"Beziehungsarbeit braucht Zeit"
Die deutsche Gesellschaft basiert auf fundamentalen Werten, die sich gegenseitig stabilisieren und stützen. Integration bedeutet auch, sich damit auseinanderzusetzen.Foto: SkF Bergisch Land
Caritas in NRW Frau van den Borre, Frau Akinci, wie sieht das Konzept Ihrer Kommunikationstreffs aus?
Dorothee van den Borre: Kernpunkt unserer Arbeit ist Beziehungsarbeit, es geht darum, Frauen, schwerpunktmäßig mit Flucht- und Migrationshintergrund, zu stärken. Dabei arbeiten wir mit einen Dreischritt: Frauen stärken, sie in Berufstätigkeit vermitteln und sie anschließend weiter begleiten. Über unsere Lotsenberatung erreichen wir auch die Familien. Wir haben Möglichkeiten, die Kinder zu unterstützen, über Hausaufgabenhilfe, Ferienangebote usw.
Zehra Akinci: Momentan haben wir fünf Gruppen, in denen sich wöchentlich jeweils acht bis zehn Frauen treffen. Als ich 2019 angefangen habe, gab es schon einzelne Beratungen und Begleitungen und wir wollten ein anderes Konzept umsetzen und einen Kommunikationstreff organisieren. Wir sind mit nur einer großen Gruppe gestartet und haben schnell gesehen, da sind Frauen dabei, die mehr Ressourcen mitbringen, ihnen haben wir das Angebot gemacht, in einem so genannten Kompetenzteam mitzuarbeiten, dort agieren Teilnehmerinnen aus den Gruppen gemeinsam mit Ehrenamtlichen von außen. Mit diesem Team konzipieren wir nun die Themenwochen, die wir mit den Frauen umsetzen und Frauen aus dieser Runde leiten selbst Gruppen an, so konnten wir mehrere Gruppen eröffnen. Und wir sehen so viel deutlicher, wo die Bedarfe sind, die Interessen, die Probleme, aber auch die Ressourcen der Frauen, daran orientieren wir uns und bauen die Angebote auf, so haben wir immer auch die Perspektive der Zielgruppe mit dabei.
Caritas in NRW: Wie kann man sich eine solche Gruppenstunde vorstellen?
Zehra Akinci: Wir haben Elemente der Gruppenarbeit genommen, sie sprachlich vereinfacht und anders aufbereitet. Als wir beispielsweise darüber gesprochen haben, mit welchen Lasten die Frauen nach Deutschland gekommen sind, haben wir einen Luftballon aufgeblasen und wie einen Heißluftballon mit Säcken beschwert, diese waren gefüllt mit den Lasten der Frauen, die wir zuvor aufgeschrieben hatten. Dann haben wir überlegt, wo können Beratungsangebote helfen, was können wir rausnehmen, und der Ballon wurde immer leichter. Am Ende hat man gesehen: einiges bleibt noch, aber trotzdem schwebt der Ballon. Das war eine sehr emotionale Runde. Den Frauen tut es ungemein gut, sich in einer vertrauten Umgebung mit vertrauten Personen auszutauschen. Sachen zu tun, die der Seele guttun. Wir haben viele verschiedene Herangehensweisen, Rollenspiele, Bodenanker, Stationsanker. Und wir haben alles gesammelt. In den letzten Jahren sind so zwei große Kisten voller Umschläge entstanden, die wir auch digitalisiert haben. Neue Gruppenleiterinnen können auf die Materialien zurückgreifen.
Dorothee van den Borre: Neben diesen Gruppenangeboten bemühen wir uns, Begegnungsräume auf anderen Ebenen zu schaffen, beispielsweise mit einem Beauty-Day oder mit Sportangeboten, die wir zusammen mit dem Wuppervital-Netzwerk Frauen machen, wo beispielsweise Fahrradfahren gelernt werden kann, außerdem haben wir ein Schwimmbad gefunden, in dem muslimische Frauen ohne Blickkontakt von außen schwimmen können, eine Pflanzbar nutzen wir als grünes Klassenzimmer. Letztendlich denken wir, dass Gemeinschaft leben die beste Möglichkeit ist, um einander auf Augenhöhe zu begegnen, miteinander unterwegs zu sein und Stärken zu fördern.
