Wir sind eine Verantwortungsgemeinschaft
Caritas in NRW: Waren Sie beide eigentlich im Kindergarten?
Josefine Paul: Ja, ich war im Kindergarten. Aber ich bin 1982 geboren, damals war die Kindergartenzeit ein bisschen anders als die Kita heute. Aber wenn ich mich erinnere, fand ich die drei Jahre im Kindergarten eine sehr schöne Zeit.
Stephan Jentgens: Das ging mir genauso. Es muss 1968/69 gewesen sein und dann auch drei Jahre. Eine Zeit, in der ich viel gespielt, viel erlebt, viel ausprobiert habe, es war eine tolle Zeit, kann ich sagen.
Caritas in NRW: Heute spüren die Kitas noch die Folgen der Pandemie. Kinder und viele Eltern waren schwer belastet.
Josefine Paul: Kinder, Jugendliche und Familien haben ganz besonders unter den Einschränkungen der Pandemie gelitten. Für Kinder sind ihre Lebenswelten in der Kita. Spielplätze waren ganz zu Beginn der Pandemie abgesperrt, die Lebenswelten der Kinder wurden beschränkt. Aber auch Jugendliche haben erlebt, dass ihre Lebenswelten stark eingeschränkt wurden und Familien und junge Menschen hatten nicht das Gefühl, dass sie in der politischen Diskussion zur Pandemiebekämpfung gehört wurden.
Stephan Jentgens: Soziale Unterschiede wurden während der Pandemie verstärkt. Die Erzieherinnen und Erzieher standen unter ziemlichem Druck, gegenüber den Eltern dem Anspruch auf Verlässlichkeit gerecht zu werden und ihren eigenen pädagogischen Ansprüchen für die Kinder zu genügen. Auf der anderen Seite mussten auch sie mit der Furcht leben "Was passiert eigentlich, wenn ich mich anstecke?", "Wie kann ich auch mit Kindern umgehen, die krank sind?", "Wie muss ich mich gegenüber Eltern rechtfertigen?". Der Druck ist von Monat zu Monat gestiegen und am Ende hatten manche Träger Schwierigkeiten, ihre Mitarbeitenden noch zu unterstützen. Trotz Applaus, der ja auch die Erzieherinnen und Erzieher mitgemeint hat, waren viele wirklich an der Belastungsgrenze. Das wirkt noch nach.
Josefine Paul: In den Einrichtungen ist ganz, ganz viel gemacht worden, um den Kontakt zu den Familien zu halten. Viele Erzieherinnen und Erzieher haben sich sehr kreativ überlegt, was sie unter den Bedingungen der Pandemie für die Kinder und mit den Kindern machen können. Da ist vieles Tolles in den Einrichtungen geleistet worden.
Aber je länger die Pandemie angedauert hat, umso mehr ist das an die Substanz aller Beteiligten gegangen. Die Beschäftigten standen unter dem Druck, die Konzepte anzupassen, ihre pädagogische Arbeit anzupassen. Wir alle mussten uns ja ständig auf neue Umstände einstellen ohne die gesundheitlichen Folgen zu kennen. Was wir damals nicht wussten, aber heute sehr deutlich sehen, sind die sozial-emotionalen Folgen. Es ist wichtig, daraus zu lernen. Wir werden das politisch weiter aufarbeiten, auch gemeinsam mit den Kitas.
Sozial-emotionale Folgen betreffen auch die Jugendlichen. Deswegen haben wir für den Kinder- und Jugendförderplan eine neue Förderposition eingefügt mit der Komponente Resilienz. Denn junge Menschen haben selber zurückgemeldet, dass Resilienz und mentale Gesundheit für sie total wichtig sind.
Caritas in NRW: Viele Beschäftigte in Kindertageseinrichtungen und in den Einrichtungen des Offenen Ganztags waren nach der Pandemie Anfang 2023 zermürbt und körperlich und emotional am Limit. Es gab große Krankenstände, nicht nur mehr Covid, sondern auch Grippe, Erschöpfung oder Burn-out. Was haben Sie politisch gefordert und in die Wege geleitet?
