"Ist das bürokratisch!"
Von der Kritik an bürokratischen Verfahren ist es nur ein kleiner Schritt zur Kritik an denjenigen, die als Ausführende in der Verwaltung diese Verfahren administrieren müssen. Oft wird der Ärger dann aber an der falschen Stelle abgeladen. Keine Verwaltung kann ohne "Bürokratie" funktionieren. Ganz im Gegenteil, die Vorstellung einer "unbürokratischen Verwaltung" wäre aus meiner Sicht eine Horrorvorstellung. Denn ein gedeihliches gesellschaftliches Leben ist zwingend darauf angewiesen, dass Regierung und Verwaltung an Recht und Gesetz gebunden sind. Nur in der Bindung an das Gesetz ist staatliches Handeln demokratisch legitimiert. Politiker, die einerseits Gesetze mit engen Vorgaben beschließen, dann aber auf die Verwaltung schimpfen, die "zu bürokratisch sei", stehlen sich aus ihrer Verantwortung. Die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht erfordert es, auch Regeln festzulegen, die im Handeln des Alltags praktikabel sind. Dazu gehört, dass der Verwaltung ein ausreichendes Ermessen eingeräumt wird, denn nur so lassen sich Rechtsstaatlichkeit und Flexibilität verbinden.
Die Bindung staatlichen Handelns an Recht und Gesetz muss gerade auch für den Sozialbereich gelten. In ihrer langen Geschichte hat sich die verbandliche Caritas dafür starkgemacht, dass die auf Hilfe angewiesenen Bürger von Almosenempfängern zu Trägern klar definierter Rechte werden. Unser System sozialer Sicherung definiert - zumindest für die großen, die Gesellschaft in ihrer Mehrheit betreffenden sozialen Risiken - Rechtsansprüche. Ob bei den Bürgern in ihren jeweiligen konkreten Bedarfslagen ein Rechtsanspruch gegenüber Leistungsträgern gegeben ist, muss von Verwaltungen - also "Bürokratien" - bewertet und entschieden werden.
Unbürokratische Lösungen sind oft nicht gerecht
Wenn wir ehrlich sind, so müssen wir einräumen, dass viele sozialpolitische Vorschläge der Caritas eher zu einer Zunahme von Prüfungsvoraussetzungen und Bewertungstatbeständen geführt haben, also, wenn man es negativ ausdrücken will, zu "mehr Bürokratie". Beispiel Kosten der Unterkunft: Seit Anfang 2011 ist gesetzlich geregelt, dass die Länder die Kommunen ermächtigen oder verpflichten können, die Kosten der Unterkunft für Empfänger von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe zu pauschalieren. Argument hierfür war u. a. auch der dadurch erreichbare Abbau von Bürokratie. Die Caritas hat dieser Gesetzesänderung vehement widersprochen. Aus guten Gründen. Die Mietkosten in den Städten, der Bauzustand der Häuser (und damit die Heizkosten) sind viel zu unterschiedlich, um eine sachgerechte Pauschalierung zu ermöglichen. Wer als Hilfsbedürftiger eine Pauschale für Miete und Heizkosten erhält, aber deutlich überdurchschnittliche Kosten hat, dessen soziokulturelles Existenzminimum wird faktisch nicht gedeckt. Also müssen wir uns dafür einsetzen, dass die Kosten der Unterkunft individuell abgerechnet werden - mit allen Folgen für "Bürokratie" und der Belastung der Sozialgerichte, die damit verbunden sind. Einfache Lösungen mögen unbürokratisch sein, aber sie sind oft nicht gerecht.
Natürlich ist mit diesen grundsätzlichen Bemerkungen das Thema "Bürokratieabbau" nicht erledigt. Im Rahmen der gesetzlichen Regelungen gibt es Spielraum für unterschiedliche Verhaltensweisen, die stärker bürgernah und dienstleistungsorientiert oder abweisend und bürgerfern sein können. Es ist schließlich bezeichnend, dass der "Dienst nach Vorschrift" die Streikform ist, die Verwaltungen am wirksamsten lahmlegen kann. Auch sinnvolle Regelungen kann man zu Tode reiten und in Überängstlichkeit so lange zu Lasten des Bürgers interpretieren, bis eine Verwaltung unbeweglich ist. Auch kann das Interesse der Verwaltungen an ihrem Selbsterhalt und der Festigung ihrer Macht dazu verleiten, die Entscheidungsfreiheit der Bürger weiter einzuschränken. Fehlende Bürgernähe ist allerdings kein ausschließliches Problem des staatlichen Sektors, wie jeder weiß, der einmal in der Warteschleife eines Telefonanbieters gelandet ist. Auch wir müssen uns immer wieder selbstkritisch prüfen, ob die Arbeitsabläufe bei uns bürgernah und dienstleistungsorientiert sind und wo wir noch besser werden können.
