Schuss ins Unsichtbare
Alles steht bereit, als Dirk Hülsey am Montagnachmittag den Sportplatz des TV Jahn in Rheine betritt. Wie immer: Der Sportbogen ist gespannt, der Köcher mit den Pfeilen steht parat, die Zielscheibe ist aufgestellt. Der 61-Jährige könnte das alles schon von Weitem sehen, als er über die grüne Wiese zum Schießstand geht. Wenn er sehen könnte.
"Nur noch im Promillebereich", sagt Hülsey, wenn er nach seinen verbliebenen Sehfähigkeiten gefragt wird. "Ein wenig Hell und Dunkel - mehr nicht." Seine Sicherheit ohne Augenlicht musste er sich hart erarbeiten. Er ist nicht von Geburt an blind. Der geschärfte Hörsinn und das Gefühl für Raum und Entfernungen wurden erst zur Herausforderung, als er bereits 39 Jahre alt war. "Im Urlaub hatte ich noch Harry Potter gelesen, zwei Wochen später konnte ich die Buchstaben nicht mehr erkennen." Das Buch hat er nie zu Ende gelesen. Einen Monat später war er blind. Bis heute wissen die Ärzte nicht, warum.
Aus dem Maurermeister, Familienvater und leidenschaftlichen Motorradfahrer war in kurzer Zeit ein Mann geworden, der sich völlig neu orientieren musste. In der Arbeitswelt, mit seiner Frau und den zwei kleinen Söhnen, in seiner Freizeit. Viele Ängste und Unsicherheiten bestimmten jene Zeit. "Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich für alle zur Last geworden war."
Hülsey schießt ins Schwarze, ins Nichts
Von Unsicherheit ist nichts mehr zu sehen, als er über den schmalen Trampelpfad zur kleinen Hütte der Bogenschützen am Rande der Wiese geht. Mit seinem Langstock nimmt er jede Unebenheit problemlos, die Richtungswechsel hat er nach fast 16 Jahren im Verein verinnerlicht. Längst hat er wahrgenommen, wer sonst noch da ist. Von Weitem hat er die Stimmen gehört. Ein ehrenamtlicher Helfer wird ihn wieder begleiten. Ein Sportschütze setzt bereits die ersten Pfeile. Auch Hülsey rüstet sich. Die Handgriffe sind geübt, Armschutz und Fingerschlaufe schnell angelegt.
Ein Stativ hilft ihm, die Zielscheibe anzupeilen. Beim ersten Schuss unterstützt ihn sein Helfer bei der groben Ausrichtung. Das Wichtigste daran: die Platte, an die er seine linke Hand anlegt, und die Fußraste. So findet er die immer gleiche Position, um den Bogen zu heben, die Sehne zu spannen und auf das Zeichen seines Helfers zu warten. "Grün!", kommt es von diesem. Die Scheibe ist freigegeben.
Hülsey schießt ins Schwarze, ins Nichts. Als der Pfeil die Sehne verlässt, hat er für einen Augenblick keinen Kontakt mehr zu ihm. Er kann die Flugbahn nicht verfolgen. Lautlos rast das Aluminiumgeschoss durch die Luft. 18 Meter Stille, dann der dumpfe Einschlag auf der Kunststoffscheibe. Hülsey lächelt: "Ein schönes Geräusch."
Erst die Ansage seines Helfers hilft ihm, den Treffer genau einzuordnen. "Blau, sieben Uhr!" So kann er sich bei den kommenden Schüssen langsam dem gelben Zentrum annähern. "Gold" nennen das die Schützen. Bei der ersten Einheit von drei Pfeilen ist das noch nicht dabei. "Ich reagiere jedes Mal mit meiner Fuß- und Handhaltung", sagt Hülsey. Jeder Schuss erfordert dabei viel Konzentration, exakte Technik und viel Kraft. "Pfeile", so heißt im Anschluss das Kommando seines Helfers. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zur Scheibe.
Bogenschießen ist Gefühlssache
Bis zu dreimal in der Woche bricht Hülsey von seinem Heimatort Burgsteinfurt zum Training auf. Eine Stunde Busfahrt, 20 Minuten Fußweg. "Ich vergrößere meinen Aktionsraum", sagt Hülsey. Nicht nur weil er Zeit mit den anderen Schützen verbringt und mit ihnen fachsimpeln kann. Nicht nur weil er in eine eigene Klangwelt wechselt, in der das Rauschen der Bäume und das Singen der Vögel mit dem Surren der Bogensehnen und den lauten Einschlägen der Pfeile zusammenspielen. Er vergrößert auch seine Reichweite. Wie sonst nie agiert er in die Ferne, in einen Raum, den er anders nicht wahrnehmen könnte. Er schießt ins Weite.
Die ersten drei Pfeile waren kein großer sportlicher Erfolg. Zwei stecken im äußeren blauen Ring, einer hat die Scheibe gänzlich verfehlt. "Ein Ausreißer nach unten", sagt er und zeigt unter der Sonnenbrille mit den orangefarbenen Gläsern sein breites Grinsen. "Passiert mir nicht oft." Über die Jahre hat er seine Technik immer weiter verfeinert - seine Schussmotorik präzisiert, seinen Rücken gestärkt, die Ruhe vor dem Schuss gefunden. Der Trainer der Sportschützen hilft ihm immer wieder dabei, achtet auf die Position des Kinns und den Zug der Sehne bis zur Nasenspitze. Bogenschießen ist Gefühlssache.
Hülsey erinnert sich an die erste Zeit nach seiner Erblindung, als für ihn solche sportlichen Herausforderungen undenkbar waren. "Ich war völlig am Boden." Das damalige Gefühl hat er auch heute nicht vergessen. "Bis ich mich aufraffen konnte, habe ich viel Zeit gebraucht." Seine Familie bewahrte ihn vor der Resignation. Und seine Freunde. "Trotz aller Sorgen standen sie zu mir und holten mich aus dem dunklen Loch, in dem ich saß."
Die Jahre damals haben ihn stark gemacht. Er entwickelte eine neue Wahrnehmung dafür, wie er wieder Freude am Leben gewinnen konnte. Sein Horizont, sein Handlungsspielraum wurde nach und nach größer. Das Gefühl will er weitergeben. "Es gibt nicht wenige, die in ähnlichen Situationen sind." Er hat sich zum Berater für Menschen mit Sehbehinderung ausbilden lassen, unterstützt im Verein "Blickpunkt Auge" erblindete Menschen und ihre Angehörigen. Viele Jahre saß er auf Landesebene im Vorstand des Blinden- und Sehbehindertenvereins. Der enge Kontakt zu Hilfen und Angeboten der Caritas gehört zu seinem Engagement dazu.
Angebote
Für Menschen mit Sehbehinderungen bieten die örtlichen Caritasverbände Angebote etwa über ihre Kontakt- und Beratungsstellen für Menschen mit Behinderungen. Sie informieren unter anderem gezielt über Augenkrankheiten, Sehhilfen, rechtliche Ansprüche, wie Blindengeld und Blindenhilfe, Alltagssicherheit und Verkehrsfragen. Einige Dienste bieten auch Online-Beratung oder Peer-Beratung an. Zudem sind sie gut vernetzt und kooperieren beispielsweise mit dem Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen e. V.