Caritas in NRW: Was haben solche sportlichen Aktivitäten mit Integration in den Arbeitsmarkt zu tun?
Dorothee van den Borre: Für uns ist der ganzheitliche Ansatz wichtig. Frauen, die bei uns Fahrradfahren lernen, konnten das in ihrer Heimat nicht, weil es verboten war. Für sie ist es eine Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Im ersten Fahrradkurs hatten wir eine Frau, die gesagt hat: "Ich habe Fahrradfahren gelernt, die Hände am Lenker, den Wind in den Haaren, das ist für mich Freiheit." Diese Frauen sind dann nochmal viel stärker, um in den Gruppen bei Zehra Akinci abgeholt und weiter gestärkt zu werden.
Zehra Akinci: Eine Berufsintegration ist eine Etappe am Ende eines Weges, da stecken viel Erfahrung, Mut und auch kleine Erfolgserlebnisse dahinter. Meiner Meinung nach ist die Arbeitsintegration einer der letzten Schritte. Es dauert, bis eine Frau ganz reflektiert entscheidet, ich bin jetzt so weit, mit meiner sprachlichen Entwicklung, mit dem Ankommen. Diese intrinsische Motivation ist unser Ziel, sie wirkt nachhaltiger, als wenn die Anregung von außen kommt, vielleicht sogar aufgezwungen wird. Davor sind Schritte notwendig, die die Frauen in ihrem Selbstbewusstsein, in ihrer Selbstwirkung stärken und sowas wie Schwimmen oder Fahrradfahren, das hilft dabei. Die Frau, von der eben die Rede war, hat beispielsweise auch erklärt, so wie sie die Kraft hatte, das Lenkrad zu lenken, fühle sie auch, dass sie die Kraft habe, ihr Leben zu lenken. Das ist genau dieses eben bereits angesprochene ganzheitliche Konzept. Wir wollen die Frauen stark machen, sich zu entscheiden und zu sagen "ja, ich gehe jetzt bewusst den Weg und finde eine Arbeit", oder eben auch, "nein, ich gehe bewusst nicht den Weg und bin zufrieden zuhause", dass es ihre eigene, bewusste, reflektierte Entscheidung ist.
Caritas in NRW: Ihre Gruppen laufen über einen sehr langen Zeitraum?
Dorothee van den Borre: Ja, genau. Es kommen zwar immer wieder neue Frauen dazu, aber - und das unterscheidet uns von anderen Angeboten, die eher punktuell sind - wir sagen, dass Beziehungsarbeit nötig ist, wenn wir die Frauen dabei unterstützen wollen, ihre neue Heimat und berufliche Möglichkeiten zu entdecken. Wir haben die Kommunikationsgruppen von Zehra Akinci, aber, wenn Frauen Probleme haben, verweisen wir sie an die Lotsenberatung. Denn sehen Sie, wenn beispielsweise das Geld nicht stimmt, sind die Frauen gar nicht in der Lage, sich auf andere Themen einzulassen. Wir schauen auch immer, wie kriegen wir die Kinder mit ins Boot? Und die Männer. Bereits 2019, als wir angefangen haben, gab es die Bitte der Frauen, die Männer mit einzubeziehen, dann aber kam Corona und wir haben es bisher nicht gemacht. Das liegt zum Teil auch daran, dass wir als Hauptamtliche sehr Frauen lastig sind und diese Aufgabe von einem Mann gemacht werden müsste.
Zehra Akinci: Es ist sehr viel Dynamik drin bei uns. Wenn Frauen vormittags nicht mehr zur Gruppe kommen können, wegen eines Sprachkurses oder einer Arbeitsintegration, dann bleiben wir in Kontakt, etwa über Angebote wie den Beauty-Day oder Fastenbrechen. Seit eineinhalb Jahren haben wir auch eine Nachmittagsgruppe, die zustande kam, weil Frauen, die Arbeit gefunden hatten, trotzdem weiterhin kommen wollten. Dorothee van den Borre bietet außerdem eine Mutter-Kind-Gruppe an und wir haben eine ukrainische Gruppe, geleitet von einer starken ukrainischen Frau, die in ihrer Heimat Deutschlehrerin war und die wir für unser Kompetenzteam gewinnen konnten. Insgesamt erreichen wir so über 60 Frauen, bei den offenen Angeboten sind es noch mehr.