Stephan Jentgens: In der Zeit war es enorm wichtig, miteinander gut im Kontakt zu bleiben. Das haben wir Spitzenverbände der Träger zusammen mit dem Ministerium kultiviert. Sie selbst, Frau Paul, haben es in Ihren ersten Monaten als Ministerin ausgesprochen, wie wichtig der Kontakt zwischen den Trägern und dem Ministerium ist.
Wir Wohlfahrtsverbände, die ja bei Weitem die meisten Träger vertreten, haben gesagt, es braucht unterstützende Maßnahmen, es braucht vor allem Zeit für die Teams, für die Vorbereitung von pädagogischen Arbeiten. Es braucht aber auch Zeit für die Fortbildung, für die Aufarbeitung der Pandemie-Wirren. Wir sitzen allerdings gemeinsam in einer Klemme, weil uns immer noch Fachkräfte fehlen. Deswegen müssen wir heute grundsätzlicher über die Logiken des Systems nachdenken. Kita darf sich zum Beispiel nicht gegen Pflege ausspielen lassen oder gegenüber anderen Branchen. Da sind wir miteinander im Gespräch.
Josefine Paul: Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Die Folgen der Pandemie sind immer noch spürbar, insbesondere für Familien, für Kinder, auch für die Beschäftigten in den Einrichtungen. Wir sind aber direkt in eine weitere Krise gerutscht, die durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ausgelöst wurde. Viele Menschen sind zu uns gekommen und wir haben die Verantwortung, Menschen, die vor Krieg und Gewalt zu uns fliehen, hier aufzunehmen, insbesondere eben auch die ukrainischen Geflüchteten.
Gleichzeitig hat diese neue Krise zu vielen neuen Verunsicherungen geführt. Ausgelöst durch den Ukrainekrieg haben wir Energiekostensteigerungen, auf die das Land NRW mit Hilfe eines Sondervermögens in Höhe von 60 Millionen Euro für die Träger der sozialen Arbeit reagiert hat. Wir merken natürlich auch, dass der permanente Krisenmodus für die Gesellschaft insgesamt sehr, sehr schwierig ist.
In der Pandemie haben wir Kita-Helfer*innen zur Entlastung und Unterstützung der pädagogischen Fachkräfte eingeführt. Es hat sich gezeigt, dass man die ganz dringend auch jetzt im Kita-Alltag braucht. Solche Unterstützung, dieses gezielte Entlasten auch im nicht pädagogischen Bereich, ist einer der Wege, an die wir weiter denken müssen, um das System zu entlasten. Es gibt nicht die eine einzige Maßnahme, sondern viele Ansätze, über die wir gemeinsam im Gespräch sind. Es kann nur gemeinsam gehen, wenn wir dem Fachkräftemangel begegnen und zugleich die Verantwortung wahrnehmen, das System der frühkindlichen Bildung weiterzuentwickeln und in Quantität und Qualität an die Notwendigkeiten der Zeit anzupassen.
Stephan Jentgens: Das trifft genau das, was die Freie Wohlfahrt und die Caritas denken und brauchen. Wir müssen es hinbekommen, in Verantwortung für eine zukünftige Generation die Qualität hochzuhalten und trotzdem genügend Menschen zu finden, die die Arbeit in einer guten Art und Weise tun, Fachkräfte und auch "Fachkraft in Entwicklung".
Wenn ich Sie fragen würde, Frau Paul, wo haben Sie das Minister-Amt gelernt, dann würde wahrscheinlich dabei herauskommen, dass 70 Prozent dessen, was tatsächlich im Job gebraucht wird, in sogenannten informellen Lernprozessen ein "Training on the Job" ist. Bei meinem Amt ist es genauso! Und das ist nicht schlecht!
