Das Dorf ins Heim holen
Ein beschauliches Dorf mit 5000 Einwohnern bei Rees am Niederrhein - das ist Haldern. "St. Marien Haldern - gepflegt leben" war früher ein typisches Altenpflegeheim. Heute ist es eine Wohnanlage, die stationäre Einrichtungspflege und Leben im Quartier auf wunderbare Weise kombiniert. Vor nun 15 Jahren übernahm der Sozialpädagoge Johannes Fockenberg die Leitung der Einrichtung - ein Auswärtiger mit "komischen Ideen". Seitdem hat sich vieles verändert. Das Haus musste damals baulich erneuert werden - und das nutzte man, um auch das Konzept komplett zu renovieren und in die Zukunft zu schauen.
St. Marien hatte eine lange Tradition, war gut im Ort akzeptiert, es gab klassische ehrenamtliche Gruppen, die sich engagierten: den Besuchsdienst, die Hospiz-Gruppe, das Cafeteria-Team. Doch wenn sich Gesellschaft verändert, wenn Kirchengemeinden - auch am konservativen katholischen Niederrhein - sich umstrukturieren, dann muss das auch Konsequenzen für das Leben alter Menschen im Heim haben.
Wenn die Bewohner zu alt, zu pflegebedürftig, zu krank sind, um noch am Dorfleben teilzunehmen, dann muss man eben das Dorf ins Heim holen - das ist der Kerngedanke. Und die Umsetzung? In dem Gebäude von St. Marien wurden Räume an einen Initiativkindergarten vermietet. Das Pfarrzentrum nebst Bücherei und Pfarrbüro wird mit Unterstützung des Bistums Münster ebenfalls neue Räume auf dem Gelände beziehen. Das Pfarrfest wird auf dem weiträumigen Gelände ausgerichtet. Die wöchentlichen Chorproben werden mittlerweile von interessierten Dorfbewohnern mitgestaltet. Die Wege für die Bewohner sind kurz, das Leben ist bunt - wie in einem Dorf eben normal. All das schafft den Bewohnern des Hauses Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe und damit Lebensperspektive und -qualität. "Die Qualität unseres Hauses liegt in der engen Verbundenheit mit der gesamten Dorfgemeinschaft", sagt Johannes Fockenberg.
Und es gibt noch mehr Synergieeffekte: Ein neuer Dorf-arzt will seine Praxisräume ebenfalls im Heim integrieren - so ist er zentral erreichbar, es gibt Parkplätze, er hat es nicht weit zu seinen Patienten in den Wohngruppen, und das Praxispersonal kann eigene Kinder sogar in der Kita im Nachbarhaus betreuen lassen. Bei dem sich abzeichnenden ländlichen Ärztemangel ist solch ein Standort ein nicht zu unterschätzender Wettbewerbsvorteil. St. Marien bietet selbst Essen auf Rädern an, vermietet Seniorenwohnungen in der Umgebung, betreibt eine Cafeteria und vernetzt sich mit anderen ehrenamtlichen Vereinen oder Initiativen. Dadurch entstehen auch so ungewöhnliche Projekte wie die dauerhafte Kooperation mit der Theatergruppe der Lebenshilfe oder einmalige Aktionen wie die Teilnahme der Bewohner am Haldern-POP-Festival.
Altenheim übernimmt Funktionen der Kirchengemeinde
Rückblick: Der seinerzeit notwendige Umbau bot die Chance, die räumliche und personelle Verwurzelung im Dorf auch konzeptionell und architektonisch auszureizen. Der frühere Zentralbau wurde zum Teil abgerissen, zum Teil für Verwaltung umgebaut, zum Teil aber auch für neue Nutzungsformen hergerichtet. Man wollte weg von der "Stationskultur", der Großküchenversorgung, der Atmosphäre eines Krankenhauses. Neu gebaut wurden acht einzelne Wohngruppen mit eigenen kleinen Küchen. "Seit dem Umbau haben wir so gut wie keine störenden Auffälligkeiten bei den Bewohnern mehr. Menschen, die sich angenommen und heimisch fühlen, haften nicht in Ängsten. Ein positiver Zugang zu ihren Gefühlen kann aggressives Verhalten, monotones Stöhnen oder das oft eintretende ,Weglaufen‘ verhindern", sagt Fockenberg. Zum Konzept gehören aber auch veränderte Arbeitsabläufe für das Pflegepersonal und mehr Teilhabe für die Bewohner. Sie helfen beim Kochen, im Garten, bei der Obsternte und -verarbeitung. Einmal in der Woche wird eigenes Brot gebacken. Jeder so, wie er kann und mag. "Wenn die Bewohner angemessen und positiv stimuliert sind, wenn sie emotional und kognitiv eingebunden werden, ist dissoziatives Verhalten rückläufig", erklärt Fockenberg. Begegnung wird nach Kräften gefördert. Es ist gelungen, Angehörige aus der passiven Position des Besuchers in die aktive Rolle des Partners im Pflegekonzept mit einzubinden. Seit einem Jahr kochen Angehörige jeden ersten Donnerstag im Monat Wunschessen für die Bewohner.
Aber die Einrichtung kann auch wichtige andere Funktionen in der Gemeinde übernehmen. "Wir haben einen Auftrag, wir arbeiten als christliche Gemeinschaft, so ist das in den Arbeitsverträgen auch geregelt", sagt Fockenberg. "Wenn ein Pfarrer nicht mehr vor Ort sein wird, dann müssen wir für die Menschen im Ort Ansprechpartner haben, die jederzeit wissen, was zu tun ist", sagt er. Wenn nachts jemand bei uns anruft, weil ein Mensch in Not ist, dann kann die Nachtschwester persönlich reagieren. Sie ersetzt zwar nicht den Seelsorger, aber kann als erster Ansprechpartner den Kontakt zu weiterer Hilfe herstellen. Ein Anrufbeantworter in einem Pfarrbüro kann das nicht.
Die Widerstände gegen Umbau und neues Konzept waren groß - auf verschiedenen Ebenen. Nachbarn versuchten, Neubauten zu verhindern, weil sie Ruhestörungen durch laute Bewohner befürchteten. Nach vielen Gesprächen konnte schließlich doch gebaut werden. Dann gab es Bewohner, die den Rohbau besichtigt hatten und sich weigerten umzuziehen. Heute weint niemand, der einmal dort eingezogen ist, den alten "Stationen" noch eine Träne nach. Auch der Gedanke der Aktivierung stieß auf Vorbehalte: "Jetzt zahle ich schon so viel Geld - und dann soll ich auch noch selbst beim Kochen helfen", so ein Vorwurf. Die Heimleitung konterte: "Wir sind ein Heim und kein Hotel. Wir bedienen nicht, wir helfen bei individuellem Bedarf."
Auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sträubten sich zunächst gegen Veränderungen: "Ich soll hier mit den Leuten Kartoffeln schälen - das ist nicht meine Aufgabe als examinierte Pflegekraft", so schallte es hier und dort. Fockenberg blieb geduldig, setzte auf Zeit und die kontinuierliche Lernbereitschaft. "Man lernt über die Dinge, die man tut", sagt er. Und der Erfolg gibt ihm recht.