"Kirche sagt Ja zum Leben"
Die breite gesellschaftliche Debatte über die organisierte Sterbehilfe hat auch Katholiken ins Grübeln gebracht. Es geht um das Spannungsfeld "Unverfügbarkeit des Lebens versus uneingeschränkte Selbstbestimmung". Am Ende läuft es auf eine ethische Grundentscheidung für jeden Einzelnen und - wenn es um Strafrecht und menschenwürdige Versorgung geht - für die gesamte Gesellschaft hinaus.
Caritas in NRW: Wir erleben derzeit eine öffentliche Debatte über Sterbehilfe. Der Deutsche Bundestag berät über gesetzliche Regelungen zur Straffreiheit von Handlungen, die als aktive Sterbehilfe bezeichnet werden. Warum ist das ein Thema für die Kirche, und wie begründet sie ihre Position?
Bischof Genn: Das Thema fragt mich als Mensch und als Bischof an. Ich spüre die Notwendigkeit, dass wir uns als Kirche positionieren. Ich möchte aber differenziert argumentieren und will nicht, dass die Kirche verkürzt als Nein-Sager wahrgenommen wird. Wir sind "Ja-Sager"! Kirche sagt Ja zum Leben. Wir verteidigen hier etwas Humanes und nicht bloß eine spezielle christliche Sonderethik. Was heißt das?
Der Mensch will von Natur aus leben. Viele Menschen kämpfen mit allen Mitteln ums Überleben. Das ist das Normale. Und bei aktiver Sterbehilfe würde plötzlich etwas Normales unnormal. Wir verstehen einen Selbstmord auch als einen Ruf zum Leben, als einen Hilferuf. Bei einem Hilferuf leistet jeder normale Mensch instinktiv Hilfe. Und bei Alten und Todkranken soll das plötzlich unnormal werden? Wenn sie einen Hilferuf ausstoßen, dass sie sterben wollen, leisten wir nicht mehr Hilfe, sondern geben Gift? Oder beauftragen den Arzt, der bislang geheilt, gelindert, geholfen hat, die tödliche Dosis zu verabreichen? Das ist und bleibt falsch!
Denn der Arzt ist derjenige, der Leben retten soll. Jetzt fordern manche Politiker und Publizisten, dass er in dieser speziellen Situation zum Todbringer wird. Damit entsteht für die ärztliche Profession die Gefahr, dass jeder Arzt Misstrauen hervorruft. Ist der Mann im weißen Kittel jetzt schon der "Todesengel", oder behandelt er noch zum Leben? Normal ist es, barmherzig zu sein und jemandem zu helfen, weil jeder auch bis in die letzte Phase seines gebrechlichen Lebens wertvoll ist.
Caritas in NRW: Sie warnen vor einer Umwertung von Werten?
Bischof Genn: So ist es.
Caritas in NRW: Die Befürworter begründen eine Freigabe der aktiven Sterbehilfe ebenfalls mit einem ethischen Wert: Die freiheitliche Selbstbestimmung des Menschen soll ohne Einschränkung und bis zuletzt gelten.
Bischof Genn: Ich kann sehr gut verstehen, dass jemand in einer Grenzsituation von Schmerz und Leid zu der Vorstellung kommt, das Einzige, was ihm jetzt noch helfe, sei, sich töten zu lassen. Ich kann mir vorstellen, dass er das als letzten Freiheitsakt versteht. Ich selbst bin in einer solchen Situation noch nie gewesen und schaue deswegen mit Respekt und Empathie auf Menschen in einer solchen Situation.
Trotzdem muss ich fragen: Was bedeutet hier eigentlich Freiheit? Es gibt zwei Grunddimensionen des Menschen, völlig unabhängig davon, ob er Christ ist oder nicht: Menschliches Leben ist Geschenk, ist Gabe. Als Mensch finde ich mich vor. Das anzunehmen heißt Leben. Was mache ich mit dem Geschenk? Es ist nicht nur wertvoll, solange ich produktiv bin, sondern bleibt auch wertvoll, wenn ich nicht mehr produktiv bin! Assistierte Sterbehilfe ist eine Entwertung gebrechlichen Lebens.