Das gibt es auch in anderen Berufen. Die Leute gehen hellwach in die Kita und lernen in einer steilen Kurve von den Kolleginnen, von den Kollegen, von den Kindern, auch teilweise von den Eltern, worum es da jetzt geht.
Entscheidend ist, die Ambitionen zu stärken, die die Menschen in ihren selbstständigen informellen Lernprozessen entwickeln. Wir müssen die Träger unterstützen, diese informellen Lernprozesse zu fördern, damit Menschen möglichst schnell in die Arbeitsabläufe, in die Teams reinkommen. So könnte eine Einrichtungsleitung bei Neueinsteiger*innen ohne Ausbildung nach drei oder sechs Monaten eine Art Lernstandserfassung mit Blick auf den DQR 6 (= Deutscher Qualifikationsrahmen - Niveau 6), also den Erzieher*innen-Qualifikationsstandard, durchführen und die nächsten Ausbildungsschritte planen. Wenn das ermöglicht würde, könnte man sehr günstig in Zeiten knapper Ressourcen Potenziale heben.
Die Träger hätten es selber in der Hand ihre Lage zu verbessern. Die Menschen, die in den Be-ruf einsteigen, lernen vom ersten Tag an. Wir hätten zusätzlich zur klassischen Ausbildung ein weiteres System.
Darüber muss man dann aber auch mit dem Schulministerium ins Gespräch kommen. Ich weiß aus den Arbeitsgruppen, in denen wir unterwegs sind, dass Sie das tun.
Das wäre ein modulares System der Ausbildung, bei dem neben den klassischen schulischen und Studierendenausbildungen neue Elemente hinzukommen. Ich fände es auch gut, die Träger bei solchen Lernstandserfassungen zu beteiligen. Damit die Bürokratie verringert wird, damit die Landesjugendämter und andere Stellen entlastet würden.
Josefine Paul: Sie beschreiben genau das, was wir in Zukunft haben werden, um Potenziale zu heben und unterschiedliche Menschen als Personal in die Kitas zu bekommen. Das nennt man ja multiprofessionelle Teams, die unterschiedliche Erfahrungshorizonte einbringen und damit den Kindern unterschiedliche Erfahrungen ermöglichen.
Wir werden zukünftig einerseits immer noch die klassische schulische Ausbildung haben. Wir verzeichnen darüber hinaus einen steigenden Anteil an praxisintegrierten Ausbildungsformen. Allein im Jahr 2023 gab es 900 neue landesgeförderte Ausbildungsplätze für die praxisintegrierte Ausbildung im Bereich der Kinderpfleger*innen. Auch das ist ein weiterer Baustein, um Menschen auf unterschiedlichen Qualifikationsniveaus abholen zu können und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich weiterzuentwickeln. Miteinander sehr intensiv diskutieren müssen wir allerdings darüber, wie eigentlich eine modularisierte Qualifizierung aussehen kann.
Wir haben bereits mit dem Programm zu den Integrationsbegleiter*innen für Frauen mit Flucht- und Migrationshintergrund einen Zugang zum Arbeitsfeld Kita geschaffen, der jetzt auch für Männer geöffnet ist. Das ist ein sehr erfolgreiches Programm.
Caritas in NRW: Trotz Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz fehlen nach Berechnungen der Bertelsmann Stiftung 100000 Kita-Plätze in NRW. Reichen Ihre Maßnahmen, wenn Kita nicht nur Betreuung leisten soll, sondern den Bildungs- und Erziehungsanspruch einlösen muss?
Josefine Paul: Es gibt einerseits so viele Kita-Plätze wie noch nie, und es sind so viele Fachkräfte im System wie noch nie. Gleichzeitig ist der Bedarf so hoch wie noch nie und wächst schneller als der Platzausbau und die Fachkräfteausbildung. Das ist eine Herausforderung, die werden wir nicht von heute auf morgen lösen können, denn der Fachkräftemangel hat sich auch nicht von heute auf morgen aufgebaut. Es braucht ein Maßnahmenbündel.