Kritisch zu fragen ist auch, wieweit die Wechselwirkung zwischen politischem Prozess und medialer Aufgeregtheit das administrative Regelwerk weiter einengt, also "Bürokratie" erzeugt. Erinnern wir uns: Als Kevin in Bremen starb und auch einige andere schockierende Fälle von Kindesmisshandlung und Kindestötung das Schicksal verwahrloster und misshandelter Kinder ins öffentliche Bewusstsein rückten, wollte die Bundesregierung durch eine Novellierung des Kinder- und Jugendhilferechtes Handlungsfähigkeit dokumentieren. Die Jugendämter sollten u. a. gezwungen werden, auf jeden übermittelten Verdacht mit einem Hausbesuch zu reagieren. Zum Glück konnte die zu befürchtende Rückentwicklung des Jugendamts zu einem Akteur der Eingriffsverwaltung in der weiteren politischen Debatte dann doch verhindert werden. Aber die damalige Aufgeregtheit aus - ohne Zweifel - völlig berechtigter Betroffenheit zeigt einen Mechanismus auf, der bei der Klage über "zu viel Bürokratie" nicht vergessen werden sollte: In Reaktion auf einige Fälle und basierend auf eher vagen Überlegungen, wie diese konkreten Fälle hätten verhindert werden können, wird in medialer Zuspitzung eine neue Regel für alle gefordert. Dies führt dann in die Inflexibilität und in staatliche Überforderung. Aber es fällt auch uns schwer zuzugeben, dass staatliches Handeln Grenzen hat und dass in einer freien Gesellschaft, zu der auch ein Vertrauensvorschuss an die Erziehungskompetenz der Eltern gehört, nicht alles Unheil präventiv vermieden werden kann. Nebenbei gesagt: Um Kevin zu schützen, fehlten dem Jugendamt weder Gesetze noch Informationen.
Soziale Arbeit braucht Vertrauen
Es gibt eine weitere Quelle für "Bürokratie" in der negativen Bedeutung unserer Alltagssprache: Sie heißt Misstrauen. Unsere komplexe arbeitsteilige Gesellschaft beruht auf Vertrauen, Vertrauen darauf, dass unsere Vertragspartner uns nicht übers Ohr hauen und ihre Zusagen einhalten. Ohne Vertrauen können die Mitglieder einer Gesellschaft nicht zum gegenseitigen Vorteil kooperieren. Das gilt auch für die sozialen Dienste. Vertrauen ist eine zentrale Bedingung für das Funktionieren eines subsidiär gestalteten Systems sozialer Dienstleistungen. Die Hilfesuchenden müssen sich auf die professionelle und vertrauensvolle Zusammenarbeit von Leistungsträgern und Leistungserbringern verlassen können. Unser Sozialrecht erwähnt an vielen Stellen die Verpflichtung zur Zusammenarbeit. Nun ist die Forderung nach Vertrauen kein Freibrief für Naivität oder fehlende Kontrolle. Aber das subsidiäre System der Erbringung sozialer Dienstleistungen nimmt Schaden, wenn aus legitimen Transparenzanforderungen überregulierte Kontrolle wird. Die Sicherung der Qualität der Pflege ist ohne Frage ein wichtiges Anliegen, aber wenn die Last der Dokumentationspflichten den Pflegekräften die Zeit für jedes Gespräch raubt, leiden auch die zu Pflegenden. Auch hier reicht es nicht, nostalgisch die Zeiten zu beschwören, in denen diese Pflichten nicht bestanden, sondern wir müssen einem überbordenden staatlichen Kontrollanspruch eigene transparente Systeme der Qualitätssicherung entgegensetzen, Systeme, die wir selbst verantworten und die die Wirkung unserer Arbeit im Interesse der Hilfesuchenden nachweisen können. Qualitätssicherung und Transparenz sind eine Bringschuld von uns. Den damit verbundenen Aufwand dürfen wir nicht scheuen. Nur so kann man staatlichen Kontrollwahn legitim und erfolgreich abwehren. Qualitätssicherung selbst allerdings kann wieder "Bürokratie" erzeugen, insbesondere wenn kleinteilige Vorgaben zur Strukturqualität neue Prüfungsanforderungen erzeugen. Daher ist die (Weiter-)Entwicklung leistungsfähiger Systeme zur Bewertung der Ergebnisqualität im Bereich der sozialen Dienste eine große Herausforderung.
Kein soziales Europa von Bürokraten
Ein letzter Aspekt aus europapolitischer Sicht: Im Sozialbereich ist die Forderung nicht unpopulär, die Europäische Union müsse vermehrt auch Zuständigkeiten in der Sozialpolitik erhalten, sonst wäre "Europa nicht sozial". Teilweise ist der Wunsch zu spüren, in Deutschland errungene sozialpolitische Standards durch Vorgaben auf europäischer Ebene abzusichern. Ich halte diesen Wunsch letztlich für illusionär. Verbindliche europäische Standards würden in aller Regel deutlich unter den in Deutschland erreichten Standards liegen und liegen müssen, da sie auch für Rumänien oder Bulgarien beispielsweise anwendbar sein müssten. Aber selbst wenn im einen oder anderen Fall uns Vorgaben aus Brüssel nützen würden, vermutlich würden wir auch viele Vorgaben bekommen, die uns dann auch in Zukunft Anlass zur Klage geben: "Ist das bürokratisch!"