Teil der Lösung, nicht des Problems
In Herford ist der Martinsgang solch ein problematischer Ort, eine Straße mitten in der City, direkt am Altstadt-Parkhaus. Je nach Witterung treffen sich dort bis zu 40 Personen "aus dem Milieu" - mit allen Begleiterscheinungen: leere Bierflaschen, Hauswände, die als Urinale herhalten müssen, dazu ein Lärmpegel, der mit dem des Alkoholkonsums steigt.
Vertreiben ließen sich die Menschen bislang nicht, auch eine Dauerberieselung durch klassische Musik war ein Flop. Mögen sich Passanten vielleicht noch stirnrunzelnd abwenden, ist das für Anwohner nicht möglich. Einige von ihnen denken mit Schrecken an manche Sommerabende auf ihrem Balkon. Ein benachbartes Hotel fürchtet um seine Kunden.
Verständlich, dass der Widerstand groß ist und entsprechend artikuliert wird. Eine "sozial gerechte Rückführung in die arbeitende Gemeinschaft", forderte beispielsweise ein Leserbrief-Schreiber. "Wenn ich hier Anwohner wäre, würde ich genauso reagieren", räumte ein Treff-Teilnehmer in einem WDR-Beitrag ein. "Aber wenn man immer nur angefeindet wird, muss man sich nicht wundern, dass da auch ein bisschen was zurückkommt." Kein Zweifel, eine verfahrene Situation, die der Caritasverband für die Stadt und den Kreis Herford vorgefunden hat und im Auftrag der Stadt lösen möchte. Wichtigster Ansatz ist für Vorstand Richard Knoke neben dem wertschätzenden Umgang vor allem die Einbindung der Betroffenen in die Suche nach einer Lösung. "Wir wollen den Menschen vermitteln, dass sie nicht nur Teil des Problems sind."
Anlass zur Hoffnung gibt die Einrichtung eines Runden Tisches durch die Stadt. Zwei Betroffene aus der Szene wurden von der Stadt dazu offiziell eingeladen - und erfuhren anschließend durch andere Teilnehmer des Gremiums besonders positive Rückmeldungen. "Das hat diesen Menschen, auf die sonst immer nur mit dem Finger gezeigt wird, richtig gutgetan", sagt Caritas-Sozialarbeiter Ralf Tilke. "Mehr denn je" ist Richard Knoke davon überzeugt, dass der Runde Tisch auch konkret eine Lösung bringen wird, die alle Beteiligten zufriedenstellt.
Wer sind die Menschen vom Martinsgang? Blickt man genauer hin, fallen einem zunächst höfliche Umgangsformen auf: Man begrüßt seine Kumpels mit Handschlag. "Fast alle haben eine Ausbildung, manche sogar zwei", so Ralf Tilke. Doch nur wenige hätten auch einen Job, in der Regel in Branchen, in denen sie als Erste wieder auf der Straße stehen, wenn es dem Betrieb schlecht geht. Jeder hier habe auch eine eigene Wohnung. Doch die Sozialwohnungen eigneten sich kaum für Treffen in größeren Gruppen. "Viele fürchten Scherereien mit dem Vermieter, wenn es zu laut wird." Und so wird der Martinsgang zum Wohnzimmer, weil dieser Ort jederzeit die Chance bietet, so etwas wie sozialen Halt in einer Gruppe zu erleben. "Irgendjemanden treffe ich dort immer", lautet die Devise. Dies erklärt, warum so zäh an diesem informellen Treffpunkt festgehalten wird. "Dieses soziale Netz ist das Letzte, was viele haben", betont Tilke. Es ist eine bunte Truppe, bestehend aus vielen Untergruppen: vom jungen Straßenmusiker, der mit schrägen Liedtexten den "Bürgerschreck" gibt, bis hin zu Männern im Rentenalter, die fröhlich dem Paderborner Export-Bier zusprechen: "Zu Hause fällt einem doch nur die Decke auf den Kopf!"
Szenenwechsel: das Mieterbüro an der Herforder Stuckenbergstraße, das der Caritasverband vor wenigen Monaten übernommen hat. In diesem Haus der städtischen Wohnungsgesellschaft WWS wohnen 24 alleinstehende Männer, alle leben von Hartz IV, die meisten sind suchtkrank. "Viele wissen, dass sie woanders keinen Mietvertrag mehr erhalten würden", so Ralf Tilke. "Das ist hier praktisch die letzte Chance." Das frisch renovierte Haus liegt im Grünen, bietet helle und freundliche Wohnungen. Im Mieterbüro im Erdgeschoss riecht es noch nach Farbe. Hier bietet Ralf Tilke vor allem Begegnungsmöglichkeiten an. Einmal pro Woche gibt es ein gemeinsames Frühstück; eine Fahrradwerkstatt ist bereits im Keller eingerichtet. Als Nächstes folgt eine Werkstatt, um beispielsweise Möbel zu reparieren.
Politische Einstellungen würden nur selten artikuliert, vieles drehe sich eher darum, das eigene Leben in den Griff zu bekommen. Ursula Schürkamp, Sozialarbeiterin bei der WWS: "Da wird schon mal ein Spruch gegen Ausländer rausgehauen, man bezieht den aber paradoxerweise nicht auf den Nachbarn, der gerade neben einem am Tisch sitzt und aus der Türkei stammt." Bevorzugt werde eine starke, ordnende Hand, hat Ralf Tilke festgestellt. "Die AfD ist den Leuten aber zu extrem." Beim Frühstück wurde neulich ein Politiker gelobt, der möglicherweise für die eigene "bessere" Vergangenheit steht: Helmut Kohl. "Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet", sagt Ralf Tilke.