Es geht um alles, was guttut
Mehr als 40 Jahre lebte Elisabeth Hahn in dem Heim. Zum Schluss hatte sie niemenden mehr außer dem Personal der EInrichtung und ihren Kanarienvögeln. Ursula Hoffmann hatte dem Pflegepersonal vorgeschlagen, der Sterbenden die Vögel ans Bett zu stellen, die wegen einer Umbauphase nur noch Platz auf dem Flur hatten. Das Resultat war für alle Beteiligten positiv, erzählt Pflegedienstleiterin Maria Wagener: "Das Gesicht von Frau Hahn hat sich aufgehellt und entspannt."
Was Ursula Hoffmann tat, ist in dem Wohn- und Pflegeheim der Caritas Trägergesellschaft West (CTW) kein Zufall, es ist palliative Haltung. Die hat das Haus wie viele andere im Bistum Aachen mithilfe eines vom Caritasverband mitentwickelten zweijährigen Projektes verankert. Sterbende sollen ein Maximum an Lebensqualität haben, die Reinigungskraft trägt dazu ebenso bei wie die speziell ausgebildete Palliativpflegekraft. Aktivierende Pflege um jeden Preis gibt es dann nicht mehr. "Wenn der Zeitpunkt kommt, dass ein Leben zu Ende geht, und dieser Prozess unumkehrbar ist, geht es darum, nach zuvor festgelegten Kriterien die letzte Lebensphase so gut wie möglich zu gestalten. Es geht dann um Geborgenheit, Schmerzfreiheit und alles Angenehme für den Bewohner. Das geschieht in einem Netzwerk von Ärzten und Palliativpflegekräften, ehrenamtlichen Hospizmitarbeitern und Angehörigen der Bewohner", beschreibt Jürgen Spicher, Fachreferent für Altenheime beim Caritasverband, das Ziel des Projektes "Hospizkultur und Palliativversorgung in Altenheimen". Damit das funktioniert, haben viele Mitarbeiter im Settericher Pflegeheim eine Basisschulung in palliativer Versorgung besucht.
Die Pflegedienstleiterin befürchtete zunächst Mehrarbeit, als das Haus vor fünf Jahren an dem Projekt teilnahm. "Im Nachhinein ist mir klar geworden, wie wichtig dieses Projekt für uns ist", sagt Maria Wagener. Sie verweist auf die Statistik: Jedes Jahr gibt es 50 Sterbefälle im Haus, das über 100 Plätze verfügt. Das Thema Sterben gehört zu den täglichen Arbeitsabläufen dazu und ist kein Tabu mehr. Sichtbar wird es unter anderem daran, dass Särge nicht mehr durch den Hinterausgang hinausgebracht werden, sondern durch den Haupteingang.
Palliativpflegekraft Susanne Stawinoga sagt, man spreche offener über das Thema Tod und Sterben. Und das nicht erst, wenn ein Bewohner im Sterben liegt. Die Dokumentation im Haus hat sich verändert, Biografiearbeit mit den Bewohnern und Angehörigen ist ebenso wichtig wie die Pflegeanamnese, also das Festhalten der Wünsche, der Gewohnheiten, der Lebensgeschichte. Bewohner, deren Kinder, Angehörige und Betreuer sind in diese Arbeit eingebunden, um für den Tag X vorbereitet zu sein. "Früher hat jeder eher aus dem Bauch heraus bei einem Sterbefall gehandelt. Jetzt haben wir das Vorgehen stärker strukturiert. Was der Bewohner möchte, steht im Vordergrund", sagt Susanne Stawinoga.
Da kann es sein, dass bei einem schwer Zuckerkranken in der letzten Lebensphase der gewünschte Diätplan außer Kraft gesetzt wird. "Wenn er ein Sahnestückchen essen möchte, das er normalerweise nicht essen sollte, bekommt er es in der Sterbephase, wenn es sein Wunsch ist", sagt Wilma Cremer, Alltagsbegleiterin in dem Alten- und Pflegeheim. "Es kommt bei der palliativen Haltung sehr darauf an, dass man gerade in der letzten Lebensphase auf die Bedürfnisse der Menschen eingeht anstatt auf das medizinisch und pflegerisch Vorrangige", erläutert Jürgen Spicher.
