Das Schlimmste war die Bürokratie
Seit 2016 haben Annegret und Bernd Stöcker die syrische Familie von Basel und Ramia Al Shoueb begleitet und Fragen aller Art beantwortet. Jetzt braucht sie keine Unterstützung mehr.Foto: Markus Jonas
Entspannt sitzen sie im Wohnzimmer von Familie Stöcker in Dortmund-Kurl zusammen. Annegret Stöcker und ihr Mann Bernd haben das Ehepaar Ramia und Basel Al Shoueb zum Kaffeetrinken eingeladen. Und zum Erzählen, wie es ihnen und den vier Kindern geht. Wie die Große kurz vor dem Abitur zurechtkommt. Und ob der zweite Sohn noch unter Ängsten leidet. Schließlich haben die Stöckers die syrische Familie seit 2016 begleitet, sie nun aber quasi "in die Unabhängigkeit" entlassen. Denn im Juli vergangenen Jahres erhielten sie ihre Einbürgerungsurkunden, die sie zu deutschen Staatsbürgern machten. "Sie wussten nicht, dass wir zum Rathaus kommen", erzählt Annegret Stöcker. "Wir hatten Blumen und kleine Geschenke für die Kinder dabei. Als sie uns dann sahen, hatten wir alle Tränen in den Augen."
Nur wenige Hundert Meter entfernt lebt die syrische Familie in Kurl, einem Ortsteil von Dortmund mit dörflichem Charakter. "Hier sind die Kinder sicher", sagt Basel Al Shoueb. Bei Familie Stöcker fühlen sich die Al Shouebs wohl. "Stöckers sind unsere Familie", sagen sie dankbar. "Wenn wir Fragen haben, haben sie uns immer geholfen."
Dass das Ehepaar einmal die gut gehende Apotheke des Mannes und die florierende Rechtsanwaltskanzlei der Ehefrau in Syrien aufgeben würde, um sich auf eine beschwerliche Flucht in Richtung Europa auf den Weg zu machen, gehörte nicht zur Lebensplanung der beiden. Auch nachdem 2011 der Bürgerkrieg in Syrien begonnen hatte, schwor sich das Ehepaar: "Wir verlassen Syrien nicht, wir bleiben." Vor allem als immer mehr medizinisches Personal das Land verließ, stellte sich Basel Al Shoueb der Aufgabe, die Menschen mit Medikamenten und ärztlicher Hilfe zu versorgen. "Ich habe im Krankenhaus ausgeholfen, weil es zu wenig Ärzte gab", berichtet er. Doch die Situation spitzte sich ab 2014 zu. Die Heimat der Al Shouebs, die Kleinstadt Ma’arat Misrin, rund zehn Kilometer nördlich von Idlib, nahe der türkischen Grenze, wurde täglich bombardiert. "Mal waren es zwei, mal 35 Bomben täglich - einfach so." Viele Menschen starben, auch viele Freunde und Bekannte der Familie. Im Januar 2015 wurde seine Apotheke getroffen, drei Monate später das eigene Wohnhaus. "Unser damals jüngster Sohn war fünf Jahre alt. Er schrie vor Angst. ‚Vater tot, Vater tot‘, schrie er immerzu. Da entschieden wir uns, Syrien zu verlassen. Es gab dort keine Zukunft mehr für die Kinder."
Sind Freundinnen geworden: Annegret Stöcker und Ramia Al ShouebFoto: Markus Jonas
Im Internet suchte Basel nach einem geeigneten Ziel. Gern wäre er nach Schweden gegangen, dort hätte er aber als Apotheker nicht arbeiten können. Also ging es Richtung Deutschland. Gemeinsam mit vielen anderen Flüchtlingen machte sich die damals noch fünfköpfige Familie im Sommer 2015 auf den rund vier Wochen dauernden Weg nach Norden. Im Schlauchboot ging es für 1300 Euro pro Person über die Ägäis, in der so viele ertranken. Dann über Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Hamburg, wo die Familie zum ersten Mal seit Syrien wieder duschen und sich neu einkleiden konnte. Über das deutsche Verteilsystem landete sie schließlich in Dortmund.
Als in der WhatsApp-Gruppe "Café Angekommen", die Hilfe für Flüchtlinge in den Dortmunder Ortsteilen Lanstrop, Husen und Kurl organisiert, Ende August 2016 eine neue Nachricht aufploppte, bahnte sich der Kontakt zwischen den Stöckers und den Al Shouebs an. Eine syrische Familie, die aus Lanstrop nach Kurl ziehe, brauche Hilfe, hieß es. "Durch einen dummen Zufall war ich der Gruppe hinzugefügt worden. Wahrscheinlich, weil ich bei der Caritas-Konferenz tätig bin", lacht Annegret Stöcker. "Ich habe mit meinem Mann darüber gesprochen, und er hat noch abends die Familie kontaktiert und seine Hilfe angeboten. Ich sagte noch zu ihm: ‚Du kannst doch jetzt um 19.30 Uhr keinen Besuch mehr machen.‘ Doch die Familie war total nett, bot Abendessen an, und es entstand ein gutes Gespräch." Es war der Beginn einer langen freundschaftlichen Beziehung.