Und: Menschliches Leben in Freiheit gibt es nur in Verbindung mit dem Angewiesen-Sein auf andere. Freiheit ist nie absolut. Ich kann Freiheit nicht leben, ohne gleichzeitig zu akzeptieren, dass ich angewiesen bin auf andere. Das klingt philosophisch, doch es betrifft den Kern menschlicher Existenz: Unser Freiheitsakt geschieht gerade dadurch, dass wir die unvermeidbare Angewiesenheit auf andere annehmen. Erst dadurch wird der Mensch er selbst und schafft es, sich selbst auch wertzuschätzen.
Caritas in NRW: Können Sie ein Beispiel geben?
Bischof Genn: Ein Kind kann nur leben, wenn es seine Angewiesenheit lebt, das heißt, es ist angewiesen auf die Pflege durch die Eltern, auf Erziehung, Versorgung usw. Das Kind kann gar nicht anders. Das ist unser Mensch-Sein. Und dann darf ich sagen: Ein Leben ist auch lebenswert, wenn ein Mensch total auf Pflege angewiesen ist. Indem ich dem anderen durch meine Pflege zeige: Du darfst dir die Angewiesenheit zumuten.
Caritas in NRW: Indem Sie so philosophisch argumentieren, erheben Sie die Frage zu einer geistigen Grund-Entscheidung. Bei Umfragen bejahen über 70 Prozent die aktive Sterbehilfe, unter ihnen natürlich auch viele Katholiken. Machen es sich viele zu einfach?
Bischof Genn: Wer nur mit den Umfragen argumentiert, verschweigt die Folgen einer gesetzlichen Legalisierung der aktiven Sterbehilfe: Sie wäre ein Dammbruch. Der Arzt wäre plötzlich nicht mehr nur Heiler, sondern auch Tod-Bringer - je nach den Umständen. Plötzlich werden Werte umgewertet, und etwas Unnormales wird als normal angesehen. Was für einen Druck könnte das auf alte Menschen ausüben? Wird dann gedacht oder gesagt: "Oma, wir haben doch so schön 80. Geburtstag gefeiert, jetzt ist es doch eigentlich genug?" Und die Oma denkt: "Ja, wenn ich den Kindern damit einen Gefallen tun kann, ob ich jetzt noch zwei Jahre … Man weiß ja nicht, was kommt …". Ich möchte nicht die Oma abends im Bett liegen sehen, die dann weint, weil sie nicht mehr gewollt ist, und sich den Kindern nicht mehr zumuten will. Dieser Dammbruch wird gar nicht durchdacht, sondern man arbeitet lieber mit Horrorgeschichten von Leid und Schmerz.
Caritas in NRW: Die gibt es.
Bischof Genn: In der Tat gibt es Grenzsituationen. Ein Sterben mit extremen Schmerzen betrifft jedoch nur eine sehr kleine Minderheit der Bevölkerung. Die ganz große Mehrheit wird nicht übermäßig leiden. Und denjenigen, die unter starken Schmerzen zu leiden haben, kann in den allermeisten Fällen durch die heute weit fortgeschrittene Palliativmedizin geholfen werden, so dass ihre Schmerzen deutlich gelindert werden können.
Die verbleibenden Ausnahmefälle zum Maßstab einer allgemeinen Gesetzgebung zu machen, halte ich für höchst problematisch.
Im Gegenteil, wir müssen mit Palliativmedizin und Hospizbewegung alles tun, um Schmerz und Leid zu vermeiden. Das ist medizinisch weitestgehend möglich. Lebensqualität lässt sich erhalten, wenn auch eingeschränkt. Auf der anderen Seite müssen und können wir die Furcht vor der Apparatemedizin nehmen. Schon heute können die Ärzte auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichten. Da gilt es, ethisch verantwortungsvoll zu handeln - und das geschieht auch.
