Hilfe für die barmherzigen Jordanier
Wer Noelle Tannous und ihre Familie besucht, sollte sich auskennen: Der Weg führt vorbei an Bauschutt und alten Möbeln durch ein altertümlich wirkendes Sandsteintor in einen schummrigen Hinterhof, dann links die steile und bröckelnde Betontreppe hinauf. Noelle Tannous, 40 Jahre, erschöpfter Blick, schwache Stimme, empfängt in einem hellen, aber kahlen Raum. Teppich, durchgesessene Sofas, Kreuz an der Wand - die kleine Wohnung in der jordanischen Stadt Al Salt ist die vorläufig letzte Station ihrer Flucht aus Syrien.
Kurz nach Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 hat die fünfköpfige christliche Familie ihr Dorf nahe der syrischen Stadt Homs verlassen. "Wir hatten sechs Koffer dabei, mehr durften wir im Bus nicht mitnehmen", erzählt Noelle Tannous. Die Fahrt bis zur Grenze war nervenaufreibend. "Wir hatten ständig Angst, festgenommen zu werden."
Nach wenigen Tagen in einem jordanischen Flüchtlingslager wurde der Familie mit ihren drei Töchtern schließlich die Wohnung in Al Salt zugewiesen. Hier hat sie das, was in Syrien gefehlt hat: Schutz vor Bomben, willkürlichen Verhaftungen und Drangsalierungen aufgrund ihrer Religion.
Wie Noelle Tannous und ihre Familie haben 1,2 Millionen Syrer in Jordanien Schutz gefunden, offiziell registriert ist gerade einmal die Hälfte von ihnen. Dazu kommen Kriegsflüchtlinge aus dem Irak, aus Libyen und dem Jemen. Insgesamt leben mehr als anderthalb Millionen Flüchtlinge in dem Wüstenstaat, der nur rund sechs Millionen Einwohner hat. Für Deutschland würde das im Verhältnis die Aufnahme von 20 Millionen Flüchtlingen bedeuten. Mehr als 85 Prozent der Flüchtlinge haben es heraus aus den gigantischen Zeltstädten und hinein in die großen Städte geschafft, vor allem nach Amman, wo sie wie Familie Tannous in Wohnungen leben.
Sorgen um die Stabilität des Landes
Das Königreich gilt als politisch stabiles Pufferland im Nahen Osten. "Wir begegnen den Flüchtlingen mit großer Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft", sagt der Direktor der Caritas Jordanien, Wael Suleiman, in seinem Büro in der Hauptstadt Amman - warnt aber auch: "Jordanien steht vor der größten Herausforderung in seiner Geschichte." Ohne Unterstützung etwa aus Europa könne das ressourcenarme Land die Krise dauerhaft nicht stemmen. Die einheimische Bevölkerung ächze unter steigenden Mieten und hohen Wasserpreisen.
Tatsächlich sind die Voraussetzungen für die Aufnahme so vieler Menschen auf den ersten Blick alles andere als gut: Das Land ist eines der wasserärmsten der Welt, 14 Prozent der Jordanier leben unterhalb der Armutsgrenze. Jordanien hat weder eine nennenswerte Industrie, noch ist es reich an Bodenschätzen. Der Tourismus, lange eine der Haupteinnahmequellen, steht seit den Kriegen in Syrien und im Irak am Abgrund.
Dass die Jordanier trotzdem nicht gegen die Flüchtlinge protestierten, liege an ihrer offenen Mentalität. "Jordanien war immer schon ein Einwanderungsland, anfangs vor allem für Palästinenser", so Suleiman, der für die 370 haupt- und 2000 ehrenamtlichen Caritas-Mitarbeiter im Land verantwortlich ist. Ein zweiter Grund sei, dass auch die Jordanier von der internationalen Hilfe für Flüchtlinge profitierten: "30 Prozent aller Hilfsgelder kommen der jordanischen Bevölkerung zugute."
Die Caritas, eine der größten Wohlfahrtsorganisationen in Jordanien, unterstützt Familie Tannous mit Gutscheinen für Lebensmittel und Hygieneartikel. Das Geld, das der Vater nebenher als Anstreicher verdient, reicht gerade einmal für die Miete: 125 jordanische Dinar im Monat, umgerechnet 160 Euro. Offiziell arbeiten darf der Vater - wie die meisten syrischen Flüchtlinge - nicht, so will die jordanische Regierung die Arbeitsplätze der Einheimischen schützen. "Wenn er einen Job hat, verdient er 15 Dinar am Tag, oft hat er aber keinen."
Für eine Weiterreise nach Europa fehlt der Familie das Geld. Ihre Töchter (18, 14, 13) fühlten sich wohl in Jordanien, sagt Noelle Tannous. "Syrien vermissen sie nicht, dafür sind sie schon zu lange weg." Die Älteste, Shahed, wird die Schule in diesem Jahr beenden und möchte studieren. "Am liebsten in Kanada", sagt die Tochter.
"Wenn wir nicht aufpassen, dann verlieren wir die Menschen, die wichtig sind für Jordanien, aber auch für den Wiederaufbau in Syrien. Denn wer es sich leisten kann, der zieht weiter nach Europa", sagt Jamil Nimri (64). Der ehemalige Parlamentspolitiker und Kolumnist der größten Tageszeitung im Land meint, Jordanien biete im Prinzip gute Voraussetzungen, um Flüchtlinge aus den Nachbarländern aufzunehmen - "dieselbe Sprache, dieselbe Kultur, dazu viel Unterstützung der Bevölkerung" -, nur benötige es dafür Hilfe aus dem Ausland. "Wir haben nicht einmal die Hälfte dessen, was wir brauchen", sagt er und meint finanzielle und militärische Hilfe, technische Unterstützung, etwa bei der Gewinnung von Energie, beim Ausbau der Straßen und beim Bau von Wohnungen.
Sorgen macht er sich vor allem um die Stabilität des Landes. Je stärker der IS im Irak und in Syrien unter Druck gerate, desto näher komme er der jordanischen Grenze - und treibe Menschen vor sich her. Bislang gelinge es dem jordanischen Militär noch, die fast 400 Kilometer lange Grenze zu Syrien zu schützen. "Aber der Druck wird steigen", so Nimri. Er rechnet deshalb damit, dass auch in den kommenden Monaten und Jahren Tausende Menschen aus Syrien und dem Irak in Jordanien Schutz suchen werden.
Noelle Tannous‘ Eltern leben nach wie vor in Syrien. An eine Flucht sei derzeit nicht zu denken, da die Grenzen geschlossen seien. Noelle Tannous hofft, dass sie sich eines Tages alle wiedersehen werden. "In Syrien", da ist sich die Mutter sicher, "aber wohl nicht. Für uns Christen wird es dort keine Perspektive mehr geben."
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