundesgesetzes, das etwas Neues regelt, was in der Praxis noch nicht erprobt werden konnte?
Marita Haude: Das mag ein Grund dafür sein. Ich habe aber den grundsätzlichen Verdacht, dass man mit diesem eigentlich gut gemeinten Bildungs- und Teilhabepaket das falsche Verfahren gewählt hat. Wenn man von Anfang an darauf gesetzt hätte, die Regelsätze für die Kinder entsprechend anzupassen, wären diese Leistungen auch tatsächlich direkter bei den Kindern angekommen. So setzt der Bund enorme Summen allein für die Umsetzung des Pakets ein. Geld, das den Betroffenen mehr geholfen hätte als der Bürokratie.
"Durch unklare Gesetzesformulierungen bleibt die konkrete Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets problematisch. So sind zum Beispiel bei der lernförderung allein fünf Voraussetzungen für die leistungsgewährung unbestimmte Rechtsbegriffe, also ‚unscharf‘. Außerdem wird durch den grundsatz der leistungsgewährung mittels Sach- und Dienstleistung (Ausnahme für geldleistung: Schulbedarfspaket und Schülerbeförderung) ein hoher bürokratischer Aufwand erforderlich."
Zitat aus einer Pressemitteilung des Landessozialministeriums NRW