Die neue Wohnung der Al Shouebs in Kurl war komplett leer. "Wir haben dann erst einmal Möbel und Kleidung organisiert", berichtet Annegret Stöcker. Das Ehepaar unterstützt die Familie zusammen mit anderen Ehrenamtlichen aus der Caritas-Konferenz und der Kirchengemeinde. Es begleitet bei Behördengängen und ist oft erster Ansprechpartner bei Fragen aller Art. "Wir haben immer versucht, zu helfen, so gut es ging, und sie haben eigentlich auch immer das gemacht, was wir ihnen geraten haben", sagt Annegret Stöcker. "Aber manchmal wusste auch ich nicht weiter. Eines Tages kam Basel und fragte mich nach grammatikalischen Erklärungen, die ich selbst nicht mehr wusste." Kleine Darlehen der Caritas-Konferenz, etwa zur Anschaffung einer Kühl-Gefrier-Kombination, zahlt die Familie pünktlich und schnellstmöglich zurück. "Jeden Ersten im Monat standen sie zuverlässig vor der Tür, um ihre Rate abzuzahlen."
Stolz präsentiert die Familie Al Shoueb die Urkunde, die sie im vergangenen Jahr zu deutschen Staatsbürgern gemacht hat.Foto: Markus Jonas
Basel und Ramia Al Shoueb tun alles, um in dem neuen Land heimisch zu werden und sich und ihrer Familie ein neues Leben aufzubauen. "Das war ihnen besonders wichtig", sagt Annegret Stöcker, die auch heute noch beeindruckt ist von der Disziplin und Zielstrebigkeit der Familie.
Doch das Leben in Deutschland ist nicht einfach, die bürokratischen Hürden sind hoch. "Ich musste meine Approbation als Apotheker neu erwerben", berichtet Basel. "Dafür musste ich zunächst Deutsch als Fremdsprache mit dem Zertifikat C1 bestehen und dann nach 20 Jahren als Apotheker den ganzen Prüfungsstoff für Pharmazie wiederholen. Ein Jahr lang habe ich täglich von acht bis zwölf Uhr nur gelernt." Auch den Führerschein musste er neu machen. Den Ratschlag, die Prüfung lieber außerhalb von Dortmund zu machen, lehnte er stolz ab. Schließlich war er schon ohne Probleme durch Städte wie Aleppo gefahren. "Und dann bin ich an einem Stoppschild gescheitert", berichtet er schmunzelnd. "Ich habe nur zwei statt drei Sekunden angehalten." Bei der Wiederholung der Prüfung klappte es dann.
Für Ramia Al Shoueb ist es dagegen fast unmöglich, sich eine vergleichbare berufliche Position wie in Syrien zu erarbeiten. Denn ihr syrisches Jurastudium ist in Deutschland wertlos. Sie konzentriert sich deshalb ganz klassisch auf die Familie und hält ihrem Mann den Rücken frei. Nach seiner erfolgreichen erneuten Approbation in Deutschland arbeitet er jetzt als fest angestellter Apotheker - und das fast im Akkord. Von neun bis neun dauern seine Schichten. Und an freien Tagen arbeitet er freiwillig zusätzlich und übernimmt als Aushilfe Arbeiten als Apotheker. "Die Familie braucht jetzt keine Unterstützung mehr", sagt Annegret Stöcker. "Die ist auf einem guten Weg."
Die Bürokratie sei das Schlimmste gewesen, sagt Basel Al Shoueb rückblickend. Und dass er seine Eltern, die in Syrien geblieben seien, seit acht Jahren nicht mehr gesehen habe. Pläne, sie in diesem Jahr bei einem Besuch in der Türkei zu treffen, scheiterten zunächst an dem schweren Erdbeben vom Februar, als auch die Region um Idlib schwer getroffen wurde. Doch den Eltern gehe es vergleichsweise gut, sagt er. Auch die kriegerischen Handlungen seien deutlich zurückgegangen. "Jetzt fällt nur noch etwa einmal im Monat eine Bombe auf unsere Stadt", sagt er - und hofft, irgendwann auch die Eltern nach Deutschland holen zu können. Denn zurück möchte er auf keinen Fall. "Mein jüngster Sohn sagte neulich: Papa, du bist Syrer, aber ich bin Deutscher. Doch für uns alle gilt: Deutschland ist jetzt unser Land."