Wir haben gemeinsam ein Sofortprogramm Kita verabredet, bei dem wir in der Personalverordnung den Einrichtungen mehr Flexibilität ermöglichen. In allen Gruppenformen können sie Ergänzungskräfte, also beispielsweise Kinderpflegerinnen, einsetzen. Das war ein wichtiger Schritt. Es war auch wichtig, dass wir zusätzliche Ausbildungsplätze für den Bereich Kinderpflege fördern können. Es ist wichtig, dass wir im Bereich der ausländischen Fachkräfte mit einem Erlass für Erleichterungen sorgen konnten.
Das alles sind Bausteine, denn es wird nicht die eine einzige Maßnahme geben, die dazu führt, dass wir unseren Bedarf an Fachkräften ganz schnell gedeckt haben. Es gibt viele gute Ideen für Maßnahmen, und wenn wir die konsequent miteinander umsetzen, dann werden wir die Situation auch Schritt für Schritt verbessern können.
Stephan Jentgens: Da gehe ich gerne mit. Es gibt eine Bedingung: Wir brauchen eine Perspektive und eine Verlässlichkeit. Das Alltagshelfenden-Programm haben Sie jetzt auf längere Zeit abgesichert. So etwas brauchen wir auch bei anderen Programmen - wie z. B. den Sprach-Kitas.
Josefine Paul: Wir werden uns ja miteinander auch noch das KiBiz, das Kinderbildungsgesetz, anschauen, insbesondere auch mit Blick auf Entlastungen im Bereich von Verwaltung etc. Es ist unsere Aufgabe, dieses Gesetz wieder zu vereinfachen. Können wichtige Programme wie Sprach-Kitas, wie die Kita-Alltagshelfenden mit in das Gesetz integriert werden? Das bringt die Perspektive, Planbarkeit und Planungssicherheit.
Stephan Jentgens: Prima. Genau das brauchen wir. Befristete Förderprogramme enthalten immer Unsicherheiten. Ein Thema, das bei der KiBiz-Novelle auch angeschaut werden müsste, ist die Frage, wie die Finanzierung aussieht. Wir warten auf die Studie der Prognos AG. Aber mir geht es auch um die Finanzierungssystematik. Derzeit werden unsere Kostensteigerungen erst nach 18 Monaten angepasst. Das ist in einer Situation, in der die Kosten inflationär hochschnellen, besonders prekär und schwierig. Das Land und die Kommunen wollen für ihre Haushalte Planungssicherheit haben und zahlen daher erst mit Verzug von 18 Monaten. Das birgt ein Risiko vor allem für die kleinen Träger. Ich fände es besser, wenn man den Zeitpunkt der Erhöhung näher an die tatsächlichen Kostensteigerungen heranschieben könnte. Eigentlich müsste eine Risikolastumkehr erfolgen, dass die öffentliche Hand früher zahlt und dann später abgerechnet wird. Damit das Risiko nicht bei den kleineren Partnern, also bei den Trägern, liegt.
Josefine Paul: Wir haben ja mit der Dynamisierungsregel im KiBiz etwas ganz Wichtiges geschafft. Die Dynamisierung ist nicht mehr statisch, sondern orientiert sich an der Realkostensteigerung. Mit dem Haushalt 2024 gibt es eine Dynamisierung von fast zehn Prozent. Mit dem Haushalt 2024 stehen rund 550 Millionen mehr für die freien und öffentlichen Träger zur Verfügung. Das ist ein großer Unterschied im Vergleich zu früher. Trotzdem haben wir miteinander vereinbart, mit den Daten von Prognos bei der Weiterentwicklung des KiBiz auch die Berechnungsgrundlage zu überprüfen.
