"Wir sind jetzt ihre Familie"
Einmal in der Woche fährt die mobile Schule der Caritas an den Rand von Tiflis zu den Kindern von aserbaidschanischen Kurden.Foto: Zviad Rostiashvili
Ein Wohnhaus in einer Seitenstraße in einem Wohngebiet mitten in Tiflis: Der Lärm von spielenden Kindern schallt durch die offene Tür. Kichernd zupft ein Mädchen ein anderes am Ärmel und deutet auf die Erwachsenengruppe. Große Kinderaugen blicken die Besucher neugierig an. Die deutsche Caritasdelegation besucht hier eines der Vorzeigeprojekte der sozialen Arbeit in einem ehemals sowjetischen Land.
Schnell lässt das Interesse an den fremden Gästen wieder nach. Spielen und Toben sind wichtiger. Das große Trampolin im Hof ächzt und knarzt unter wilden Sprüngen. Das Kinder- und Jugendzentrum der Caritas Georgien ist Notschlafstelle für Straßenkinder, Tagesstätte für Schulkinder aus bedürftigen Familien und Wohnheim für Kinder, die kein Zuhause mehr haben.
"Manche Kinder haben gar keine Familie, manche kennen ihre Familie nur nicht", sagt der Sozialarbeiter Jimmy, der seit 2009 für die Caritas arbeitet. Manche Kinder wurden geschlagen und misshandelt, sind von zu Hause ausgerissen. Manche leben in ihren Großfamilien, oft Roma oder andere Minderheiten, auf der Straße und müssen zum Familieneinkommen beitragen. Wieder andere wurden von ihren Eltern auf der Durchreise einfach zurückgelassen. Georgien ist zum klassischen Transitland für Menschen auf dem Weg von Ost nach West, von Süden nach Norden geworden.
3000 Straßenkinder leben in Georgien
Zuflucht finden die Kinder im Zentrum der Caritas. "Wir sind in einer Art und Weise die einzige Familie, der sie trauen", sagt Jimmy. Die Straßenkinder kommen immer, wenn sie etwas brauchen. Das kann Essen sein oder eine Dusche, manche kommen, wenn sie krank sind oder wenn sie Probleme mit der Polizei gekriegt haben. Im Kinder- und Jugendzentrum finden sie ein Bett, erfahren Bildungsangebote oder können auch "nur" spielen. "Es sind immer noch Kinder", sagt Jimmy.
Betreuung im KinderzentrumFoto: Zviad Rostiashvili
Nach einer Nacht, nach ein paar Tagen verschwinden einige wieder. Oder sie lassen sich überzeugen zu bleiben. "Wir hier versuchen, ihr Leben ein bisschen besser zu machen", sagt Jimmy mit Überzeugung. Es gibt Erfolgsgeschichten - und es gibt Kinder, "deren Lebenssituation auf der Straße wir nicht ändern, weil sie nach einer Nacht oder nach ein paar Tagen wieder abhauen".
Nach Schätzungen leben 3000 Straßenkinder in Georgien, in einem Land mit 3,7 Millionen Einwohner*innen (zum Vergleich: In Deutschland gibt es etwa 6500 Straßenkinder bei 84 Millionen Einwohner*innen). Sie organisieren sich in Gruppen und Banden, schlagen sich in der Hauptstadt Tiflis durch mit Betteln, kleinen Diebstählen, Gelegenheitsjobs, Prostitution oder auch durch Dealen.
Tamar Sharadshidze, die Leiterin des Kinder- und Jugendprogramms, und ihre Kolleg*innen sind Sozialarbeiter*innen, Streetworker*innen und Pädagog*innen. Aber auch Freiwillige arbeiten hier im Zentrum mit, manchmal ehemalige Bewohner*innen. Die Streetworker*innen sprechen immer wieder Kinder an, die auf der Straße leben. Das rote Logo der Caritas ist in der Szene bekannt.
Zwölf Schlafplätze bietet das Kinder- und Jugendzentrum der Caritas, die meist alle belegt sind. Es hat sich unter den Straßenkindern rumgesprochen, dass man der Caritas vertrauen kann. Wenn sie dauerhaft bleiben, gehen sie zur Schule, leben in dem Zentrum, bis sie in Wohngruppen vermittelt werden können oder aber als Erwachsene lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.
