Kontrolle ist gut, Vertrauen ...
Besonders Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege erleben hohe Arbeitsbelastungen mit knapp berechneten Zeiten für die Arbeit mit den Menschen. In den ambulanten Diensten zeigt sich sogar, dass nur 59 Prozent der Arbeitszeit auf pflegerische Tätigkeiten entfallen; der Rest sind "Organisationszeiten" etwa für Anfahrten, Dienstbesprechungen und die Dokumentation. Mittlerweile gibt es zwar vereinfachte Musterdokumentationen, zum Teil in elektronischer Form, was durchaus als Erleichterung erlebt wird. Aber bei den Pflegenden bleibt ein permanenter Rechtfertigungsdruck für Prozesse und Strukturen. Schon zu lange wird die Qualität ihrer Arbeit an der gründlichen Beachtung kleinschrittig vorgegebener Standards gemessen. So manches Gütesiegel, so mancher Qualitätsleitfaden durchzieht Dienste und Einrichtungen stärker als nötig mit "Zertifizitis". Dass hervorragend dokumentierte Pflegequalität nicht identisch ist mit der Lebensqualität der Pflegebedürftigen, dass ein Mehr an Standards nicht unbedingt ein Mehr an Zufriedenheit für Alte, Kranke und Mitarbeitende bedeutet, ist zwar jedem und jeder klar, aber trotzdem zu wenig im Blick.
Bürokratie durch die Hintertür
Inzwischen hat vielerorts ein Umdenken eingesetzt. Bürokratieabbau wird großgeschrieben. Die Interessen und Rechte der Menschen sollen wieder mehr im Mittelpunkt stehen. Das ist auch Ziel des seit Ende 2008 für NRW gültigen Wohn- und Teilhabegesetzes (WTG).
Wie es sich für ein Gesetz gehört, wurde das WTG in einem demokratischen und transparenten Verfahren im Landtag beraten und beschlossen. Faktisch wird das Leben in den Einrichtungen aber weniger vom Gesetz als von den hierzu ergangenen über 30 Erlassen geregelt, die der parlamentarischen Kontrolle kaum zugänglich sind. Durch diese Hintertür wurde die Bürokratie mehr als erhalten. Heute sind oft nicht primär die gesetzlichen Anforderungen des WTG Grundlage für die Prüfung einer Einrichtung, sondern ein "Rahmenprüfkatalog", der (einst als hilfreiche Orientierung gedacht) jetzt detailgenau abgearbeitet wird.
Geschriebene und ungeschriebene Gesetze
Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen. Wer auf Sozialleistungen angewiesen ist, einen Angehörigen pflegt oder ein behindertes Kind erzieht, hat seine liebe Not, überhaupt in Erfahrung zu bringen, welche Hilfen ihm zustehen und wer eigentlich für was zuständig ist. Im Ergebnis sind es zumeist mehrere Stellen, Ämter und Fachdienste. Alle haben ihre eigenen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze; alle sprechen ihre eigene Sprache: die Ärzte beim Gesundheitsamt, die Sachbearbeiter bei den Krankenkassen, die Fallmanager im Jobcenter, die Sozialpädagogen im Jugendamt. Nur die Sprache der Hilfesuchenden sprechen viele nicht. Die, um die es geht, laufen von Amt zu Amt, plagen sich mit komplizierten Antragsverfahren in Behördendeutsch und halten lange Bearbeitungszeiten aus.
Transparenz ist ein hohes Gut
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? Die Legitimität von Nachweisen und Überprüfungen wird auf breiter Basis akzeptiert. Katholische Träger sind vollkommen einverstanden, wenn fachkundige Kontrollen neutraler Stellen ihre Arbeit unterstützen. Transparenz und Verbraucherschutz sind der Caritas ein hohes Gut. Aber an vielen Stellen wird nicht mehr nur versucht, Verbraucherschutz sicherzustellen, sondern angesichts öffentlicher Einsparungen (behördlich definierte) Qualität in Dienste und Einrichtungen "hineinzuprüfen". Und weil das nicht geht und weil das im Grunde jeder weiß, sichern sich die unterschiedlichen Akteure primär rechtlich ab, um am Ende "nicht schuld zu sein", wenn die Qualität und der Mensch darunter leiden sollten. Die Konsequenz: hoch standardisierte Leistungen in einem nahezu linienkonformen Versorgungssystem, das Mitarbeitenden wenig Entfaltungs- und Hilfesuchenden wenig Wahlmöglichkeiten bietet. Das will keiner. Nötig sind rechtliche Klärungen, die die diversen Schnittstellen zwischen den Sozialgesetzbüchern bereinigen, und ein professionelles Kooperationsmanagement zwischen den unterschiedlichen Behörden.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in sozialen Diensten und Einrichtungen wünschen sich weniger Beweispflichten und mehr Grundvertrauen in ihre Arbeit, mehr Rückenstärkung durch Vorgesetzte und Behörden und mehr Gestaltungsräume. Dazu tragen neben guter Aus- und Fortbildung bessere Personalschlüssel bei, die Fachkräfte auch von fachfremden Aufgaben entlasten. Hilfsbedürftige (und ihre Angehörigen) wiederum wünschen für ihre Suche nach Hilfe verständliche Informationen und Menschen, die sie in ihrem Interesse unterstützen, die weder an ihnen verdienen noch an ihnen sparen wollen. Der bürgerschaftliche Sachverstand anderer Betroffener bietet da bisweilen mehr als die amtliche Professionalität autorisierter Prüf- und Bewertungsinstanzen. Statt Investitionen in Standards und Kontrollen brauchen wir wieder mehr Investitionen in die Menschen, für die und mit denen in Deutschland soziale Arbeit geleistet wird.