Wir haben allerdings diesmal wirklich eine besonders problematische Ausgangssituation, die Lage ist insgesamt für die Kita-Landschaft schwierig, vor allem auch für die freien Träger. Das liegt an Kostensteigerungen, ausgelöst durch Krieg, Inflation und den hohen Tarifabschluss, den Kommunen und Bund mit den Tarifpartnern ausgehandelt haben. Sie saßen nicht am Tisch, wir als Land saßen nicht am Tisch. Es ist für die Beschäftigten auch gut und richtig, dass es einen hohen Tarifabschluss gegeben hat. Trotzdem stellt das Ergebnis natürlich die freien Träger vor immense Herausforderungen.
Wir haben jetzt als Land noch mal 100 Millionen Euro zugesagt, um eine Brücke hin zum Start des nächsten Kita-Jahres zu bauen, also zum 1. August 2024, wenn die Dynamisierung greift. Dann gibt es ja fast zehn Prozent mehr, das wird einen entscheidenden Beitrag zur Abfederung der Finanzlasten leisten. Diese 100 Millionen Euro sollen dahin eine Brücke bauen. Sie sollen die freien Träger unterstützen, damit aber natürlich auch mittelbar die Kommunen. Denn die Kommunen wären sonst in der Verpflichtung, Einrichtungen zu übernehmen, wenn freie Träger ihre Einrichtungen abgeben müssten.
Caritas in NRW: Manche Träger gehen mit einem Millionen-Defizit ins Jahr 2024. Der wirtschaftliche Druck ist jetzt schon so stark, dass manche sagen, wir schaffen es nicht. Müssen die Kommunen nicht mit Blick auf ihren Anteil an der Finanzierung auch eine Überbrückungshilfe leisten?
Josefine Paul: Das Land hat einem Bereich, wo wir gar nicht an den Verhandlungen beteiligt waren, Verantwortung übernommen. Wir sind Teil der Verantwortungsgemeinschaft bei der frühkindlichen Bildung. Wir sehen, vor welch immensen Herausforderungen die soziale Infrastruktur steht und dementsprechend übernehmen wir Verantwortung. 100 Millionen Überbrückungshilfe sind ein Signal. Das Land hat einem Bereich, wo wir gar nicht an den Verhandlungen beteiligt waren, Verantwortung übernommen. Wir sind Teil der Verantwortungsgemeinschaft bei der frühkindlichen Bildung. Wir sehen, vor welch immensen Herausforderungen die soziale Infrastruktur steht und dementsprechend übernehmen wir Verantwortung. 100 Millionen Überbrückungshilfe sind ein Signal.
Stephan Jentgens: Die 100 Millionen Euro Überbrückungshilfe waren das richtige Zeichen in einer Situation, in der die Träger seit elf Monaten vor Insolvenzen warnen. Wir sehen ja längst die Reduzierung von Betreuungszeiten, das Abmelden von Gruppen oder sogar Schließungen von Einrichtungen. Sich aus dem System zu verabschieden, das wachsen muss, wäre unverantwortlich.
100 Millionen hat das Land dankenswerterweise zur Verfügung gestellt, auch wenn wegen der Kostensteigerungen schon jetzt 200 Millionen Euro notwendig gewesen wären. Zudem fehlen 250 Millionen vonseiten der Kommunen. Da wünschte ich mir eine verbindliche und erkennbare Kommunikation Ihres Hauses mit den Kommunen, damit deutlich wird, dass diese auch zahlen müssen.
Sie haben an die Verantwortungsgemeinschaft appelliert. An der Finanzierung beteiligen sich grundsätzlich das Land, die Kommunen und die Träger selbst. Jetzt müssen die Kommunen in die Verantwortungsgemeinschaft eintreten.
Josefine Paul: Wir sind eine Verantwortungsgemeinschaft, und mit der Überbrückungshilfe für die freien Träger leisten wir einen Beitrag. Wir haben mit dem KiBiz einen klaren Rahmen, am 1. August kommt die reguläre Erhöhung durch die Dynamisierung, die zum neuen Kita-Jahr mit fast zehn Prozent den hohen Kostensteigerungen Rechnung trägt. Die Situation ist im Moment für alle herausfordernd, weil diese Krise auf alle Haushalte voll durchschlägt.