Caritas in NRW: Beim Einsatz von extremen Schmerzmitteln gilt es ärztlicherseits abzuwägen: Gehe ich gegen die Schmerzen vor und nehme eine Bewusstseinstrübung in Kauf, oder lasse ich ihn das erdulden und mute ihm Unmenschliches zu?
Bischof Genn: Nach den Maßstäben der christlichen Ethik ist eine Verabreichung von sehr starken Schmerzmitteln auch dann erlaubt, wenn sie zu einer Bewusstseinstrübung des Kranken führt, sogar wenn sie - aufgrund der Nebenwirkungen der Medikamente - die Lebenszeit eines todkranken Menschen verkürzt. So stellt es einen entscheidenden Unterschied dar, ob ein Arzt nach sorgfältiger Abwägung extreme Beruhigungs- und Schmerzmittel verschreibt, welche die Lebenszeit eines in den letzten Monaten seines Lebens befindlichen Kranken verkürzen, oder ob er per Gesetz dazu ermächtigt wird, auf Wunsch des Kranken dessen direkten Tod aktiv herbeizuführen. - Und völlig außer Diskussion ist es selbstverständlich, wenn ein privater Verein mit dem "Tod nach Rezept" sogar noch Geld verdient - wie diese Schweizer Gesellschaft …
Caritas in NRW: In den USA gibt es zwei Bundesstaaten, die die Sterbehilfe legalisiert haben, es gibt den ärztlich assistierten Suizid in den Niederlanden und Belgien. Das sind zivilisierte Nationen, in denen der Dammbruch schon vollzogen ist?
Bischof Genn: Ja. Was ich aus diesen Ländern höre, bestärkt mich in meiner Auffassung. Dort entsteht eine Atmosphäre, in der die Gesellschaft gebrechlichen Menschen ein inneres Gefühl der Sinnlosigkeit bestätigt. Es wird signalisiert, es gebe einen Punkt im Leben, da könne man verstehen, dass jemand sagt: "Jetzt hat mein Leben keinen Sinn mehr." Wer dort von einem Arzt die Todesspritze verlangt und sie dann erhält, fühlt sich doch in seinem momentanen Selbsturteil auch noch durch die hohe Autorität des Arztes bestätigt.
Wir Christen glauben etwas anderes: Durch unsere Palliativmedizin, durch unsere Hospize sagen wir diesen Menschen: Auch wenn du selbst an deinen Wert nicht mehr glaubst, wir glauben an deinen Wert. Die Hospizbewegung ist unsere christliche Antwort gegen die aktive Sterbehilfe! Meine Erfahrung mit Menschen in der Hospizarbeit hat mich immens tief in meinem Christsein bestärkt, weil ich dort echte Barmherzigkeit verwirklicht sehe.
Caritas in NRW: Die barmherzige Begleitung und das Umsorgen von Gebrechlichen und Sterbenden gehören zur Tradition der Kirche.
Bischof Genn: Seit ich 1999 Weihbischof geworden bin, ist es mir ein Anliegen, die Hospizbewegung zu stärken. Diese Männer und Frauen, die die Sterbenden begleiten, zeigen wahre christliche Nächstenliebe. Ich hatte etliche bewegende Begegnungen, und diese Pflegenden zeigen uns, wie Menschen wirklich in Würde leben dürfen und sterben können. Denn der Tod ist keine mechanische Größe, sondern eine anthropologische. Er gehört zum Leben dazu. Wir als Katholiken und überhaupt die Christen haben, aus der Tradition kommend, etwas anzubieten: die sogenannte "Ars Moriendi".
Caritas in NRW: Die Kunst zu sterben, was meinen Sie damit?