Und zu den Männern: Es wäre toll, wenn es uns gelingen könnte, ein Angebot für sie auf die Beine zu stellen, denn viele sind sehr interessiert. Auf der anderen Seite passiert durch unsere Arbeit auch etwas mit den Frauen, sie nehmen etwas mit in die Familien hinein. Das macht manche Männer unsicher, wenn auf einmal eine starke Frau dasteht, die anfangs noch total gebunden an ihren Mann war. Deshalb haben wir leider auch schon erlebt, dass eine Frau nicht mehr kommen durfte, weil der Mann es verboten hatte.
Caritas in NRW: Von wie vielen hauptamtlich Mitarbeitenden wird Ihr Projekt getragen?
Dorothee van den Borre: Zwei Sozialarbeiterinnen sind mit je 30 Stunden beschäftigt, eine davon nur noch bis zum Ende des Jahres. Während Zehras Hauptaufgabe die Gruppenarbeit ist, bin ich für die Familienarbeit zuständig. Doch zur Gemeinwesenarbeit gehören auch die anderen Kolleginnen in unserem Team, nämlich die Fachbereichsleiterin Gemeinwesenarbeit und ihre Stellvertreterin. Jede von uns erfüllt einen Part, aber nur, wenn wir zusammen gesehen werden, entsteht das Bild, so vielseitig und kreativ, wie es im Moment ist.
Zehra Akinci: Dorothee van den Borre ist außerdem für die ganze Kooperations- und Netzwerkarbeit zuständig, die auch ungemein wichtig für unsere Arbeit ist.
Caritas in NRW: Mit welchen Kooperationspartnern arbeiten Sie zusammen?
Dorothee van den Borre: Wir arbeiten beispielsweise sehr intensiv mit der Stadt zusammen. Wir haben ein Vorschulprojekt gestartet, in dem Kinder mit Fluchthintergrund, die keinen Kindergartenplatz bekommen haben, von pädagogischen Kräften mitbetreut werden, die selbst einen Fluchthintergrund haben und die das dann als Sprungbrett nutzen, um erste Erfahrungen in der Berufstätigkeit zu sammeln. Ein zweiter starker Kooperationspartner ist die Initiative "Leben in Vielfalt", für die wir Inklusionsbetreuerinnen und -betreuer suchen. Wobei uns wichtig ist, da es sich um Berufe handelt, von denen man nicht leben kann, und wir oft pädagogisch wirklich super ausgebildete Menschen haben, dass wir abgesprochen haben, dass es ein Sprungbrett ist, um dann möglichst weiter beruflich unterwegs zu sein. Ein weiterer Kooperationspartner ist beispielsweise Wupper-Vital für die Sportangebote.
Auch bei Frauen mit Migrationshintergrund sind die individuellen Lebenssituationen unterschiedlich. Das gilt es zu reflektieren, auszusprechen und zu akzeptieren.Foto: SkF Bergisch Land
Zehra Akinci: Bei der Arbeitsmarktintegration unterstützen uns die Maßnahme-Träger, um zu schauen, welche Weiterbildungen oder Umschulungsmaßnahmen zu den Frauen passen. Als SKF ist es uns wichtig, dass unsere Rolle nicht endet, wenn die Frauen eine Anstellung haben. Gerade in dieser Anfangszeit brauchen sie weiterhin Begleitung. Ich habe oft erlebt, dass Frauen dann zu uns kommen mit Zweifeln und sagen, ich glaube, ich schaffe das nicht. Ihnen dann nochmal zur Seite zu stehen und zu sagen, du bist ja noch am Anfang, kommuniziere deine Unsicherheit klar bei deinem Arbeitgeber, du kannst das schrittweise angehen, das sehen wir ebenfalls als unsere Aufgabe. Und während wir auf der einen Seite die Frau stärken, stehen wir auf der anderen Seite mit dem Maßnahme-Träger in Kontakt und so sind die Frauen auf beiden Seiten in dieser Anfangszeit geschützt und gesichert und können vorsichtig in kleinen Schritten vorangehen.