Stephan Jentgens: Meine Befürchtung ist, dass die Überbrückungshilfe nicht reicht, so dass die gleiche Situation in wenigen Monaten wieder entsteht, wenn die Kommunen nicht mit einsteigen sollten. Es wäre tatsächlich verheerend, diese Brücke praktisch nicht ganz über den Fluss geschlagen zu haben, sondern in der Mitte irgendwie aufgehört zu haben.
Caritas in NRW: Wenn wir weiter auf die Zukunft gucken: Sie wollen den weiteren Ausbau auch mit Qualität für Erziehung und Bildung und Betreuung. Das große Thema des Fachkräftemangels gilt es zu bewältigen. Was wären Optionen für die Zukunft, um wieder mehr Verlässlichkeit für die Eltern zu bieten, die während der Pandemie und immer noch damit konfrontiert sind, dass allein schon die Betreuung nicht ganz so funktioniert, wie sie sie bräuchten? Wenn Gruppen schließen, wenn Kitas schließen, wenn Plätze wegfallen, dann müssen die Eltern die Betreuung und die Erziehung und die Bildung übernehmen - und fallen als Arbeitskräfte aus. Eine funktionierende Kindergartenlandschaft ist Grundvoraussetzung für die Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Josefine Paul: Der Dreh- und Angelpunkt für eine starke soziale Infrastruktur sind die Menschen, die diese soziale Infrastruktur tragen. Dementsprechend ist der zentrale Punkt die Frage der Fachkräfte. Immer noch können sich viele junge Menschen vorstellen, in den Sozial- und Erziehungsberufen zu arbeiten. Neben der Weiterentwicklung der Ausbildung müssen wir versuchen, das Matching zu verbessern. Damit diejenigen, die eine Ausbildung anfangen wollen, die Schulplätze finden. Dann müssen wir auch überlegen, wie wir die Kräfte im System halten. Wie können wir Fachkräfte von Aufgaben entlasten, die nicht direkt pädagogisch sind? Welche Dokumentationspflichten sind essenziell, und wo können wir Bürokratie entschlacken?
Wir werden uns auch überlegen müssen, wie man Fach-Karrieren aufbauen kann, sodass man mit Funktionsstellen der Erzieher*innen auch Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten im System bietet. Das wird ein wichtiger Beitrag, um langfristig den Arbeitsplatz in der Kita attraktiv zu halten.
Stephan Jentgens: Die Freie Wohlfahrtspflege hat in ihrem Eckpunktepapier für die KiBiz-Novelle vorgeschlagen, vier verschiedene Personalgruppen in der Kita vorzusehen. Zwar muss das Arbeitsfeld weiter von sozialpädagogischen Fachkräften und pädagogischen Ergänzungskräften geprägt sein, wie sie momentan in der Personalverordnung genannt sind. Aber wir können uns auch vorstellen, Zusatzkräfte aus weiteren pädagogischen Berufsgruppen sowie profilunterstützende Kräfte einzusetzen. Profilunterstützende Kräfte sind Menschen, die mit den Kindern etwas handwerklich machen. Und als vierte Gruppe die sogenannten alltagsunterstützenden Kräfte. Da gehören dann auch Menschen dazu, die sich in Verwaltungsfragen auskennen, die dafür sorgen, dass der Alltag in der Kita eben auch mit den entsprechenden Mahlzeiten gestaltet werden kann und, und, und. Alles, um pädagogische Fachkräfte zu unterstützen und von bestimmten Aufgaben zu entlasten.
Solche multiprofessionellen Teams brauchen eine gute Steuerung, das funktioniert nicht alles von alleine. Deswegen müssen wir diskutieren über die Frage einer Leitungsfreistellung.