Bischof Genn: Der Mensch kann sich darauf einstellen, dass sein Leben zu Ende geht. Dabei kann er sich von der modernen Medizin die Hilfen geben lassen, die sie ermöglicht, zum Beispiel die ganze Schmerztherapie. Wenn das gelingt und auch die Art und Weise, wie gepflegt wird, dazu führt, dass man in einem guten Umfeld von seinem Leben Abschied nehmen darf - dann ist das für mich "Ars Moriendi". Sterben bedeutet, nicht nur chemisch oder mechanisch, sondern ganzheitlich das Leben zu vollenden. An der Hand von Verwandten, Freunden oder anderen, die helfen, diese letzte Lebensphase gut durchzustehen - das ist auch eine Kunst. In unseren Hospizen wird diese Kunst mit beeindruckender menschlicher Zuwendung und medizinischer Professionalität zugleich praktiziert - in großer Aufmerksamkeit für viele Details. Da riecht es nicht etwa nur nach Medikamenten, sondern da wird man als Gast empfangen und kann sich - den schwierigen Umständen entsprechend - sogar wohlfühlen.
Caritas in NRW: Die Palliativmedizin müsste weiter gestärkt und ausgebaut werden?
Bischof Genn: Es ist notwendig, die Atmosphäre und Mentalität eines Hospizes auch in anderen Bereichen zu fördern. Dafür gilt es natürlich auch, die dazu notwendigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Angesichts der in unserer Gesellschaft allerorts durchdringenden ökonomischen Maßstäbe und der finanziellen Schwierigkeiten unseres Gesundheitssystems fällt es schwer, zu glauben, dass das Schielen auf die höheren Kosten palliativer Versorgung und hospizlicher Arbeit im Vergleich zu einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe gar keine Rolle spielt. Aber Finanzprobleme eines Gesundheitssystems auf Kosten der Schwächsten auszutragen, halte ich für völlig unangemessen in einer Gesellschaft wie der unseren.
Caritas in NRW: Was sollte geschehen, um die Menschen, die im Hospiz tätig sind, auch wertzuschätzen und zu würdigen?
Bischof Genn: Die stärkste Wertschätzung, die ich diesen Frauen und Männern gegenüber bringe, ist, wenn ich ihnen sage: "Ihr habt mich überzeugt, ich erlebe hier ein starkes Zeugnis, das mich zutiefst berührt." Das Konzil sagte: "Die Wahrheit spricht kraft ihrer selbst." Hier ist es die Liebe, die kraft ihrer selbst spricht. Sie müssen wir verbreiten und weitersagen, wo immer wir können. Viele Menschen beschäftigen sich ja nur oberflächlich mit der Frage, und sie wird für die allermeisten erst dann zum drängenden Problem, wenn sie mit einem Einzelnen und seinem Geschick, seinem Leid, seiner Not, seinen Schmerzen konfrontiert werden. Dann müssen wir da sein, aber schon vorher müssen wir sensibel reden und argumentieren!
Caritas in NRW: Haben Sie selbst einen Menschen bis in den Tod begleitet?
Bischof Genn: Meine Mutter.
Caritas in NRW: Wie war das?
Bischof Genn: Es war ein Prozess von mehreren Tagen. Ich habe das so empfunden, als wenn eine Kerze runterbrennt und langsam verlöscht. Als sie ausgerechnet am Fest der Verklärung Christi starb, wusste ich als Christ, dass sie vom Sterben zum ewigen Leben übergegangen ist. Dass ich dieses Sterben am Schluss auch noch als schön empfand, weil es unausweichlich war und trotzdem so menschenwürdig geschah, hat mich als Sohn getröstet.
Caritas in NRW: Herr Bischof, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Markus Lahrmann.
Hier können Sie Bischof Dr. Felix Genn im Radio hören - mit Auszügen aus dem Interview für Caritas in NRW (ein Service der Redaktion KIP - Kirche im Privatfunk).
Nach der Debatte am 13. November 2014, die vielfach als Höhepunkt der parlamentarischen Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag gewürdigt wurde, werden 2015 noch zwei weitere Anhörungen zu den Themen Sterbebegleitung und Sterbehilfe statt. Das "vermutlich anspruchsvollsten Gesetzgebungsprojekt dieser Legislaturperiode", so Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert, wird voraussichtlich im Herbst abgestimmt. Ein erster Versuch, zu einer umfassenden gesetzlichen Regelung zu kommen, war 2012 gescheitert.
Zur Debatte über Sterbehilfe im Bundestag am 13. November 2014:
http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/kw46_de_sterbebegleitung/339436