Nichts ist mehr so, wie es einmal war
Der Journalist und Erfahrungsexperte Golli Marboe unterrichtet Medienethik an der Universität Wien, ist Mitglied bei Supra (Koordinationsstelle zur Suizidprävention des Bundesministeriums für Gesundheit in Österreich) und publizierte in zahlreichen Medien zum Thema. Außerdem ist er Autor des Buches „Notizen an Tobias“, in dem er über das erste halbe Jahr nach dem Suizid seines Sohnes Tobias schreibt.Foto: Michael Bönte
Vor etwa sechseinhalb Jahren hat sich mein Sohn Tobias das Leben genommen. Seine Freunde, wir alle fragen uns: Was haben wir übersehen? Was hätten wir besser machen können? Auf diese Fragen werde ich wohl zu meinen Lebzeiten keine Antworten finden. Aber einen Befund gibt es bei seinen Freunden und Freundinnen und in unserer Familie seit damals: Wir wussten zu wenig über Fragen des psychischen Wohlbefindens. Denn wenn Tobias sich beim Sport das Bein gebrochen hätte, dann hätten wir alle gewusst, was es zu tun gibt: Unfallkrankenhaus, Röntgen, Gips, zwei Wochen später eine Kontrolle. Aber wie geht man mit jemandem um, der sich immer mehr zurückzieht, über Wochen trübsinnig ist oder gar Dinge behauptet, die objektiv gesehen einfach nicht stimmen können?
Da hatten wir keine Informationen, keine Routinen, und auch in jenen Medien, die wir regelmäßig nutzen, war das kaum Thema. Dabei hat das Schweigen über "mentale Themen" verheerende Folgen. Einerseits für Menschen, die einen Verlust zu verarbeiten haben: Diese Menschen haben ohnehin keine Kraft mehr für irgendetwas, verwenden aber die wenige verbliebene Energie, um das eigene Leid zu verheimlichen - vor den Arbeitskolleginnen und -kollegen, vor der Nachbarschaft, vielleicht sogar vor der eigenen Familie -, statt zu versuchen, die verbliebene Kraft zu nutzen, um wieder halbwegs in die Spur zu finden.
Und noch schlimmer ist dieses Schweigen für Menschen in einer mentalen Krise - vielleicht sogar in einer suizidalen Verengung. Diese Menschen haben das Gefühl, sie seien die Einzigen, denen es so gehe - denn die anderen reden ja nie über Krisen, denen muss es also gut gehen … Dann ziehen viel mehr Betroffene, als wir für möglich halten, einen schrecklichen Schluss: Diesen anderen Menschen ginge es wahrscheinlich noch besser, wenn man nicht mehr da wäre. In Deutschland nehmen sich dreißig Menschen am Tag das Leben, pro Jahr sind das mehr als 10000.
Der "Papageno-Effekt"
Suizidalität - als Gipfel psychischer Themen - gehört genauso öffentlich besprochen wie andere Aspekte unseres sozialen Miteinanders auch. Man sollte nur wissen, wie man darüber spricht und schreibt. Denn - ja, es gibt die Gefahr der Nachahmung: den sogenannten "Werther-Effekt". Wenn man Selbsttötung als eine Antwort auf ein Problem, eine Art Medikament, einen Ausweg aus dem Leid darstellt, kann Kommunikation über Suizidalität auch zur Nachahmung führen.
Aber es gibt eben auch den sogenannten "Papageno-Effekt". Wenn man davon berichtet, dass man jede auch noch so schreckliche psychische Krise überwinden kann, und wenn man nicht zuletzt auch davon erzählt, dass jeder Mensch, der gegangen ist, von den Hinterbliebenen schmerzlich vermisst wird, dann hat Kommunikation selbst über Suizidalität einen positiven Nachahmungseffekt. Das wurde an der Medizinischen Universität Wien vor etwa 15 Jahren nachgewiesen und ist inzwischen Teil der WHO-Empfehlungen zur Kommunikation über Suizidalität.
Zu fragen überwindet die Einsamkeit
Es hat sich auch noch nie ein Mensch das Leben genommen, wenn man die Frage gestellt hat: "Du wirkst schon seit Längerem so bedrückt, ich mache mir Sorgen um dich, hast du vielleicht sogar vor, dir das Leben zu nehmen?" Egal, ob jung oder alt, man darf diese Frage an jeden stellen. Man kann damit niemanden zur Selbsttötung anregen - das Gegenteil ist der Fall. Ein Mensch in einer psychischen Krise fühlt sich in seinem Elend von jemand anderem gesehen. Die Betroffenen sind weniger allein. Die suizidale Verengung kann möglicherweise etwas geöffnet werden, und neue Hoffnung, neue Perspektiven können entstehen. Man kann mit einer solchen Frage nichts falsch machen, außer dass man einem Menschen, um den man sich sorgt, diese Frage nicht stellt. Denn dann bleibt die Person in der Einsamkeit und psychischen Enge allein.
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Auch Angehörige und Hinterbliebene darf man alles fragen, was einem am Herzen liegt. Man sollte nur niemanden dazu drängen, auch alles beantworten zu müssen. Aber der Austausch mit Hinterbliebenen - ob familiär oder freundschaftlich verbunden, ob ehemalige Klassenkolleginnen, -kollegen oder Pädagoginnen und Pädagogen - ist enorm wichtig, denn man kann Postvention in diesem Fall auch als Prävention betrachten. Sowohl für die Hinterbliebenen selbst, die sich nicht allein erleben, als auch für Menschen, die Angst haben, in ihrer Verwandtschaft oder Bekanntschaft könnte auch eine derartige Katastrophe geschehen, aber aus Angst, etwas Falsches zu sagen, nicht darüber sprechen.
Und das alles gilt auch und gerade für Journalistinnen und Journalisten: Wenn sie die Sichtbarkeit des Themas verbessern helfen, wenn sie dazu beitragen, über psychische Probleme ins Gespräch zu kommen, wenn sie von Hilfseinrichtungen erzählen und diese in ihren Berichten ausführlich vorstellen, dann ermöglichen sie psychisch belasteten Menschen, sich weniger als Außenseiterinnen und Außenseiter zu erleben.
Damit kämen wir auch dem Verständnis einer liberalen demokratischen Gesellschaft etwas näher: Denn die Demokratie formuliert sich nicht über den Mehrheitsentscheid, sondern über die Freiheit jedes einzelnen Bürgers, jeder einzelnen Bürgerin, so zu leben, wie er oder sie möchte, damit die Freiheit eines anderen nicht verletzt wird. Ein so gelebtes gesellschaftliches Miteinander würde eine der größten Barrieren für psychisch belastete Menschen abbauen helfen: Denn Menschen mit einem psychischen Thema fühlen sich immer etwas anders als die sogenannten Normalen.
Papageno-Effekt
Um Nachahmung zu vermeiden, wird über Suizide immer noch sehr wenig berichtet. Doch richtige Berichterstattung kann zur Prävention beitragen und das Leid von Angehörigen und suizidalen Personen lindern. Dieses Phänomen nennt man den "Papageno-Effekt".
www.vsum.tv/der-papageno-effekt
Telefonseelsorge
Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Es gibt auch Hilfsangebote. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 erreichbar.