Josefine Paul: Darüber werden wir weiter diskutieren. Wir fangen gar nicht bei null an, sondern wir sind ja schon mitten im Gespräch zu den unterschiedlichen Bereichen, von denen wir viele ja gerade auch schon angesprochen haben. Alles unter den beiden Prämissen: Welche finanziellen Ressourcen stehen in Zeiten angespannter Haushaltslage zur Verfügung, und wie viele Fachkräfte finden wir?
Caritas in NRW: Zugespitzt gefragt: Läuft es auf Qualitätsstandards versus Versorgungssicherheit hinaus?
Stephan Jentgens: Qualitätsstandards versus Versorgungssicherheit - das wäre mir in der Abwägung viel zu einfach. Chancengerechtigkeit herzustellen, bedeutet zu fragen, wer braucht welche Unterstützung? Diejenigen, die weniger gute Startbedingungen haben, sind besonders zu fördern.
Aber eben auch die Frage, wer kann was einbringen. Wenn Eltern keine Kita-Beiträge zahlen müssen, werden gerne die 45 Stunden gebucht. Damit man schon mal garantiert hat, was man eigentlich maximal bekommen kann. Zu diskutieren sind also Anreizsysteme und Steuerungsmechanismen, damit es nicht zu Überbuchungen kommt und diejenigen zu kurz kommen, die entweder nicht rechtzeitig nach einem Kitaplatz gefragt haben oder zu wenig Umfang gebucht haben oder Elternbeiträge nicht zahlen können.
Josefine Paul: Es geht um die Frage: Wie wollen wir unser System stabilisieren und dabei weiterentwickeln? Wir müssen miteinander kreative Lösungen entwickeln.
Wir haben ganz unterschiedliche Ansprüche, die manchmal nur schwer miteinander zu harmonisieren sind. Vom Kind aus gedacht, ist Chancengerechtigkeit wichtig. Frühkindliche Bildung ist der Grundstein für gelingende Lebensbiografien, legt den Grundstein für Zukunftschancen. Die aktuellen Bildungsdiskussionen zeigen die Bedeutung der frühkindlichen Bildung, weil es auch um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft geht. Denn dafür brauchen wir in zwanzig oder dreißig Jahren gut ausgebildete Fachkräfte. Hier legt die frühkindliche Bildung den Grundstein. Hier finden Kinder mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund eine Institution, die sie alle gleichermaßen unterstützt.
Und natürlich ist die Kita ein Arbeitsort, deswegen müssen die Arbeitsbedingungen für das Personal attraktiv sein.
Und drittens: Eltern müssen ein verlässliches Betreuungsangebot für ihre Kinder vorfinden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist auch mit Blick auf die Gleichstellung und die Berufstätigkeit von Frauen wichtig. Für viele Familien ist das Betreuungsangebot essenziell, um den familiären Lebensunterhalt auch erarbeiten zu können. Andere Eltern arbeiten im Schichtdienst, brauchen auch eine verlässliche Betreuung für ihre Kinder. Alleinerziehende sind ebenfalls eine Gruppe, die wir bei ihren Bedarfen an Vereinbarkeit besonders im Blick haben müssen.
Diese unterschiedlichen Ansprüche miteinander zu verbinden, ist eine große Herausforderung. Einerseits haben wir so viel Qualität, so viel Fachkräfte im System wie noch nie. Andererseits sehen wir so hohe Bedarfe wie noch nie. Da gibt es gerade eine gewisse Schieflage. Das auszutarieren ist jetzt die Aufgabe einerseits für Kurz-, Mittel- und Langfristmaßnahmen und eben auch die Rahmung, in der wir eine KiBiz-Weiterentwicklung diskutieren.
Caritas in NRW: Frau Ministerin Paul, Herr Jentgens, ich danke Ihnen beiden sehr für das Gespräch.
Josefine Paul: Ich danke Ihnen und danke Ihnen Herr Jentgens.
Stephan Jentgens: Sehr gerne. Ich danke auch.
Das Interview führte Markus Lahrmann.