Neben der Notschlafstelle und dem Wohnbereich fungiert das Kinder- und Jugendzentrum der Caritas auch als Tagesstätte, die täglich bis zu 25 Kinder besuchen. Hierher kommen Kinder aus benachteiligten Familien nach der Schule, erhalten ein Mittagessen, werden betreut und weiter gefördert.
Mobile Schule einmal pro Woche
Es hat lange gedauert und zähe anwaltschaftliche Arbeit der Caritas gebraucht, bis auch die georgische Regierung das Problem der Straßenkinder anerkannt hat.Foto: Zviad Rostiashvili
In den sonnigen Hof ist inzwischen ein kleiner Anhänger mit einem kastenförmigen Aufbau gerollt worden. Teona Genenidze ist Sonderschullehrerin und verantwortlich für die mobile Caritas-Schule. Sie zieht mehrere Platten aus dem Hochkantkasten und bestückt sie mit Lerntafeln, während einige Kinder ankommen und mit Kreide auf den Tafeln malen. Als alles parat ist, wird der Anhänger an einen kleinen Caritas-Bus gehängt, und dann geht es los. Die mobile Schule fährt an den Rand der Stadt in die Nähe des Flughafens. "Straße nach Afrika" wird die Gegend in Tiflis vielsagend genannt.
Auf einer Brachfläche neben einer Barackensiedlung hält der Caritas-Bus - hier leben aserbaidschanische Kurden. Als er zum Stehen kommt, ist der Anhänger mit der mobilen Schule sofort umringt von zwei Dutzend Kindern. Die Kleinsten tragen noch Windeln, manche laufen barfuß, es sind Kinder im Alter bis zehn. Genenidze und zwei ehrenamtliche Mitarbeiterinnen umarmen und herzen viele von den Kindern, die sich riesig freuen. Dann wird die Schule geöffnet, die Kinder spielen an den Lerntafeln, malen mit Kreide. Genenidze und die Freiwilligen üben mit ihnen einzelne Buchstaben und Zahlen, zeigen ihnen Legespiele. Das geht so etwas mehr als eine halbe Stunde, dann ist zu spüren, wie das Aufmerksamkeitslevel nachlässt. Bevor die Kinder sich zerstreuen, kriegen sie alle ein Getränk.
Gestrandet ohne Pässe
Die Menschen hier waren ursprünglich im Iran sesshaft. Von dort sind sie über Aserbaidschan nach Georgien migriert. Vielleicht, weil in Aserbaidschan vor 15 Jahren das Betteln unter Strafe gestellt wurde. Taleh heißt einer von ihnen, er erzählt: Neun Geschwister hat er, mit seinen Brüdern und der Mutter lebt er seit 21 Jahren hier, seine Schwestern seien in Aserbaidschan verheiratet. Die meisten Erwachsenen hier können nicht lesen und schreiben, haben nie eine Schule besucht, keine Ausbildung, sie haben keine Pässe. Sie leben von Gelegenheitsarbeiten, fahren Taxi. Kontakt zu Georgiern in der Nachbarschaft haben sie nicht. Niemand, nicht einmal die Polizei, interessiert sich für sie. Außer der Caritas.
Einmal pro Woche fährt die mobile Caritas-Schule den Ort an. Den Kindern sollen Grundzüge von Bildung ermöglicht werden: Namen zu lernen, Begriffe zu lernen, einen Zahlenraum zu erfassen. Es geht darum, ein Bewusstsein zu vermitteln, dass das Leben mehr Möglichkeiten bietet als Armut und Betteln.
Zurück im Kinder- und Jugendzentrum, ist inzwischen Zeit für das Mittagessen. An langen Tischen gibt es Reis mit Sauce, Salat und roten Fruchtsaft. Die Atmosphäre ist lebhaft und fröhlich, und die Herzlichkeit der Pädagog*innen und Betreuer*innen ist zu spüren. Nach dem Essen steht Unterricht auf dem Programm.
Der Schutz und die Betreuung von Kindern seien das größte soziale Problem in Georgien, sagt Caritasdirektorin Anahit Mkhoyan: "Deshalb kümmert sich auch fast die Hälfte der gesamten Caritas um die Probleme von Kindern", sagt Mkhoyan. Angefangen mit der Unterbringung bis hin zur Schul- und Berufsausbildung und zu ihrer Entlassung ins Leben.
www.caritas.ge (Website auch in Englisch)
Spenden für das Kinder- und Jugendprogramm in Georgien
Spendenkonto: Caritas international
IBAN: DE88 6602 0500 0202 0202 02
Stichwort: Georgien CY00070