Der Auftrag der Caritas
Dr. Christian Schmitt ist seit fünf Jahren Vorstandsmitglied im Diözesan-Caritasverband Münster. Er hat angekündigt, Ende August aus dem Amt zu scheiden. Schmitt ist auch Domvikar im Bistum Münster.Foto: Achim Pohl
Eines war von Anfang an klar: Eine Mitwirkung der Caritas als Teil der katholischen Kirche kann es bei Selbsttötungen nicht geben. Für eine realistische Einschätzung unserer Handlungsoptionen ist es wichtig, sich dies klarzumachen. "Das menschliche Leben ist heilig … Nur Gott ist der Herr des Lebens … Niemand darf sich, unter keinen Umständen, das Recht anmaßen, ein unschuldiges menschliches Leben direkt zu zerstören" (KKK, Nr. 2258). Dieses absolute Verbot wird auch auf die Selbsttötung bezogen. Daher ist eine Mitwirkung nie erlaubt. Damit ist noch kein moralisches Urteil über die Person gefällt, sie kann schuldlos sein. Für die Caritas ist es wichtig zu wissen: Als Teil der Kirche dürfen wir niemals bei Suizidhandlungen mitwirken. Das ist eine Grenze, aber darin könnte die Chance einer eindeutigen Positionierung liegen.
Die katholische Kirche kann für sich ein glaubensdefiniertes Selbstverständnis in Anspruch nehmen: Nach ihrem Glauben ist es ihr aus religiösen Gründen nicht erlaubt, sich an irgendwelchen Tötungs- oder Selbsttötungshandlungen zu beteiligen. Wenn sich die katholische Kirche in dieser Frage auf die Glaubensfreiheit (Art. 4 GG) beruft und dies nach ihrem institutionellen Selbstorganisationsrecht (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 ff. WRV) auf alle ihre Einrichtungen ausdehnt, dann gäbe es keine Mitwirkung bei Suiziden in katholisch-caritativen Einrichtungen. Dies müsste in entsprechender Weise durch Artikel in den Heimverträgen künftigen Bewohnerinnen und Bewohnern flächendeckend kundgetan werden.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von Februar 2020 dem Gesetzgeber eine nahezu unerfüllbare Aufgabe gestellt. Der Gesetzgeber soll zugleich Suizidassistenz ermöglichen und Suizide verhindern. Das ist die Quadratur des Kreises. Zwei Anläufe sind an dieser Aufgabe im Deutschen Bundestag gescheitert. Aktuell hat Deutschland die liberalste Gesetzeslage zum assistierten Suizid, die es auf der ganzen Welt gibt, nämlich gar keine: Vom Jugendlichen bis zum Greis, krank oder gesund, alle haben ein Recht darauf, sich zu suizidieren. Wir sollten damit rechnen, dass diese Gesetzeslage so bleibt. Hoffentlich kommt wenigstens ein Suizidpräventionsgesetz.
Für die Caritas liegt in dieser Situation die Chance, erneut zur Anwältin vulnerabler Menschen zu werden. In allen Ländern, die die Suizidassistenz rechtlich ermöglicht haben, steigen die Zahlen der Suizide. In vielen Ländern wurde nachfolgend außerdem die Tötung auf Verlangen erlaubt, weil auch Menschen, die sich nicht mehr selbst töten können, der Tod ermöglicht werden soll. In den Niederlanden stirbt mittlerweile mehr als jeder 20. Mensch (6 %) an Suizid oder Tötung auf Verlangen. In einer Einrichtung der Altenhilfe oder der Eingliederungshilfe ändert sich die Atmosphäre, wenn das Weiterleben eines Menschen nicht mehr selbstverständlich ist. Wenn der Tod eine von mehreren Handlungsalternativen ist, dann wird jeder, der weiterleben will, begründungspflichtig gemacht. Darauf hat Robert Spaemann schon vor Jahrzehnten hingewiesen. Wenn wir alte Menschen, deren Selbstbewusstsein durch die Verlusterfahrungen des Alterungsprozesses ohnehin gelitten hat, dazu verpflichten, begründen zu sollen, warum sie noch weiterleben wollen, dann setzen wir sie einem Druck aus, dem viele nicht standhalten werden. Unter einem derartigen Druck, der sich auch demografiebedingt ganz automatisch steigern wird, werden immer mehr Menschen die normaler werdende Alternative Suizid wählen.
Druck- und Konfliktsituation
In dieser Druck- und Konfliktsituation will und soll die Caritas präsent sein. Anders als bei der "Scheinlösung" zu § 218 gibt es beim assistierten Suizid keine Scheine. Die Caritas kann daher den Menschen im Suizidkonflikt nahe sein und beraten. Das ist ein entscheidender Unterschied. Wer nicht weiß, ob sein Todeswunsch oder seine Lebensmüdigkeit auch Suizidwunsch ist, kann mit uns sprechen. Wir können alles, was möglich ist, an Hilfe zum Leben anbieten. Beim Suizid hört unsere Mitwirkung als Trägerorganisation dann auf. Wir hoffen, dass sie sich in den meisten Fällen durch unsere Arbeit erübrigt hat.
Das Bundesverfassungsgericht hatte geschrieben, dass niemand bei seiner Entscheidung zum Suizid unter Druck gesetzt werden darf. Es hat dabei leider übersehen, dass es den Mechanismus des sich steigernden Druckes selbst in Gang gesetzt hat: Alte Menschen wollen niemandem zur Last fallen. Sie wissen, dass der Suizid für die Angehörigen und die Gesellschaft ressourcenschonender ist. Man muss das nicht einmal sagen. Schweigen würde genügen. Wenn die Kirche und Caritas sich glaubensdefiniert bei (Selbst-)Tötungshandlungen nicht beteiligen, dann werden wir nicht schweigen dürfen, sondern proaktiv vermitteln: Es ist gut, dass du da bist!
Schweigen kann tödlich werden
In der Bergpredigt (Mt 5,21-22) radikalisiert Jesus das Tötungsverbot und sagt, dass man auch durch Worte jemanden sozial töten kann. Wir müssen mit Elisabeth Noelle-Neumann die Vertiefung, die Jesus dem Tötungsverbot gegeben hat, noch einen Schritt weiterdenken und die Schweigespiralen miteinbeziehen: Wenn der gesellschaftliche Kontext sich, wie oben beschrieben, entwickelt, dann kann man auch mit Schweigen töten. Wer nicht aktiv dem gesellschaftlichen Druck zum Suizid widerspricht, wird dazu beitragen, dass Menschen sich suizidieren. Caritative Einrichtungen dürfen hier nicht schweigen. Sie müssen jedem Menschen vermitteln, dass er willkommen ist und leben darf. Die Grundbotschaft der Caritas geht nur eindeutig: Es ist gut, dass du da bist! Und soweit es an uns liegt, tragen wir dazu bei, dass du leben kannst!