Aber auch die Sorge um die Mitarbeiter hat sich verändert. "Wir haben erkannt: Unser Manko war die Psychohygiene der Mitarbeiter", sagt Maria Wagener. "Wenn man früher mit dem Sterben eines Bewohners nicht klarkam, ist man vielleicht auf die Toilette gegangen und hat geweint. Jetzt können wir Mitarbeiter uns auch untereinander sagen, wenn man es einmal nicht verkraftet, einen Sterbenden zu begleiten. Die Fortbildungen und eine offene Gesprächskultur geben zusätzlich Stärkung", sagt Susanne Stawinoga.
Eine Palliativ- und Hospizkultur löst aber längst nicht alle Probleme eines Pflegeheims. Das zeigt ein Nachfolgeprojekt, das der Diözesan-Caritasverband in Kooperation mit der Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung Palliative Care und OrganisationsEthik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aufgelegt hat, einem führenden Institut zur Forschung über die Palliativversorgung. Kern des Projektes, das der Nachhaltigkeit der Palliativkultur dient, waren Interviews mit Mitarbeitern, Angehörigen und Kooperationspartnern wie Ärzten. Bei der Befragung der Mitarbeiter kam klar heraus: Für die Einrichtung mit palliativer Haltung muss es eine zusätzliche Kostenerstattung geben. "Alle Mitarbeiter haben in der Befragung gesagt, dass sie bei der derzeitigen Vergütungspraxis durch die Kassen zwangsläufig den Bewohnern die Zeit stehlen müssten, denen es besser geht, wenn sie sich intensiv um Sterbende kümmern", sagt Maria Wagener. Palliative Haltung funktioniert am Anfang und auf Dauer im Pflegeheim nur mit mehr Personal, das dann natürlich auch refinanziert werden muss. Auch andere positive Ergebnisse hat dieses Projekt zutage gefördert. Eine Hausärztin, die Bewohner in dem Pflegeheim betreut, gab an, sie habe für die ambulante palliative Versorgung anderer Patienten viele Rituale des Settericher Pflegeheims übernommen.
Auch wenn der Tod von Elisabeth Hahn schon einige Tage her ist, an sie erinnert ein Gedenkbild auf der Etage, auf der sie gewohnt hat, und in der Kapelle. Das macht die Einrichtung bei jedem Sterbefall so. Mitarbeiter wie Wilma Cremer und Susanne Stawinoga und auch die Bewohner kommen immer wieder in die Kapelle und schauen sich das Bild der früheren Bewohnerin an. "Die Mitarbeiter brauchen dieses Ritual, um ihre Arbeit weitermachen zu können", sagt Maria Wagener.
* Name geändert
Beratungsangebot für Palliative Care
Die Caritas im Bistum Essen bietet ihren Altenheimen mit einem neuen Konzept Beratung zu Sterbebegleitung und Palliative Care an.
Damit will die Ruhrcaritas die Rahmenbedingungen für Sterbebegleitung und Palliativversorgung verbessern mit dem Ziel, Heimbewohnerinnen und Heimbewohner auch in der letzten Lebensphase bedarfs- und bedürfnisgerecht versorgen und fürsorglich begleiten zu können. Unnötige Krankenhauseinweisungen sollen vermieden, die Lebensqualität der Menschen bis zum Eintritt des Todes deutlich verbessert werden. Dafür sollen gemeinsam mit den Verantwortlichen der Einrichtungen passgenaue Konzepte entwickelt werden.
Der Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung ist (im § 37b SGBV) auch gesetzlich verankert. Demnach haben schwerstkranke Heimbewohnerinnen und Heimbewohner in Pflegeeinrichtungen das Recht, umfassend versorgt zu werden, ohne ihre gewohnte häusliche Gemeinschaft verlassen zu müssen. Das Thema "Palliative Care" genießt bei der Caritas im Ruhrbistum bereits seit Jahren einen hohen Stellenwert. 2003 bis 2006 hatte sich die Caritas im Ruhrbistum in einem Projekt mit palliativen Ansätzen in der Pflege beschäftigt.