Dorothee van den Borre: Um das noch einmal an einem Beispiel zu verdeutlichen, wir konnten drei Menschen als Krankenpflegeassistenz vermitteln, und die waren nach einigen Wochen drauf und dran hinzuschmeißen, weil es so anders war, als sie es sich vorgestellt hatten. Aber - und da kommen wir zu einem ganz wichtigen Punkt unserer Arbeit - unter unseren Ehrenamtlichen haben wir eine Krankenschwester in Rente, die sich dann mit den Leuten hingesetzt und gesagt hat, auch ich kenne das, mir ging es am Anfang ganz genauso, was brauchst du, um diese Ausbildung durchzuhalten? Inzwischen haben zwei von ihnen nicht nur die Krankenpflegeassistenz, sondern machen auch die große Krankenpflege. Die Krankenschwester ist weiterhin für sie als Ansprechpartnerin unterwegs, die können sie auch mal fragen, wenn sie den Stoff nicht verstehen oder ähnliches. Das ist genau das, was uns wichtig ist, das Ehrenamtliche auf allen Ebenen mit eingebunden sind. Von diesen Ehrenamtlichen haben viele selbst einen Flucht- und Migrationshintergrund und sind an manchen Punkten schon weiter, so dass sie andere auch ermutigen können.
Caritas in NRW: Wie sieht die Zukunft des Projekts aus?
Dorothee van den Borre: Wir sind gestartet mit Förderung aus einem BAMF-Projekt (BAMF = Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Red.) und dem SinA-Projekt. Die BAMF-Förderung ist bereits ausgelaufen, SinA soll neu aufgelegt werden, und wir wollen uns wieder darum bemühen. Ein wunder Punkt ist jedoch, dass wir nicht wissen, ob Zehra Akinci bei uns bleiben kann. Leider kann der SkF ihr derzeit keine unbefristete Stelle anbieten. Die Arbeit in unserem Projekt beruht aber ganz stark auf ihrer Kreativität. Das zeigt ein wesentliches Problem im System: Wollen wir Menschen stark machen für den Arbeitsprozess, ist das nichts, was in einer kurzen Projektphase laufen kann. Wir sind der Meinung, dass Beziehungsarbeit der Schlüssel zum Erfolg ist. Doch Beziehungsarbeit braucht Zeit, Projekte werden aber immer auf bestimmte Laufzeiten festgelegt, was sich einfach widerspricht. Wenn ein Projekt ausläuft, müssen wir uns mit etwas neuem bewerben, auch wenn das, was wir gerade machen, erfolgversprechend ist. Da will ich dem SkF und den anderen sozialen Einrichtungen gar keinen Vorwurf machen, weil auch die Verbände schauen müssen, wie sie ihre Arbeit refinanzieren können. Aber an dem Punkt ist ein Fehler im System.
Zehra Akinci: Ja, das ist ein Systemproblem. Soziale Arbeit braucht finanzielle Sicherheit, um zielgruppenorientiert, bedarfsorientiert, sozialraumorientiert arbeiten zu können. Das sind gesellschaftliche Prozesse, die kann man nicht einfach nur für drei Jahre geltend machen. Da entstehen Dynamiken, die die Gesellschaft bewegen können und die auch präventiv gewisse Probleme hemmen können. Ich kann aus eigener Erfahrung von den Folgen der nicht vorhandenen Integrationspolitik gegenüber den damaligen Gastarbeitern berichten. Dann ist die Distanz am Ende zu groß, man hat nur noch nebeneinander herlaufende Gesellschaften. Da dann nochmal einzugreifen, nochmal zu versuchen, in den Austausch zu gehen, das ist viel schwieriger, wenn die Menschen sich bereits zurückgezogen haben. Deshalb ist es so wichtig, gerade in der Anfangszeit anzusetzen, wenn die Menschen in Deutschland sind, sie noch Hoffnung, noch Energie haben, noch das Land kennenlernen möchten, ihre eigenen Stärken und Ressourcen mit einbringen möchten. Danach, wenn schon Frust da ist, wenn es mit der Anerkennung oder der Arbeit nicht geklappt hat und wenn sie sich in ihrer Komfortzone befinden, danach die Menschen, oder in unserem Fall die Frauen, noch zu erreichen, wird viel schwieriger und viel aufwändiger sein, personell wie finanziell.
Caritas in NRW: Frau van den Borre, Frau Akinci, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Barbara Allebrodt
SinA
"SinA - Stark in Arbeit und Ausbildung" heißt ein dreijähriges Projekt, das die Aktion Neue Nachbarn im Erzbistum Köln mit rund 150000 Euro im Jahr gefördert hat.